Loe raamatut: «Tödliche Mauern», lehekülg 4

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Doch kein Vieraugengespräch, stellte Konnert fest.

»Wir haben in der Zwischenzeit vom Inhalt Ihres Anrufs gestern Abend erfahren«, begann Koop das Gespräch. »Ich habe bereits mit der Vollzugsbeamtin Maike Lüttmann gesprochen. Sie kommt erst wieder zum Spätdienst in die Anstalt. Sie bestätigt, dass Knieling zum Nachteinschluss allein und krank in seinem Haftraum gelegen hat. Es gab keine außergewöhnlichen Beobachtungen. Der Nachtdienst hat bei seinen regelmäßigen Rundgängen weder Unregelmäßigkeiten noch Unruhe bei ihm festgestellt. Alle Häftlinge waren in ihren Hafträumen eingeschlossen. Auch die Kameraüberwachung des Flurs weist keine Auffälligkeiten auf.«

Dann schilderte Andreas Brenner, wie er Knieling am Morgen vorgefunden hatte und welche Maßnahmen in die Wege geleitet worden waren.

»Alles so, wie es den Vorschriften entspricht«, kommentierte Koop.

Die stellvertretende Anstaltsleiterin schob Konnert Kopien der ärztlichen Niederschrift und des Totenscheins zu. Er überflog die Zeilen und nahm sich vor, die medizinischen Fachbegriffe mit Frau Dr. Landmann vom Institut für Rechtsmedizin durchzusprechen.

»Sascha Knieling hat mir, wie Sie wissen, von einer Todesdrohung berichtet. Er ist gestorben. Sehen Sie da einen Zusammenhang?«

Die Miene von Gerd Koop veränderte sich um eine Nuance. War er bis jetzt äußerst angespannt gewesen, so glätteten sich jetzt die Fältchen um die zusammengekniffenen Augen. »Knieling selbst war das bestimmt nicht bewusst«, versuchte er zu erklären, »aber bisweilen hinterließ er bei anderen Inhaftierten einen überheblichen, für einige Mitgefangene sicherlich einen arroganten Eindruck. Er hatte kleine Privilegien, größere finanzielle Spielräume, und damit auch Neider. Gibt es dann Streit um Kleinigkeiten, ist es denkbar, dass einer ihn anmacht und sagt: Ich bring dich um. Wenn wir von solchen Vorkommnissen Kenntnis bekommen, überwachen wir die infrage kommenden Personen auf besondere Weise. In den vergangenen Tagen wurden keine Beobachtungen gemacht, die in die Richtung einer ernsthaften Bedrohung gedeutet hätten.«

»Herr Brenner«, Konnert ignorierte Koops Ausführungen, »können Sie mir mehr über die Herzerkrankung von Knieling sagen?«

Der Beamte blickte zum Anstaltsleiter. Koop antwortete für ihn: »Unsere Anstaltsärztin ist leider im Moment unabkömmlich. Sie bittet Sie, sie zu entschuldigen. Was die Krankengeschichte des Patienten Knieling angeht, unterliegen wir der Schweigepflicht.« Er fügte mit einem leicht gereizten Unterton hinzu: »Wie Sie ja sicherlich wissen.«

»Natürlich.«

Für die Leute hier, sagte sich Konnert, ist Knieling an Herzversagen gestorben. Das steht für sie außer Frage. Seine Intuition ließ ihn aber zweifeln. Ihm fielen allerdings keine Gegenargumente ein.

»Eine Frage hätte ich noch. Ist der Haftraum des Toten schon aufgeräumt und gereinigt worden?«

Dieses Mal antwortete die Stellvertreterin für ihren Chef: »Die Kriminaltechniker hatten ihre Arbeit gegen elf Uhr beendet. Da sahen wir keinen Grund, den Besitz des Gefangenen nicht aufzulisten, zu verpacken und den Raum wieder herzurichten.«

Konnert dachte daran, dass Sauberkeit zu den Prinzipien der JVA Oldenburg gehörte, die zu ihrem Erfolgskonzept geworden waren.

