Transzendierende Immanenz

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Sari: Orbis Romanicus #14
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Die Ortlosigkeit des Menschen

Das Tier unterbreche sein vom Trieb bestimmtes Tun nicht. Es kann nicht innehalten, um den Kopf zu heben und in die Ferne zu schauen. Das Tier kann seinen Blick nicht in die Ferne richten. Es sieht die Ferne nicht, sieht nicht den Horizont und die Leere des vor ihm weit ausgebreiteten Raumes. Das Tier sehe Einzelnes für sich1, Typisches im Verbund mit seinem Trieb und damit bleibe ihm auch der Aufstieg in die Kategorie verwehrt.

Das Tier lebe aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es erlebe sich nicht als Mitte. Der Gesamtkörper sei noch nicht vollkommen reflexiv geworden2. Wenn das positionale Moment – „das Hindurch der Vermittlung“3 – zur Grundlage der nächst höheren Stufe werde, gewinne das positionale Moment zu sich selbst Abstand.

Sein Leben aus der Mitte kommt in Beziehung zu ihm, der rückbezügliche Charakter des zentral repräsentierten Körpers ist ihm selbst gegeben.4

Die Rückbezüglichkeit der positionalen Mitte als erweiterter Ausdruck seiner ihm selbst eigenen Natur gewinnt der Beschreibung des lebendigen Seins eine neue Dimension: Das sich selbst rückbezüglich habende, geschlossen und zentralistisch organisierte Lebewesen habe sich selbst und „darin ist es Ich“5. Es sei nun vollständig aus sich selbst herausgestellt und nicht mehr objektivierbar, ein absoluter Subjektspol, die „Spaltung in Außenfeld, Innenfeld und Bewusstsein vollzogen.“6 Es sei keine weitere Steigerung der Ausdrücklichkeit der angelegten Strukturen mehr möglich. Das Äußerste ist nun erreicht: „[…] ortlos außer aller Bindung in Raum und Zeit, und so ist der Mensch.“7

Im Vollzug der Mitte vermittele das Tier die Pole des Körperseins und Körperhabens im ständigen Hindurch. Ohne diese Zentrizität durchbrechen zu können, werde sie dem Menschen rückbezüglich erlebbar und verliere damit die Absolutheit des Vollzugs im Hier und Jetzt, gelange an einen Ort, der nirgendwo mehr ist, hinter sich selbst. Das „Stehen in sich“8 sei Fundament seines Stehens geworden. Diese letzte weitere Lockerung des lebendigen Seins dem Sein selbst gegenüber habe ihren Endpunkt erreicht, da es ab jetzt nur noch ein unendlich fortsetzbares Hinter-sich-Kommen9 geben könne. Das Leben des Menschen sei aus der Mitte und zugleich aus ihr heraus „exzentrisch. Exzentrizität ist die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld.“10

Lebendiger Körper zu sein und im Körper zu sein und außerhalb des Körpers zu sein beschreibe die exzentrische Positionalität des Menschen. Er sei damit Körper, Seele und exzentrischer Blick, der beides erfasse, er sei Individuum und Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmung und seiner Initiative.

Ein Individuum, welches positional derart dreifach charakterisiert ist heißt Person. Es ist das Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen und seiner Aktionen, seiner Initiative. Es weiß und es will. Seine Existenz ist wahrhaft auf Nichts gestellt.11

