Loe raamatut: «Ifni»
Inhalt
1 Cover
2 Einführung zur ersten deutschsprachigen Ausgabe
3 Ifni, Spaniens letztes koloniale Abenteuer
4 I - Reportage über die »Gefangenen« des Marokko-Kriegs
5 II - »AHORA« in Ifni
6 III - Ifni, Spaniens letztes koloniale Abenteuer
7 Impressum
Einführung zur ersten deutschsprachigen Ausgabe
Die Ereignisse von Annual bedeuteten für Spanien eine Zäsur.
Im Sommer 1921 erlebte das spanische Heer bei Annual im nördlichen Marokko eine Niederlage, die als ›Das Desaster‹ oder ›Die Katastrophe‹ von Annual in die spanische Geschichte einging und oft nur ›Annual‹ heißt. Der aus der ›Katastrophe‹ hervorgehende militärische Strategiewechsel der Spanier ist vor allem ein Beispiel menschlicher Niedertracht und bezeugt, wie sich Feinde, die sich im ersten Weltkrieg noch unversöhnlich gegenüberstanden, verbünden konnten, um das Geschäft mit der schmutzigsten aller Kriegswaffen aufrechtzuerhalten: Gas. ›Annual‹ war die Folge unfähiger spanischer Diplomatie, die aus einem glühenden Sympathisanten, Abd El-Krim, einen erbitterten Feind alles Spanischen machte, der dann seinerseits kein Erbarmen mit den Besatzern kannte. In einem Jahre dauernden Feldzug verseuchten spanische und französische Militärs das Rif. Weite Landstriche sind seit dem Einsatz von Senfgas, den ein deutsches Unternehmen unter Leitung von Hugo Stelzenberg strategisch plante, heute, einhundert Jahre später, noch unfruchtbar. Die Auslöschung der vegetativen Lebensgrundlage war blindwütige Rache gegen einen unterlegenen aber taktisch versierten Gegner. Ein Blick auf die Personalie zeigt, dass dieselben Akteure, die ›Annual‹ zu verantworten hatten, Spaniens düsteres Schicksal für weitere 55 Jahre – bis 1975/76 – bestimmten, von denen neben zahlreichen Militärs und Politikern Miguel Primo de Rivera (›Diktatur Primo de Rivera‹ 1923–1930) und Francisco Franco (›Diktatur General Franco‹ 1939–1975) die bekanntesten sind. Spanien war bis 1923 eine Monarchie (König Alfons XIII dankte auch wegen ›Annual‹ unfreiwillig ab) und zwischen 1931 und 1936 eine Republik, gegen die Franco putschte, den man aufgrund seiner Erfolge in Marokko inzwischen zum General Franco ernannt hatte. Auf die Republik folgte der Spanische Bürgerkrieg. Die republikanischen Truppen verteidigten sich gegen die Angriffe der Faschisten bis 1939, hatten sich aber auch Gegnern aus den kommunistischen und anarchistischen Lagern zu erwehren. Sie standen, gleichsam die republikanische Idee der Freiheit, als gemeinsamer Gegner des Totalitarismus zwischen den Systemen, den ideologischen Antagonisten Faschismus und Bolschewismus, die den europäischen Kontinent in die Zange nahmen.
1934, drei Jahre nach Ausrufung der Republik, der demokratische Wahlen vorausgegangen waren, und drei Jahre vor dem Aufstand der Faschisten, der unter Führung Francos von Marokko aus begann, köchelte immer wieder ein Thema hoch, das in unmittelbarem Zusammenhang mit ›Annual‹ stand. Befeuert von reaktionären Monarchisten, die sich mit Nationalisten, Militaristen und sonstigen Feinden der Demokratie zu einer Phalanx gegen die Republik verbündeten.