»Danke, dass Sie sich die Zeit für dieses Gespräch genommen haben.«

Beim Händeschütteln mit Gerd Koop meinte Konnert, eine gewisse Erleichterung bei ihm feststellen zu können. Das verstärkte sein Misstrauen. Er wollte Koop nicht zu sehr in Sicherheit wiegen und sagte: »Eine Bitte hätte ich nun doch noch. Könnte ich mir einmal den Haftraum ansehen?«

»Herr Brenner wird Sie mitnehmen. Und sollte dann noch etwas ungeklärt geblieben sein, wenden Sie sich gern an mich.«

Auf dem Flur der Station B2 wischte der Stationsarbeiter Rolf Beeken mit weiten Schwüngen den hellen graublauen Fußboden. Der Inhaftierte sah auf. Brenner und Konnert stiegen mit großen Schritten über den Wischmopp. Dann machte sich erst Erstaunen auf seinem Gesicht breit und danach ein freches Grinsen. »Adolf Konnert, dieser fromme Feigling. Dich habe ich ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Aber deine Visage würde ich jederzeit wiedererkennen. Endlich kommst du auch in den Knast.«

Für den Bruchteil einer Sekunde stockte Konnert der Atem. Brenner wandte sich um: »Machen Sie Ihre Arbeit, und lassen Sie den Hauptkommissar in Ruhe.«

»Kommissar! Oho! Dann will ich nichts gesagt haben.« Beeken grinste ihn an und schwang wieder den Feudel.

Knielings Haftraum war aufgeräumt und gründlich gereinigt worden. Der Geruch von Putzmitteln hing in der Luft und überdeckte die letzten Ausdünstungen von Zigarettenrauch. An der Holzleiste zum Anheften von Bildern war ein Fetzen Tesastreifen hängen geblieben. Brenner zupfte ihn ab. Im Regal darunter herrschte Leere. Über dem Bett aus Buchenholz lag eine glattgezurrte Decke. Die Tür zur Nasszelle stand einen Spaltbreit offen. Nichts deutete noch darauf hin, dass hier vor weniger als vierundzwanzig Stunden ein Mensch gestorben war.

»Wo sind Knielings Sachen?«, wollte Konnert wissen.

»Was die Kriminaltechniker nicht mitgenommen haben, wurde zur Kleiderkammer gebracht.«

»Könnte ich mir die einmal ansehen?«

»Nein. Zu Knielings Sachen gehörte ein Briefumschlag mit der Aufschrift Testament. Ein Bote brachte den Umschlag zum Nachlassgericht. Wer auch immer das Erbe antritt, der ist dann Ihr Ansprechpartner. Mit dem werden Sie sich über die Klamotten verständigen müssen.« Er machte eine kurze Pause. »Sie sollen ja die einzige Bezugsperson für Knieling außerhalb der Anstalt gewesen sein. Möglicherweise fällt Ihnen ja der Nachlass zu.«

Die Beamten verließen den Haftraum. Beeken lehnte an der gegenüberliegenden Wand und hielt den Stiel seines Putzwerkzeugs mit beiden Händen fest. »Du weißt nicht, wer ich bin. Stimmt’s?«

Konnert wusste genau, wer da vor ihm stand. Er antwortete nicht.

»Ich sage nur Schützenhaus Buchholz.«

»Stehen Sie hier nicht rum! Sehen Sie zu, dass Sie fertig werden!« Zu Konnert gewandt, sagte Brenner: »Wiederholungstäter. Er meint ständig, alle und jeden zu kennen. Denken Sie sich nichts dabei.«

Wenn das so einfach wäre, dachte Konnert. Ihm fiel die Nacht ein, die zur Beendigung der Freundschaft mit Beeken geführt hatte. Und es war keine angenehme Erinnerung. Um die muss ich mich endlich auch einmal kümmern, beschloss er.

***

Dem Gefühl nach hatte Otten am Vormittag mehr Zeit auf der Toilette verbracht als im Arbeitsraum. Dreimal war ein Bediensteter gekommen und hatte ihn aufgefordert, zurückzukehren. Jedes Mal gab er sich Mühe, dem Unterrichtsstoff zu folgen. Es ging nicht. Sein Magen und Darm rebellierten. Er hatte Durchfall. Mehrfach hatte er aufgestoßen und dann den bitteren Schleim heruntergeschluckt.

Otten meldete sich schließlich krank.

Er bekam einen Termin beim medizinischen Dienst. Brechdurchfall lautete die Diagnose. Weil möglicherweise Ansteckungsgefahr bestand, kam er auf die Krankenstation.

***

Die Besprechung am großen Tisch zog sich hin. Stephanie berichtete frustriert von den mageren Ermittlungsergebnissen. Venske versuchte, sie mit netten Worten zu motivieren. Der Versuch scheiterte.

Babsi sagte: »Auch von mir gibt es keine neuen Informationen.«

Konnert schilderte kurz die Erkenntnisse aus der JVA.