Der Mensch scheine das einzige Lebewesen zu sein, das seinen Blick auf jenes Nichts richten kann, und er erblicke darin eine Welt – jene Leere seines Herzens von der Scheler zu berichten wusste12. Dies ist der Endpunkt der kontinuierlichen Vermittlung zwischen res extensa und res cogitans, Plessners Antwort auf das von Descartes radikal geschiedene Sein. Unter dem Gesichtspunkt des ontologisch Werdens der Grenze treibt die Ontologie des Lebendigen bis zu ihrem absoluten Gegenüber, dem Leben und dem Tod, dem Nichts entgegen. Begreift man die Stufen des Organischen als eine ansteigende Ebene, so ist der Sinn für das Negative, das Nichts – dem Untergrund aller dinglichen Wahrnehmung der Welt –, zu verstehen als die Vorstellung eines sich beständig fortschiebenden und sich schließlich auflösenden Horizontes eines lebendigen Wesens mit aufrechtem Gang und erhobenem Haupt, eine in diesem Wesen angelegte und angemessene Art des Seins. Es handelt sich um kein Irren, keine Abartigkeit oder Krankheit einer wie auch immer vorgestellten gesunden Natur, welchen Lebens auch immer. Der Blick erhobenen Hauptes in die Ferne erreicht den Horizont, doch die Ferne reicht darüber hinaus. Der seinen Blick im Auge habende Mensch weiß darum. Die Ferne selbst ist ein Horizont ohne Weiteres, ohne Etwas. Vermittelt die Betrachtung des Horizonts als Grenze noch ein Dahinter, so verschwindet in der Ferne die Grenze selbst und zurück bleibt die Leere. Der Blick weitet sich, bis selbst die Ferne entschwindet und sich in ein Nichts auflöst, dann nämlich, wenn der Blick kein Etwas mehr ergreifen kann, aber der Blickstrahl immer weiter hinauszielt. Der horos selbst verblasst, und es eröffnet sich dem Menschen eine unendliche Weite, eine unendliche Ferne in ein Nichts. Der Übergang vom Sein zum Nichts im Blick ist kein Gegensatz, sondern ein Immer-Weiter-Sehen in die Leere hinein. Unbegreiflich für das Auge, das nach Halt am Gegenständlichen sucht – doch augenscheinlich wahr.

In der Verfeinerung – nicht im Abtrag – des Stufengedankens Plessners besteht die Nagelprobe für seine Ontologie des Lebendigen, die auch und gerade mit Hilfe der Naturwissenschaft und nie gegen sie gelingen kann.

Der Idee einer wohl dialektischen, jedoch unhegelianischen Vermittlung des Baues der Stufen des Organischen – also ohne Aufhebung in der Vermittlung13 – mit Rückbindung auf einem von der Erfahrung bestimmten Lebensbegriff14 und dem Übersteigen im Sinne eines Ausdrücklich-Werdens des Organismus gilt die ganze Aufmerksamkeit und fußt die Innovationskraft der Plessnerschen Gedanken.

Die Doppelaspektivität der menschlichen Innenwelt: erlebnisbedingend wie erlebnisbedingt und die Möglichkeit von Kunst

Ist mit der vollständigen Rückbezüglichkeit des Erlebens im Erleben die Struktur der exzentrischen Positionalität des Menschen erfüllt, verwandelt sich das von Dingen erfüllte Umfeld des Lebewesens Mensch in die von der Leere grundierte Außenwelt des Kulturwesens Mensch. In dieser sind Raum und Zeit Leerformen, „Manifestationen des Nichts“1.

Der Exzentrizität der Struktur des Lebewesens entspricht die Exzentrizität der Lage oder der unaufhaltsame Doppelaspekt seiner Existenz als Körper und Leib, als Ding unter Dingen an beliebigen Stellen des Einen Raum-Zeitkontinuums und als um eine absolute Mitte konzentrisch geschlossenes System in einem Raum und einer Zeit von absoluten Richtungen.2

Es handelt sich beim Doppelaspekt um die Beschreibung einer einzigen Welt. Es ist keine Zweiweltenlehre, sondern ein Erleben aufgrund eines inneren Prozesses der Dissimilation und Assimilation in der Einheit des Organismus, welcher notwendig zur Aspektivität der Welt führt. Ohne diese innere Zerfallenheit oder Zwang zur Organisation des Organismus jedoch wäre überhaupt keine Welt, kein Bewusstsein und schon gar kein Selbstbewusstsein. Im Unterschied zu Descartes, welcher der Welt als Körper alle Wahrheit, der Welt als Leib aber einzig den Schein zusprach, wird bei Plessner die Welt als Körper-Leib zur Bedingung der Möglichkeit für die Erscheinung von Welt überhaupt. Wiederum undialektisch heben die Aspekte sich nicht in ein höheres Ganzes auf, sondern bleiben als solche bestehen. Materiell handelt es sich hierbei auch um keine voneinander trennbare Zonen. Die Untersuchungen zur Ontologie des Lebendigen zeigen die Bedingungen der Möglichkeit für das Lebewesen Mensch auf, damit Welt objektiv erscheinen kann.