Besagtes Thema war eine Anzahl von 300 Gefangenen – spanische Soldaten –, die sich in den Händen der Mauren befinden sollten. Abd El-Krim, der für die Idee einer Rif-Republik gekämpft hatte und in der arabischen Welt mit der Aura eines Ché Guevara versehen ist, war den Franzosen unter Philippe Pétain, der auch deutsches Gas im Rif-Krieg einsetzte, unterlegen und 1926 in die Verbannung gegangen. Seither war Marokko in französische und spanische Protektorate aufgeteilt, die von vielen rebellischen Zonen durchzogen waren, die keinen Anführer wie Abd El-Krim mehr hatten, aber mit dem aufkommenden Kemalismus am anderen Ende ihrer Hemisphäre liebäugelten. Ein Machtvakuum in der Provinz Ifni bewog die Republik Spanien schließlich, den Anspruch auf dieses Terrain geltend zu machen, der seit dem Vertrag von Wad-Ras im Jahr 1860 bestand.
Im Januar 1934 kabelte der Journalist Manuel Chaves Nogales, damals stellvertretender Direktor der Madrider Tageszeitung AHORA zwei Beiträge aus Tanger in die Redaktion, den ersten mit der riesigen Headline: ES GIBT KEINE GEFANGENEN und versprach, man werde Licht in die Angelegenheit bringen.
Wer war dieser Manuel Chaves Nogales, der so wichtig scheint und über den man im deutschen Sprachraum so gut wie nichts weiß? Einer, der so ausschweifend Spaniens letztes koloniale Abenteuer aus der Perspektive eines embedded journalist der ausgehenden Kolonialzeit beschreibt und als einer der ubiquitärsten Pioniere des modernen Journalismus gesehen werden kann. 1897 in Sevilla geboren, 1944 nach einer der aufregendsten journalistischen Karrieren seiner Zeit wenig abenteuerlich im Londoner Exil auf einem Operationstisch bei einem Routineeingriff verstorben. Nicht einmal sein Tod war von seinen Weggenossen bemerkt worden, beerdigt wurde er ohne Grabstein. Vergessen – „perfekt vergessen“, wie sich seine Tochter Pilar zu ihm äußerte –, aber auch ausgelöscht von Franco, der zum caudillo (Führer) aufgestiegen war und den Namen ›Chaves Nogales‹ verbieten ließ. Kein Pio Baroja, kein Unamuno, kein Josep Pla, keiner seiner Kollegen, kein Chronist, keiner dieser Zeitgenossen, Wegbegleiter, ja zeitweisen Mitarbeiter erinnerte sich seiner; die Archive sind, wie es scheint, leer. Bedauerlicher- wie erklärlicherweise war auch die Erinnerung seiner Familie verblasst, die er noch ins Exil nach Paris führte und dort verließ, als ihn die Gestapo hetzte. Sie, liebe Leser, werden, wenn Sie ihn kennenlernen, überrascht sein, zu welcher Integrität und Scharfsinnigkeit man in den 1930er und -40er Jahren noch fähig war und werden ›Chaves Nogales‹ Chronik mit Victor Klemperers Tagebüchern vergleichen wollen.
Zurück in das Jahr 1934 und hinein in das Abenteuer. Chaves Nogales wird die ausweichende Haltung der spanischen Regierung, das Schicksal der mutmaßlich 300 gefangengehaltenen Soldaten hier aufzubauschen, dort zu vertuschen, als ein schändliches politisches Spiel mit der Leichtgläubigkeit entlarven und zum polemischen Leitmotiv seiner herrlichen und ausschweifenden Reportage über die Besetzung der Enklave Ifni durch spanische Truppen machen. Wobei er dank seines feinen politischen Sensoriums nicht davor zurückschreckt, den verschollenen General Silvestre auferstehen zu lassen, um geschickt an das Schicksal Dom Sebastiãos von Portugal zu erinnern. Diesen hatte Fernando Pessoa als Begründer einer Auferstehung Portugals beschworen. Wenn man es aus diesem Blickwinkel des Imperialen betrachtet, so war Pessoas spleen, sich als die ästhetische Inkarnation dieses Mythos zu bezeichnen, noch hinnehmbarer als Chaves Nogales’ Ironie. Zur realen Inkarnation des wie Dom Sebastião auf dem Schlachtfeld verschwundenen General Silvestre wurde ebenjener Francisco Franco, der, wie gesagt, 1936 von Marokko aus die Rebellion der Nationalisten gegen die Republik anführte und zur Inkarnation einer Bestie wurde.