»Adi, wenn ich dir richtig zugehört habe, dann glaubst du nicht an einen natürlichen Tod von Sascha Knieling.« Venske wollte sich vergewissern.

Babsi reagierte. »Und wie stellst du dir vor, dass jemand in einer verschlossenen Zelle umgebracht wird?«

»Ich weiß doch auch nicht, was da tatsächlich vorgegangen ist.«

»Wie viele falsche Todesursachen stehen jedes Jahr in Deutschland auf den Totenscheinen?«, fragte Stephanie in die Runde.

Venske hatte die Zahlen im Kopf. »Je nachdem, welche Statistik du zugrunde legst, sind dreißig bis sechzig Prozent fehlerhaft.«

»Und Herzversagen wird in sehr vielen Fällen angenommen.«

Konnert fasste sich an die Nasenwurzel. »Auf Knielings Schein steht unbekannte Todesursache. Ein Kollaps ist die Vermutung der Anstaltsärztin und des Anstaltsleiters. Wir warten die Obduktion ab. Dann sehen wir, ob es ein Fall für uns ist oder nicht.«

»Du solltest deiner Intuition folgen«, meinte Babsi, »meistens liegst du damit doch nicht verkehrt. Rede mit der Staatsanwaltschaft.«

Fünfundzwanzig Minuten später teilte Frau Lurtz-Brämisch per E-Mail den Termin der Obduktion im Institut für Rechtsmedizin mit. Donnerstag, 9:30 Uhr.

Kurz vor Feierabend stellte man dann einen Anruf aus der JVA zu Hauptkommissar Konnert durch. Er hatte sich kaum gemeldet, als eine Frauenstimme loslegte. »Ich war am Vormittag verhindert, an der Besprechung in Sachen Knieling teilzunehmen. Wäre ich anwesend gewesen, hätte ich Ihnen aus meiner langjährigen Praxiserfahrung meine Vermutung zweifelsfrei begründen können. Der Inhaftierte war über zwei Jahre in meiner Behandlung, so dass ich Vorerkrankungen und seinen aktuellen Krankheitszustand in meine Beurteilung einfließen lassen konnte.«

Konnert ließ die Ärztin erst mal reden. Das Wort mein kam ihm in ihrem Redeschwall schlicht weg zu oft vor.

»Das wird natürlich auch die Obduktion unwiderlegbar feststellen. Und zukünftig sollten Sie dann meine medizinischen Einschätzungen nicht mehr infrage stellen. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.«

Da fühlt sich aber jemand ganz gehörig auf den Schlips getreten, dachte Konnert und räumte weiter seinen Schreibtisch auf.

***

Bei Bültmann & Gerriets drängelten die Käufer. Viele hatten begriffen, dass Beratung und Empfehlungen der ausgebildeten Buchhändlerinnen ein Zusatzgewinn zum Flair schön dekorierter Buchregale bedeuteten. Und schon vor dem Kauf ein Buch in der Hand zu halten, erste Abschnitte zur Probe zu lesen, um dann zu entscheiden, ließ die Zeit in einer Buchhandlung zum Erlebnis werden. Anders als im Onlinehandel.

»Opa!« Sein Enkel Lasse quetschte sich auf der Treppe zwischen zwei Frauen durch und strahlte ihn an. »Willst du mir englische Krimis kaufen?«

»Da liegst du völlig daneben. Du bekommst von mir erst im Januar dein Geschenk, wenn die Englischnote im Zeugnis im grünen Bereich liegt.«

»Und wenn nicht? Was machst du dann mit den Krimis?«

»Ich lege sie weg. Vielleicht gibt es im Sommer eine Chance, sie dir zu schenken.«

»Also kaufst du hier doch Krimis.«

»Ich schwöre. Ich kaufe heute keine Bücher für dich.« Er freute sich am Gesicht seines Enkels. Es sah so aus, als könne Lasse sich nicht entscheiden, ob ihn sein Opa foppte oder ob doch Enttäuschung angesagt war. »Du könntest mir aber helfen, ein Buch für deinen Vater zu finden. Was liest er denn so zurzeit.«

»Zu spät, Opa.« Lasse hielt eine Papiertasche der Buchhandlung in die Höhe. »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.«

Sie verabschiedeten sich, und Konnert drängelte sich durch zum Tresen, um die bestellten und schon bezahlten Krimis für Lasse abzuholen.