Für den Menschen gelte die Aspektivität der exzentrischen Positionalität, womit sein Erleben mit seiner Existenz nicht mehr identisch bleiben könne3. Daraus gebe es für ihn kein Entrinnen. Der Mensch sei nun einmal hinter sich gekommen und könne nicht wieder zurück4. Neben der Außenwelt und seinen Mitmenschen erlebe er sein Selbstsein. Der Mensch besitze eine Innenwelt. Die Gesetze der Innenwelt unterschieden sich von denen der Außenwelt insofern, als sie „zugleich erlebnisbedingend und erlebnisbedingt“5 seien. Der Seinstypus der Innenwelt sei plastisch. Er reiche von reiner Gegenständlichkeit bis reiner Zuständlichkeit, dem Hingenommen-Sein, Verzückt-Sein von einem Gegenstand. In der Außenwelt gelte letztlich Sein oder Nichtsein als etwas vom Betrachter Unabhängiges. Als plastischer Seinstypus, dessen Grund im graduell unterschiedlichen Erleben liege, gelte für diesen eine Skala des Seins6. Eindruck, Erlebnis und Erinnerung seien Intensiva, keine Extensiva und an Akte gebunden. Der Intensitätsgrad der Akte sei entscheidend für die Natur ihrer Existenz in der Innenwelt. Sie könnten wie von alleine dahinströmen oder müssten mit großer Willensanstrengung hervorgerufen werden.

Kunst zielt letztlich auf die Innenwelt vermittelst des Erlebens von Kunst. Da die Natur der Innenwelt eine plastische ist und empfänglich für intensive Formen, kann sie ihr Werk verrichten.

Die Sphäre des Geistes und die Realität

Die Exzentrizität, auf welcher Außenwelt (Natur) und Innenwelt (Seele) beruhen, bestimmt, dass die individuelle Person an sich selbst individuelles und »allgemeines« Ich unterscheiden muss.“1

Jene spezifische Lockerung des Seins, das Innenstehen im Kern des Zentrums des Körpers also die positionale Exzentrizität, mache die Unterscheidung zwischen dem individuellen ich und den Anderen notwendig. In der Struktur der Exzentrizität selbst finde man die Begründung für die Gegenwart der anderen Iche. Erfasst der Mensch sich in der Form der eigenen Position, so wisse er deshalb um den anderen Menschen. Deshalb wisse er um seine „Mitwelt“2. Ihr Kennzeichen sei die Lebendigkeit in ihrer höchsten Form3.

In dieser Verschränkung sei der Perspektivenwechsel selbst angelegt. Aus der Sicht des Einzelnen gebe es den Anderen, da es ihn selbst gibt. Er selbst sei einer davon, „ein Glied dieser Mitwelt“4. Doch zugleich sei der Einzelne derjenige, der er ist, da er ein Glied der Mitwelt ist. Die Mitwelt trägt ihn.

 

Die Mitwelt trägt die Person, indem sie zugleich von ihr getragen und gebildet wird. Zwischen mir und mir, mir und ihm liegt die Sphäre dieser Welt des Geistes.5

Als natürliche Person sei der Mensch Zentrum einer „sinnbildhaften Sphäre“6, er stelle diese aber auch gleich wieder in Frage. In Selbststellung erschaffe und erlebe die Person ihre Innenwelt, und als geistige sei sie die „Wir-Form des eigenen Ichs“7. Mit der Eigentümlichkeit der exzentrischen Positionalität bestehe die Sphäre des Geistes in Form der Mitwelt, an der das einzelne Ich Anteil habe, nämlich durch seine Teilnahme an ihr.

Und nur so ist der Mensch Geist, hat er Geist. Er hat ihn nicht in derselben Weise, wie er einen Körper und eine Seele hat. Diese hat er, weil er sie ist und lebt. Geist dagegen ist die Sphäre, kraft deren wir als Personen leben, in der wir stehen, gerade weil unsere Positionsform sie erhält.8

Geist als Sphäre der wahrhaften Gleichgültigkeit von Einzahl und Mehrzahl ist real in der Mitwelt9. Die Subjekt-Objekt-Dichotomie sei nicht auf den Geist anwendbar und nur eine „niedere“10 Form der Sphäre des Geistes. In der Sphäre des Geistes allein blicke der Mensch ins Angesicht des Menschen – eine ausdrückliche Absage an irgendwelche Ähnlichkeiten mit den Sozialformen der Tiere. In der Sphäre des Geistes erkenne sich der Mensch als Mensch11.