Nicht nur die neuere Mythologie zweier Nationen samt ihrer Abnabelungsschmerzen als Kolonialstaaten, die Legenden um verschollene Schlachtenführer kreieren, erlauben einen Vergleich des Portugiesen Pessoa mit dem Spanier Chaves Nogales. Vor allem auch der Umstand ihrer späten Wiederentdeckung für die literarische Welt legt dies nahe. Pessoa war seinen Zeitgenossen als Kritiker und Theoretiker, der in Zeitschriften publizierte, bekannt. Seine Dichtungen, die er dort auch unterbrachte, erreichten wenige Leser, wenn auch jeden, der Rang und Namen in der portugiesischen Literatur besaß. Noch in den 1980er Jahren war Pessoa in Deutschland bekannt als Autor des Gedichts Der Tabakladen, das der berühmte Paul Celan übersetzt hatte. Die Entdeckung des nunmehr weltberühmten Buchs der Unruhe ergab sich mehr als ein Jahrzehnt nach dem Ende der Salazar-Diktatur und des Estado Novo (1976) und circa fünfzig Jahre nach Pessoas Tod (1935). Chaves Nogales war zwischen 1921 und 1936 ein omnipräsenter Redakteur in allen noch existierenden liberalen Zeitungen Spaniens; bis 1944 publizierte er in Argentinien, Frankreich, in angelsächsischen Ländern: Neuseelands Presse vertraute nur seiner Reputation, wenn sie über Spanien berichtete – bis zuletzt besaß er seine eigene Agentur in London in der Nachbarschaft der verbliebenen freien Agenturen Europas, seine Radiobeiträge für die BBC gelten noch als verschollen. Entdeckt wurde sein Werk, das aus mehreren Tausend Artikeln besteht, die zunächst gar nicht wie ein Werk aussehen, ein knappes halbes Jahrhundert nach seinem Tod, maßgeblich von der Sevillana María Isabel Cintas Guillén, die während ihrer Doktorarbeit auf Chaves Nogales stieß. Zahlreiche seiner Reportagen waren als Buch aufgelegt worden, gleich nachdem sie als Fortsetzung ausgelaufen waren. Etwa sein Roman Juan Martínez, der dabei war, der zeitgleich zu seinen Artikeln aus der Enklave Ifni als wöchentliche Fortsetzung in 26 Teilen erschien, ein Roman, in dem er so viele Fakten zur Russischen Revolution verarbeitete, dass Klassiker wie 10 Tage, die die Welt erschütterten (John Reed, 1919) erblassen. Mit Juan Mártinez schuf Nogales auch das Modell für den Non-Fiktion-Roman, den man literaturgeschichtlich eher mit Kaltblütig (Truman Capote, 1965) verknüpft. All dies und circa fünfzehn weitere ›Titel‹ mehr lagen über fünfzig Jahre nach seinem Tod im doppelten Exil vergessen auf dem Grund zahlreicher Archive. So sehr verschollen, dass man sich wundert, wie endgültig ihn die spanische Intelligenz begraben hat. Ein heute völlig aus sich heraus zu berichtendes Werk war damals versunken. Ja nicht einmal Chaves Nogales’ einziges noch kursierendes Buch, die fiktive Autobiografie des Stierkämpfers Juan Belmonte (1935), welches sein weltweit [!] erfolgreichstes Werk war, wurde in Spanien mit seinem Namen verknüpft – es wurde schlichtweg zur Autobiografie und verlor seinen realen Autor – vielleicht konnte es deshalb in Spanien weiterkursieren. Sein französischer Übersetzer, Joseph Peyré, adaptierte Chaves Nogales’ Plot und erhielt für Sang et Lumières 1935 den Prix Goncourt. Man verglich den Roman eher mit Hemingways Death in the Afternoon (1932), denn mit Chaves Nogales’ brillanter Erzählung über den damals berühmtesten Bürger seiner Geburtsstadt Sevilla; man darf behaupten, dass Belmonte seinerzeit so berühmt wie Einstein war und wie der Physiker, nur als Torero, Hunderttausende auf die Straßen und Plätze zog – ein Phänomen, das die wechselseitige Bedeutung der Tageszeitung dieser Epoche eindrücklich hervorhebt. Die fiktive Autobiografie auf der Grundlage einiger Interviews erschien zunächst auch als Fortsetzung, in einer imposanten Auflage, stilistisch eine unbewusste Anlehnung an James Boswells The Life of Samuel Johnson (1791). Dennoch erinnerte sich nicht einmal Juan Belmonte an seinen Biografen Chaves Nogales, der übrigens nie einen Stierkampf live gesehen hatte.