Donnerstag, 11. Dezember

Der Garten lag im Nebel. Adi Konnert konnte aus dem Küchenfenster kaum bis zum Komposthaufen sehen. Mit beiden Händen auf die Arbeitsplatte seiner Küche abgestützt, wartete er darauf, dass der Kaffee vollständig durch den Filter gelaufen war. Musik von NDR2 rieselte aus der oberen Etage durch die Decke. Er meinte zu hören, dass Helene Fischer schon am Morgen atemlos durch die Nacht zog.

Unter der Brötchentüte lag die Nordwest-Zeitung. Malala bedankt sich für den Friedensnobelpreis, war die Überschrift zum Titelbild. Besser als die Auszeichnung vor zwei Jahren für die Europäische Union, urteilte Konnert. Milliarden für das Land sprang ihm fettgedruckt als Schlagzeile ins Auge. Ob sich die Anlieger über die Finanzierung der A20 freuten, wagte er zu bezweifeln.

Konnert pulte die Brötchentüte auf. Ein gefalteter Briefumschlag mit seinem Namen fiel auf sein Frühstücksbrettchen.

Auf dem Briefbogen stand in Zahras runder Schrift: Lieber Adi! Du kannst im neuen Jahr wieder selbst kommen und einkaufen oder hier frühstücken. Ich habe zum 1. Januar eine Arbeitsstelle in Bremen und ziehe noch vor Weihnachten zu meiner Mutter. Danke noch einmal für die schöne Zeit mit Dir. Lass es Dir gut gehen. Gott segne Dich. Zahra.

Sofort war sein Gesicht das eines alten Mannes, grau, schlaff, mit einem stumpfen Blick aus dem Fenster in den Nebel. Er presste die Lippen aufeinander.

Zahra, seine große Liebe. Monatelang hatte er bis zur Trennung in ihrem Backshop gefrühstückt. Jetzt brachte Schwiegersohn Sven auch für ihn die Brötchen mit.

Nicht jede Liebe führt zum Traualtar, hatte er sich seit dem Sommer schon so oft gesagt. Jetzt fiel ihm dieser Satz wieder ein. Und schnell, vielleicht einen Moment zu schnell, bestätigte er sich, dass die Entscheidung ihrer Trennung vernünftig und verantwortungsvoll gewesen war. Trotzdem.

Er ließ die Brötchen unberührt liegen, goss Kaffee in einen Becher, nahm Zahras Brief und stapfte zum Rauchen auf die Terrasse. Die Welt lag grau in grau um ihn.

Sein rechter Mundwinkel zuckte. Er hatte gedacht, den Abschied von Zahra verarbeitet zu haben. Jetzt nagten Zweifel an ihm. Es stimmte, Zahra war es gewesen, die Schluss gemacht hatte, aber er hatte oft mit seinen Weigerungen die entscheidenden Anlässe zu Auseinandersetzungen geliefert. Ich habe an ihr doch nicht nur ihre Jugend geliebt, dachte er bei sich. Sie war auch eine so gute Zuhörerin und konnte die passenden Fragen stellen, die mich inspiriert haben. Und wenn ich sie gefragt habe, dann waren ihre Antworten klug und weiterführend. Er erinnerte sich an tiefgehende Gespräche und so wunderbare Übereinstimmungen, wenn es um ihren gemeinsamen Glauben ging. Er vermisste diesen Gedankenaustausch.

Statt zu mir zu ziehen, wohnt sie zukünftig in Bremen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Niemals! Ihr Lachen, ihre Zuversicht, ihren Lebensschwung würde er nie vergessen. Er zwinkerte eine Träne weg. Mit einer energischen Bewegung kratzte er die Pfeife aus und steckte sie in die Jackentasche. Als er ins Haus ging, vergaß er, den Terrassenstrahler auszuschalten. Die Tür zur Küche fiel diesmal lauter ins Schloss, als es bei ihm üblich war.

***

Magen und Darm hatten sich gestern Abend etwas beruhigt, und Otten war zurück auf die Station B2 in seinen Haftraum verlegt worden. Jetzt wartete er mit anderen Schülern im Treppenhaus darauf, zu den Unterrichtsräumen geführt zu werden.

Zwei Mithäftlinge hakten sich unter seinen Armen ein. »Unser aufrichtiges Beileid, Frau Knieling«, säuselte der linke. »Ihr Begatter war ein grandioses, allseits unbeliebtes, überhebliches Schwein. Er kroch so gern jedem in den Arsch und war deshalb auch bei den Knastbullen so beliebt.«

Otten ballte die Fäuste und dachte dabei an seine Frau und die beiden Töchter.

»Und mit wem gedenkt die gnädige Frau sich in ihrer Trauerzeit zu trösten? Ich würde mir größte Mühe geben, dir den Arsch aufzureißen«, zischte der rechte Gefangene ihm ins Ohr.