Das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit

In drei anthropologischen Grundgesetzen lässt Plessner die Stufen ausklingen. Im ersten formuliert er die „ontische Notwendigkeit“1 des Phänomens der Kultur, die der Mensch als exzentrisch organisiertes Lebewesen erschaffe, indem er sein Leben führt. Denn „der Mensch lebt nur, indem er ein Leben führt“2.

Mensch sein ist die »Abhebung« des Lebendigseins vom Sein und der Vollzug dieser Abhebung, kraft dessen die Schicht der Lebendigkeit als quasi selbstständige Sphäre erscheint, die bei Pflanze und Tier unselbstständiges Moment des Seins, seine Eigenschaft bleibt […]3

Deshalb bedürfe der Mensch eines Komplements. Immer auf der Suche nach Ausgleich, nach dem, was die Natur ihm versage, erschaffe er sich und müsse sich erschaffen. Die exzentrische Lebensform und die Bedürftigkeit bildeten einen einzigen Tatbestand und darin liege das Movens „für alle spezifisch menschliche, d.h. auf Irreales gerichtete und mit künstlichen Mitteln arbeitende Tätigkeit, der letzte Grund für das Werkzeug und dasjenige, dem es dient: die Kultur.“4

Plessner macht die ontologische Struktur der Exzentrizität verantwortlich für die typisch menschlichen Tätigkeiten und verweist die Kulturentstehungstheorien seiner Zeitgenossen zurück. Für das kulturelle Tun des Menschen sei weder Trieb noch Wille oder Verdrängung, sondern allein die aus der exzentrischen Lebensform entspringende Notwendigkeit zum Vorwärtsstreben, zur Selbsterschaffung und Selbstdomestizierung der Ursprungsgrund. Es gebe auch kein verloren gegangenes Paradies oder ein ursprünglich irgendwie harmonischer Zustand, den der Mensch zurückzugewinnen versuche, seien die Ursachen zur Entstehung von Kultur. Der Mensch, dem sich eine Welt auftue, wenn er in die Leere seines Herzens blicke, suche notwendig den Ausgleich und sich selbst in der Schaffung des Irrealen, der Schaffung der Formen des kunstvollen Handelns5. Der Mensch folge qua Mensch dem „Gesetz der natürlichen Künstlichkeit“.6

Vermittelte Unmittelbarkeit oder die Immanenzsituation des Subjekts

Wenn die Erscheinungen nicht Masken des Erscheinenden sind, sondern sich wie Gesichter zeigen und zugleich verhüllen, eine „verdeckte Offenbarung“1 sind, dann sehe sich das Bewusstsein genötigt, das offensichtlich Reale des intendierenden Bewusstseins mit Hilfe der „Evidenz des reflektierenden Bewusstseins“2 zu korrigieren. Es entdecke seine Natur als Immanenz. Allein in dieser einzig dem Menschen zugänglichen Abhebung des Seins komme die Welt zur Erscheinung und werde Realität.

Die Stärke des neuen Realitätsbeweises beruht darauf, dass er die Immanenzsituation des Subjekts als die unerläßliche Bedingung für seinen Kontakt mit der Wirklichkeit begreift.3

Dann ist Wissen Ekstase4: das sich selbstvergessene Hinaustreten des Auges, eine indirekt-direkte Beziehung zum Sein. Alles Lebendige besitzt dann die Grundstruktur der „vermittelten Unmittelbarkeit“5. Nur beim Menschen mit seiner exzentrischen Lebensform werde diese Struktur selbst noch einmal reflexiv und gebe ihm so eine Welt in die Hand. Reiche diese hinaus in die Welt, versuche sie die Welt zu gestalten, in Tat, Sage oder Mimus6, so suche sie nach ihrem Ausdruck. Ob seiner ontischen Grundstruktur sei der Mensch ein Mensch, insoweit er ein Leben führe, und er suche ein Leben zu führen, indem er nach dem gelingenden Ausdruck strebe. Darum bedürfe er notwendig der Schöpfungen, seiner Erfindungen.