Was die Wiederentdeckung Chaves Nogales’ für seine Kollegen um eine weitere Nuance pikanter macht: Er war mit dem höchsten spanischen Preis für Journalismus ausgezeichnet worden – dem Premio Mariano de Cavia – für eine Reportage über die Ankunft der amerikanischen Flugpionierin Ruth Elder. Eine Riesenstory, denn alle in Europa wollten dieses american girl haben, das nach der Atlantiküberquerung beinahe vor Lissabon ertrunken war. Chaves Nogales entführte sie wie eine moderne Europa listig mit einem eigens bereitstehenden Flugzeug nach Madrid, und wenn man richtig liest, entdeckt man, dass er nicht nur ein Faible für die Fliegerei hatte. Mit solchen Geschichten konnte Pessoa nicht überraschen, und er wird es auch nie, er brachte seine erotischen Eskapaden zwar bis zur gedruckten Version, aber er musste sie nicht fürchten – niemand las sie. Niemand, so wie er hieß: Herr Niemand. Herr Chaves Nogales indes wurde gelesen, seine Feinde kannten sich bestens aus, er stehe „auf den Todeslisten aller“, schrieb er im Vorwort zu seinen Erzählungen über den spanischen Bürgerkrieg ¡Blut und Feuer! (Sangre y fuego, Chile 1937), die er nicht mehr in Spanien veröffentlichen konnte. Er hielt seine Familie zu dieser Zeit noch zusammen, obwohl er, wie seine Tochter, Pilar Chaves, berichtete, offenbar kein Familienmensch war. Sie fand 1937/38–1940 Exil in Paris, wohin es zeitgleich etwa eine Million Menschen zog, die vor Faschismus und Bolschewismus flohen. Er erkannte, wie Frankreichs Bourgeoisie gewillt war, ihre Werte, die all diese Menschen in die Hauptstadt Europas hatte fliehen lassen, für das eigene Überleben in einem besetzten Frankreich „aufzugeben“ und somit nur noch ein Bollwerk in Europa blieb: England. Sein Buch Die Agonie Frankreichs, das er 1940–41 schrieb, hatte etwas von den Rufen der Kassandra. Rufe, die man von französischen Intellektuellen so nicht hörte. Jean-Paul Sartre schrieb das für Frankreich längst überfällige Buch – mit dem desavouierenden Titel Die Republik des Schweigens (La république du silence, 1944) zu spät, und es wurde keine Hymne auf die liberale, bürgerliche, demokratische, aufgeklärte Gesellschaft in Europa wie Die Agonie Frankreichs, die nach Chaves Nogales’ Analyse ein „feiger Niederfall der französischen Bourgeoisie“ war. Bourgeoisie, die „Herrschaft der Fiktion“, wie Pessoa dieses kleinere Übel einer Gesellschaft zwischen Utopismus und Militär-Diktatur nannte (Der Bankier und Anarchist, 1935). Chaves Nogales’ ›Agonie‹ war ein Appell an den Geist der Freiheit, zu widerstehen, an die freie Welt im von Totalitarismus eingekesselten Europa, die er mit seinen Mitteln als verfolgter Journalist nur bedingt erreichen konnte. Politisch orthodoxe Intellektuelle wie Louis Aragon oder Ilja Ehrenburg erreichten ihre Leser selbst zu Kriegszeiten (als spätes Exempel dieser ›Orthodoxie‹ sei hier Peter Weiss’ Die Ästhetik des Widerstands (1975–81) erwähnt). Heute reiht sich Chaves’ Nogales’ ›Agonie‹ samt seiner BBC-Beiträge, die man bis 1944 in Spanien hören konnte, zu Thomas Manns Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland, 1940–1945 und ist heute eines der wenigen Zeugnisse eines Wegs, den Frankreich