»Lasst ihn los!« Ein dürrer Zweimetermann hatte sich umgedreht und funkelte die beiden Störenfriede aus weit aufgerissenen Augen an.

Sie gehorchten, mussten aber trotzdem noch einen Kommentar ablassen: »Wir überlassen ihn dir natürlich zu treuen Händen.«

***

Die kahlen Äste der Bäume und Büsche rings um das Institut für Rechtsmedizin in der Pappelallee verstärkten bei Konnert die Erwartung eines tristen Tages. Er rauchte neben dem Dienstwagen und versuchte, in Gedanken einen Tagesplan zurechtzulegen.

Alles hing vom Ergebnis der Obduktion ab. Herzversagen ohne Fremdeinwirkung, dann konnte er sich weiter um die Akten auf seinem Schreibtisch kümmern. Suizid würde bedeuten, Formulare auszufüllen, und danach könnte alles andere den vorgeschriebenen Ablauf nehmen. Mord war nach dem, was er bisher wusste, nur schwer vorstellbar. Aber er konnte sich manches nur schwer vorstellen, und dann war es doch real.

Also besser keinen Plan und abwarten.

Die Staatsanwältin kam und begrüßte ihn mit einem Lächeln. »Bevor wir reingehen, rauche ich noch eine.« Dorothee Lurtz-Brämisch holte ihr Pall Mall-Päckchen raus, suchte sorgfältig eine Zigarette aus und ließ sich Feuer geben. Er erinnerte sich an das Frühjahr, als sie bei ihm auf der Friedhofsbank gesessen und geraucht hatte. Frierend hatten sie nach der Beerdigung eines Opfers und dessen Ehemannes dagesessen und geschwiegen. Auch jetzt rauchte sie und schwieg. Er musste erneut feststellen, dass ihm das gefiel. Mit jemandem rauchen und dabei schweigen. Das hatte er mit Zahra nicht gekonnt.

Im Haus kam ihnen die Chefin vom Institut für Rechtsmedizin im hellgrünen Kittel entgegen. Ihre Hände steckten in Latexhandschuhen. Konnert kannte Dr. Landmann seit vielen Jahren, und noch immer herrschte eine leicht prickelnde Spannung zwischen ihnen. Sie hatte ihn einmal sehr gemocht und zum Seitensprung verführen wollen. Als Konnert Witwer geworden war, bedauerte er, dass sie mittlerweile verheiratet war. Sie hielt ihm den Ellenbogen zur Begrüßung hin, und er fasste zu. Die Frauen beließen es bei einem Lächeln und angedeutetem Nicken.

Knieling lag nackt auf einem Obduktionstisch, neben dem der vorgeschriebene zweite Arzt wartete. Sie begannen mit der äußeren Leichenschau bei den Füßen. Fahle Haut überzog die Schienbeine. Waden und Schenkel waren fast fleischlos. Der eingefallene Bauchraum wies keine Verletzungen auf. Nur eine Narbe auf der rechten Seite ließ auf eine frühere Blinddarmoperation schließen. Ein verblasstes Tattoo am linken Unterarm entzifferte Konnert als Till the day I die. Drei Punkte zwischen Daumen und Zeigefinger hatten Mithäftlingen signalisieren sollen: Ich sehe nichts, ich höre nichts, ich sage nichts. Der andere Arm hatte keine Tätowierung. Am Ringfinger zeugte eine leichte Einkerbung davon, dass Knieling hier einen Ring getragen hatte, der bereits entfernt worden war.

Dr. Landmann untersuchte die Halspartie. Aus einer Schublade holte sie ein Vergrößerungsglas und begutachtete aufmerksam die Hautstruktur. Um den Bereich oberhalb des Kehlkopfes noch besser untersuchen zu können, schaltete sie die Beleuchtung der Lupe ein. Konnert hätte ihr gern über die Schulter geschaut. Sie bewegte ihr Instrument an den rot-braunen, schon eingetrockneten Lippen der Leiche vorbei zu den Wangen. Dann hob sie das rechte Augenlid an und überprüfte besonders sorgfältig die Hornhaut.

»Tod durch Erdrosseln«, sagte die Ärztin durch ihren Mundschutz und zeigte auf winzige punktförmige Blutungen in der Gesichtshaut. Sie waren zwischen den verschorften Kratzstellen im Gesicht nur schwer zu erkennen. »Und hier in den Augenbindehäuten.« Sie hielt die Lupe so, dass Konnert hindurchsehen konnte.