In der Bewegung zwischen dem schöpferischen Menschen und den Dingen vermittelt unmittelbar sein Körperleib. Mit dieser Beschreibung erfährt die traditionell negative Bewertung des Körpers als ein zwischen Sein und Bewusstsein Vermittelnder ihre Umwertung. Die Immanenz des Bewusstseins – eine Art der Körpervergessenheit – wird zur Bedingung der Erscheinung der Welt und damit zur Grundlage des wissentlich handelnden Menschen, welcher seine Absichten zu realisieren suche, indem er wiederum reflektierend und korrigierend in sein eigenes Denken und Handeln eingreife und eingreifen könne: „Der schöpferische Griff ist eine Ausdrucksleistung.“7

Plessner lässt es hier offen, worauf er die innere Notwendigkeit des Ausdrucksbedürfnisses gründen möchte. Er verweist auf die allgemeinen Erfahrungen des Ausdrucksbedürfnisses eines jeden Menschen, aber er führt auch noch weitere, existentielle Mächte wie beunruhigende Gefühle, Phantasien, Gedanken etc. an, die zum Ausdruck drängen würden. Ihm geht es in diesem Kapitel um den Zusammenhang der exzentrischen Positionsform und der „Ausdrücklichkeit als Lebensmodus des Menschen.“8

In der Sprache wird das Ausdrücklichkeitsverhältnis des Menschen ausdrücklich

Da die exzentrische Positionsform die Mitweltlichkeit des Menschen bedinge, ist dieser für Plessner ein „ζῷον πολιτικόν“1 und damit werde auch eine Form der Ausdrücklichkeit in der Kommunikation untereinander notwendig. Doch noch wesentlicher scheint ihm der Zusammenhang zwischen exzentrischer Lebensform und Expressivität auf die Notwendigkeit der Lebensführung und Lebensgestaltung des Menschen hinzuweisen. Mit der Tatsache, dass der Mensch in seiner Mitte stehe – abständig zu sich – und sich damit auch wiederum auf sich selbst zurückbeugen könne und müsse, und dazu auch noch in dieser Vermittlung er selbst es sei, der dies vollziehe, werde er einer Welt gewahr: „Der Mensch lebt in einem Umfeld von Weltcharakter.“2

In diesem Umfeld mit Weltcharakter schaffe er. Er reiche mit seinem Sprechen und Handeln in das Umfeld hinein. Seine Erfindungen könnten jedoch nur dann Bestand haben, wenn sie ihren Zweck unabhängig von ihm erfüllten: „Der Mensch kann nur erfinden, soweit er entdeckt.“3 Er entdecke, dass der Hammer seinen Zweck erfüllt, dass diese oder jene Form der gesellschaftlichen Organisation Erfolg habe etc. Er entdecke aber auch, dass seine Intentionen fehl gehen können, dass neue Versuche notwendig werden und hinterlasse so die Spur seiner Geschichte.

Der Prozess, in dem er wesenhaft lebt, ist ein Kontinuum diskontinuierlich sich absetzender, auskristallisierender Ereignisse. […] In der Expressivität liegt der eigentliche Motor für die spezifisch historische Dynamik menschlichen Lebens.4

Sprache sei ein Bestandteil der allgemeinen Expressivität des Menschen, aber ein wesentlicher, und nicht zu Unrecht werde sie als eines seiner herausragenden Merkmale genannt. In ihr selbst bilde sich die Struktur der Beziehung der Immanenz mit der Wirklichkeit ab.

Sie [die Sprache] macht das Ausdrucksverhältnis des Menschen, in dem er mit der Welt lebt, zum Gegenstand von Ausdrücken.5

Insofern sei sie eine besondere, eine zweite oder potenzierte Form innerhalb der verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten. Sprache werde wahrhaft zum Zeugen der in ihrer Mitte stehenden exzentrischen Lebensform. Denn in ihr bzw. in den Bedeutungen werde die oben gezeichnete Struktur selbst sichtbar. Sprache bestätige die exzentrische Perspektive des Menschen, seine ort- und zeitlose Position.

In der seltsamen Natur der Aussagebedeutungen ist die Grundstruktur vermittelter Unmittelbarkeit von allem Stofflichen gereinigt und erscheint in ihrem eigenen Element sublimiert.6

Im dritten und letzten anthropologischen Grundgesetz, dem „Gesetz des utopischen Standortes“7, lotet Plessner das Widerspiel von Transzendenz und Nichtigkeit aus. Er schlägt dabei Religion auf die Seite der Transzendenz und die Kultur zum Geist. Dann konstatiert er beiden eine absolute Feindschaft8. Er begründet dies mit der Tatsache, dass der Geist sich notwendig „gegen die Einheit der Welt zu richten“9 habe. Denn mit der exzentrischen Lebensform reiße eine Kluft auf zwischen Heimat und Geborgenheit, einer Vorstellung von Mitwelt, in der das Individuum als Individuum aufgehe, und der Form eines Individuums, welches um seine Zufälligkeit, um seine Ersetzbarkeit, „sein Stehen im Nirgendwo“10, seinem utopischen Standort wisse. Dieses so geartete Individuum müsse sich gegen den Weltengrund richten, dem schwankenden gelockerten Sein Raum geben und die Kontingenz austragen. Es kann und muss den Gedanken des Atheismus denken.

Bewußtsein der Individualität des eigenen Seins und der Welt und Bewußtsein der Kontingenz dieser Gesamtrealität sind notwendig miteinander gegeben und fordern einander.11

Resümee

Die Formulierung der drei anthropologischen Gesetze ist die Ausformulierung der in der exzentrischen Lebensform angelegten Dynamik. An der vermittelten Unmittelbarkeit, an Immanenz und Expressivität sowie dem utopischen Standort zeigt sich ein weiteres Mal das Gesetz der gegensinnig vermittelnden Grenze. Gegensinnig gibt sich dem Menschen eine Welt unmittelbar als aufgrund der Körperlichkeit vermittelte, gegensinnig zeigt sich Expressivität als notwendiges Mittel zur Heimholung des Menschen zu sich selbst im Heraus aus seiner fundamentalen Situation der Immanenz und gegensinnig vermittelt sich der Mensch sich selbst als einzigartiges, doch zugleich vertretbares und ersetzbares Individuum der Mitwelt.

Die Ontologie des Lebendigen beschreibt das Lebendige als eine Lockerung des festen Seins, als ein Abstandnehmen eines Seins zu sich sowie zu einem Sein an sich. Weder löst das lebendige Sein seine Fesseln gänzlich, noch behält es diese, wie sie waren, bei, was in der Denkbewegung der gegensinnigen Vermittlung ohne Aufhebung in ein höheres Sein seinen Ausdruck findet. Das Denken der gegensinnigen Vermittlung führt das lebendige Ding zwar immer weiter und letztlich zu seinem ganz Anderen, zum Geist und zum Nichts, doch es führt bei diesem Stufengang nicht zu einer Auflösung, weder des Seins auf einer wie auch immer höheren Stufe des Seins, noch bleibt es im Materiellen verhaftet. Das Denken der gegensinnigen Vermittlung entwickelt das im Sein selbst angelegte Leben auf dieses hin. Es lässt das lebendige Sein auf der Basis und im Gegenüber des nicht lebendigen Seins denkbar werden. Das ist kein Plädoyer für die Einheit der Welt, sondern für die Argumentation einer regionalen Ontologie des lebendigen Seins, wie Plessner sie in den Stufen vorstellt.

Weil die ursprüngliche Erfahrung des Geistes an der Haltung von Leibern ablesbar sei, weil dieser seelische Habitus in Bewegung umgesetzt als innere Bewegung dem Verstehen zugeführt werden könne und weil die Bewegung zwischen Artikulation und Hören ob der Förmigkeit des akustischen Stoffes in Impulswerte umgesetzt werden könne, kann Sprache vermittelst ihrer systematisierbaren Gliederung und zeitlichen, mithin rhythmischen Entfaltung des phonischen Stoffes, die Vermittlung von Haltung und Verstehen in hervorragender Weise antreten.

Wenn Ausdrücklichkeit das grundsätzliche Verhältnis des sich organisierenden Organismus zu seinem Werden beschreibt und wenn der Bewegung als Objekt – und nicht mehr dem Objekt der Bewegung – die Vermittlung des Werdens und der Welt abgeschaut wird und wenn dann in der bewegt gelockerten Immanenz dieses Werdens die mögliche Fülle der Leere des Herzens zur Schaffung der Formen künstlichen Handelns hervorgebracht werden, dann kann der Mensch sich und die Welt in der Sphäre des Geistes – in der Sphäre des gelockerten Seins –, die Beständigkeit der Dinge in Sprache und Gesang laut werden lassen.