Wieder widmete sie sich der Haut am Hals. »Strangulationsfurche.«

Konnert beugte sich gleichzeitig mit der Staatsanwältin vor, sah aber nichts Auffälliges. Er bekam das Vergrößerungsglas gereicht und erkannte nun selbst die kaum vom übrigen Gewebe zu unterscheidende, ringförmige Einschnürung.

»Fass mal bitte mit an.«

Konnert fummelte aus seiner linken Hosentasche Einmalhandschuhe heraus und streifte sie über. So sehr in seiner rechten Hosentasche das Chaos herrschte, so aufgeräumt ging es in der linken zu. Da fanden sich nur Asservatenbeutel und eben Einmalhandschuhe. Gemeinsam drehten sie die Leiche. Auch im Nacken war die Strangulationsfurche zu erkennen. Auf der linken Halsseite war sie an einer Stelle breiter. Möglicherweise zeigte sich hier eine Druckstelle, die von einer Verknotung stammen konnte.

***

Tschabo Dumitrescu stützte seinen linken Ellenbogen auf dem Mahagonistehpult am Kopfende des rötlichen Konferenztisches ab. Sein Blick wanderte ruhig von einem seiner leitenden Mitarbeiter zum nächsten. Gespannte Stille beherrschte den abhörsicheren Raum.

»Victor.«

Der Angesprochene erhob sich, knöpfte das Jackett zu und berichtete. Er nannte Zahlen, ließ eine Grafik an die Wand projizieren und schloss mit dem Fazit: »Die in diesem Jahr von Ihnen erwartete Rendite von 17,3 Prozent im Immobiliensektor liegt noch 0,2 Prozent unter der anvisierten Marge.«

»Ja?« Mehr fragte sein Boss nicht dazu.

»Die verantwortlichen Abteilungsleiter sind angewiesen worden, entsprechend förderliche Maßnahmen zu ergreifen.«

»Radu-Liviu.«

Gleichzeitig mit der letzten Silbe seines Namens sprang der zuständige Leiter des Kreditwesens auf. Wie der Vorredner berichtete er und nannte Summen im sechsstelligen Bereich. Auch er schloss den Rapport mit einer Prozentzahl.

»Gut.«

Die Rechenschaftsberichte aus den übrigen Geschäftsfeldern und dem Personalwesen folgten. Nach jeder Meldung gab es eine der beiden Bewertungen: Ja? oder Gut.

Am Ende der Sitzung suchte und fand Dumitrescu stummen Augenkontakt zu jedem Einzelnen. Der Blick wurde mit einem leichten Senken des Kopfes erwidert. Als er dem letzten Mann in die Augen geschaut und das Zeichen der Unterwerfung empfangen hatte, sprach er mit Autorität in der Stimme zu allen: »Du bist verantwortlich, nicht ihr. Du bist verantwortlich, nicht deine Untergebenen. Du und niemand anderes!«

Nach einer sich hinziehenden Pause sagte er: »Danke.«

Er blieb hinter seinem Pult stehen. Die sechs Männer verließen schweigend den Raum.

Als die Tür geschlossen worden war, griff Dumitrescu zum Telefon, wählte, wartete und ordnete an: »Achte auf Victor!« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er auf. Gleich nahm er den Hörer wieder ab und wählte eine weitere Nummer.

Sein Blick hing dabei an einer Ikone, auf der die Heilige Familie im byzantinischen Stil dargestellt war. Er bekreuzigte sich und senkte nun seinerseits den Kopf.

Endlich meldete sich jemand am anderen Ende der Leitung.

»Ich bin es«, flüsterte er und hörte dann eine ganze Weile schweigend zu.

***

»Ich will nun doch mit Ihnen sprechen«, nuschelte Janina Geißendörfer.

»Ja?« Stephanie war überrascht von ihrem Sinneswandel.

»Können Sie jetzt kommen?«

In Gedanken überflog die Kommissarin ihre Vormittagsplanung.

»Was hat Ihre Meinung geändert?«

»Ich bin trotz allem nach Bassum zur Geburtstagsfeier meines Vaters gefahren und habe meiner Mutter erzählt, was mir passiert ist. Sie hat gleich meinen Vater aus der Feier herausgerufen. Der hat mir zugehört und meine Entscheidung, nicht mit Ihnen zu sprechen, gutgeheißen.«

»Und deshalb wollen Sie jetzt doch mit mir reden? Erklären Sie mir das bitte.«

»Wenn mein Vater meint, ich solle die Zusammenarbeit mit der Polizei beenden, dann hat er bestimmt Gründe dafür. Dann halte ich das für hochgradig verdächtig. Er hat noch nie irgendetwas freiwillig unterstützt, was ich gewollt oder gemacht habe.«

Stephanie runzelte die Stirn und überdachte die merkwürdige Logik der jungen Frau. Dann antwortete sie: »Ich komme, sobald ich kann.«

***

»Es ist nicht so schwierig, sich selbst zu erdrosseln, wie manche meinen«, dozierte Dr. Landmann. »Man muss einen Strick oder einen Schal nur für drei, vier Sekunden stramm genug um den Hals zuziehen. Dann wird die Blutzufuhr zum Gehirn abgeschnürt, es bekommt keinen Sauerstoff mehr und kollabiert. Die Bewusstlosigkeit tritt unmittelbar ein. Das geht so schnell, dass man sich dann nicht mehr aus der Schlinge befreien kann.«

Die Ärztin suchte erneut den gesamten Körper nach Spuren von Fremdeinwirkungen ab. Sie fand keine Abwehrverletzungen, weder Blutergüsse noch kleine Wunden. Ein Mord erschien ihr darum äußerst unwahrscheinlich zu sein. Sie ging aufgrund der bisherigen Befunde von einem Suizid aus. Selbstverständlich nahm sie trotzdem Proben der unter den Fingernägeln haftenden Partikel und klebte verschiedene Körperregionen ab, um Hautschuppen sicherzustellen und möglicherweise zu unterscheiden.

»Natürlich kann ich erst nach der Leichenöffnung einen abschließenden Bericht schreiben.«

»Ich erinnere mich«, sagte Konnert und wandte sich an die Staatsanwältin, »Knieling hat gesagt, er würde sich eher selbst umbringen, als die Tortur noch einmal durchzumachen.«

»Was ist Ihrer Meinung nach als Tatwerkzeug anzunehmen«, fragte Dorothee Lurtz-Brämisch die Ärztin.

»Ein fester Schal, ein fein gewebtes Geschirrtuch. Kein Seil oder Kabel oder so etwas Ähnliches.«

»Ich kann mir trotzdem einen Suizid nicht vorstellen«, mischte sich Konnert ein. »So unwahrscheinlich es auch klingen mag, auch in Gefängnissen kommen Morde vor. Ich bleibe vorerst dabei, wir sollten sicherheitshalber ein Verbrechen nicht ausschließen.«

Die Staatsanwältin entschied: »Van Stevendaal wird aus der Kriminaltechnik zusätzliche Erkenntnisse liefern. Dann sehen wir weiter.«

Damit verabschiedete sie sich von Frau Dr. Landmann und dem Assistenzarzt. Sie wartete an der Tür auf Konnert und schaute ihn freundlich an, als er auf sie zukam.

***

Auf dem Tischchen vor dem Ecksofa waren längliche Untertassen gedeckt. Feines Gebäck lag in einer quadratischen Schale aus weißem Porzellan. Janina Geißendörfer hatte ihre braunen Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Die Blässe ihres Gesichts hatte sie nicht überschminkt.

»Nehmen wir doch Platz«, sagte sie und schritt zum Sofa.

Stephanie wartete ab, wie sie es von Konnert gelernt hatte, und betrachtete die leeren Untertassen.

»Cappuccino oder Espresso? Was darf ich Ihnen bringen?«

»Das Erste bitte. Gern mit mehr Süße.«

Janina Geißendörfer verschwand in der Küche. Stephanie ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Ein Flachbildschirm und darunter eine kostbar aussehende Musikanlage mit Regalen voller CDs. Auf einem Sideboard im Retrodesign stand eine einsame Vase mit Tulpen. Tulpen im Dezember irritierten sie. Durch eine geöffnete Tür konnte sie in das angrenzende Zimmer sehen. Dort ein aufgeräumter Jugendstilschreibtisch und darüber Familienbilder. Sie wäre gern aufgestanden, um die Personen auf den Fotos zu betrachten. Aber ihre Gastgeberin kam schon mit zwei Cappuccinotassen zurück.

»Was soll ich Ihnen erzählen?«

»Beginnen wir mit dem Montagabend. Was haben Sie unternommen?«

Erst stockend, dann immer flüssiger berichtete Janina Geißendörfer, was passiert war. Sie erzählte von der Weihnachtsfeier, beschrieb erneut die Begegnung mit dem Mann und schilderte fast emotionslos ihre Panik auf dem Holzsteg und den darauffolgenden kurzen Kampf. Als sie von dem Griff in ihr Haar sprach, mit dem der Täter sie zu Boden geworfen hatte, brach sie ab. Sie starrte nur stumm an Stephanie vorbei auf die gegenüberliegende Wand.

Minuten verstrichen.

Als erwachte sie aus einem Traum, zuckte Janina Geißendörfer plötzlich zusammen. Sie griff ihre Tasse und nippte am Cappuccino. »Kalt«, sagte sie und stellte die Tasse zurück.

»Janina, darf ich Sie so nennen?«

Leicht nickte sie zustimmend.

»Konnte der Mann wissen, dass Sie am Montagabend dort vorbeikommen würden? War er vielleicht bei der Weihnachtsfeier dabei gewesen?«

»Unmöglich. Der war viel älter als die Jungs auf der Party. Nein, es muss Zufall gewesen sein, dass er ausgerechnet mich erwischt hat.«

»Da sind Sie sich sicher? Bisher haben Sie gesagt, dass Sie den Mann nur im Gegenlicht gesehen haben. Er wäre dann auch immer hinter ihnen hergegangen. Sie konnten sich nicht an sein Gesicht erinnern.«

»Das spürt man doch, ob einer alt oder jung ist.«

»Wie alt kam der Mann Ihnen vor?«

»Etwas älter als dreißig Jahre vielleicht.«

»Doch so jung?«

Janina zog den Kopf zwischen die Schultern.

Stephanie gab sich damit zufrieden. »Meistens kommen Vergewaltiger aus dem Umfeld des Opfers.« Sie hatte bis jetzt vermieden, die Tat so deutlich anzusprechen. Ihre Fragen sollten nun konkreter werden. »Gibt es einen Mann hier aus der Nachbarschaft, aus Ihrem Bekanntenkreis, aus einer Arbeitsgruppe der Universität, der Sie an den Vergewaltiger erinnert? Denken Sie auch an Männer, die Sie aus Bassum kennen.«

Die Studentin dachte nach, zog das Haarband ab, mit der ihr Zopf zusammengehalten worden war, und schüttelte den Kopf. »Der Mann ist mir vollkommen fremd.«

»Bitte denken Sie noch einmal genau nach. Hatte der Mann irgendwelche Eigenarten? Sprach er einen Dialekt, roch er nach etwas Bestimmtem, bewegte er sich ungewöhnlich?«

»Nichts. Ich hatte Angst. Da achtet man nicht auf die Aussprache oder wie sich einer verhält.«

Stephanie glaubte ihr.

»Ist Ihnen in den Tagen vor der Tat etwas merkwürdig vorgekommen? Hat Sie vielleicht jemand angerufen und tat so, als wäre er falsch verbunden gewesen?«

Es sah mit einem Mal so aus, als würde die Studentin nun doch wieder unwillig, zusätzliche Fragen zu beantworten. »Ich erinnere mich an nichts.« Beide Frauen schwiegen.

Dann flüsterte Janina Geißendörfer: »Das Einzige, was mir einfällt, ist, dass vorige Woche mal ein Auto ungefähr zweihundert Meter neben mir hergefahren ist. Aber das ist schon öfter passiert, dass Blödmänner an mir vorbeifahren und hupen.«

»Wann war das?«

»Am Dienstag? Ich war mit dem Rad unterwegs zur Uni.«

»Wo?«

»Bremersweg. Ich glaube, der Wagen kam aus dem Hörneweg und ist bis runter zur Softwarefirma neben mir hergefahren.«

»Um wie viel Uhr war das?«

»Um elf habe ich dienstags eine Arbeitsgruppe. Es muss ungefähr zwanzig Minuten eher gewesen sein.«

»Was für eine Marke?«

»Ich kenne mich mit Autos nicht so gut aus. Es war so ein hohes, breites Modell. Ein protziger Geländewagen für Leute, die nie im Gelände unterwegs sind, aber in der Stadt auffallen wollen.«

»Beschreiben Sie bitte das Fahrzeug.«

»Ich habe geradeaus geguckt. Die wollen doch nur, dass man sie bemerkt und zu ihnen hinsieht. Erst als er mich überholt hatte, habe ich aufgeschaut.«

»Konnten Sie den Fahrer erkennen?«

»Es war so ein Angebertyp mit auf die Stirn geschobener Sonnenbrille. Im Winter! Ich bitte Sie. Er trug ein schwarzes Hemd mit offenem Kragen und Goldkette. Ein Jackett hatte er an, keinen Pullover.«

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