und Spanien zwischen Faschismus und Bolschewismus hätten einschlagen können. Ein Zeugnis beeindruckender Integrität, das die spanische Intelligenz verblüfft dastehen lässt, einmal ethisch, ein andermal rezeptionsgeschichtlich, wie dies Fernando Pessoa mit einer verblüfften literarischen Nomenklatur vor der Weltöffentlichkeit gelang. So ist Manuel Chaves Nogales, wie Javier Marías manifestiert, eine Entdeckung vor allem der Spanier und Spanierinnen im Angesicht ihrer Geschichte und nicht der Glanz einer Elite. Undenkbar, dass in Spanien jemand auf die Idee käme, Chaves Nogales’ unmittelbare Niederschrift zu negieren und seine Chronik Spaniens zwischen 1920 und 1944, ins Vergessen zurückzudrücken. Sie erläutert präzise und geduldig, aber auch ironisch und offensiv, wie in einem langen Brief an seine Landsleute, wer und wo die Feinde der Republik sind, die ihnen ein Leben als Bäcker, Lehrer, Bauarbeiter, als freier Mensch nehmen, der nicht bereit ist, ihren Ideologien zu folgen. Er reiste dafür, als Journalist mit ein paar Privilegien ausgestattet, zu den neuralgischen Punkten Europas – in das bolschewistische Russland, in das faschistische Deutschland, in das Italien Mussolinis – und für die vorliegende Reportage nach Afrika, wo er in einem Wüstenörtchen einen verwunschenen Sultan interviewte, der 1934 weitsichtiger war als die meisten Europäer, die nicht einmal einsichtig wurden, als das Unheil über sie hereinbrach. Diesem Sultan sollte noch eine besondere Rolle in der Geschichte Spaniens unter Franco zufallen.
Chaves Nogales war übrigens nicht der erste spanische Journalist, der sich auf den Weg nach Marokko machte. Luis de Oteyza flog, wie Chaves Nogales mit ähnlich tollkühnen Piloten und Foto-Reportern schon 1922 nach Marokko – trotz seines Interviews mit Abd El-Krim spielte er in der Wahrnehmung der Geschichte von ›Annual‹ aber keine erhellende Rolle. Eduardo Ortega y Gasset und Juan Ramón Sender sind hier wahrlich bessere Empfehlungen. Aber auf einem dieser Bilder von Oteyzas Foto-Reporter, dem berühmten Alfonsito, ist, auf dem Flugfeld von Kap Juby aufgenommen, deutlich Antoine de Saint-Exupéry zu erkennen. Eine elektrisierende Konstellation, wenn man sich Manuel Chaves Nogales vorstellt, der den europäischen Kontinent vom Kaspischen Meer bis in die Sahara mit dem Flugzeug erkundete, unzählige Male abstürzte, vor allem dann elektrisierend, wenn man Chaves Nogales’ Erleben der Wüste und des Fliegens mit Antoine de Saint-Exupérys Südkurier (1929) vergleicht.
Manuel Chaves Nogales, der für »Ifni« völlig unabsichtlich in die Rolle eines Luís de Camões geschlüpft war, zur Erinnerung, dieser überlieferte der Welt die Abenteuer Vasco da Gamas, hatte nicht für die Schublade geschrieben; was er in die Redaktion sandte, die seit der Gründung der AHORA 1930 auf ihn zugeschnitten war, ging so, wie er es formulierte, unmittelbar in die Druckerei. In dieser Hinsicht ist Chaves Nogales ein Exempel für die telegrafische Epoche des Journalismus, die er perfekt zu nutzen verstand. War er nicht am Strand der Enklave Ifni, als spanische Truppen anlandeten oder es versuchten? Mit den schnellsten zivilen Flugzeugen seiner Zeit eilte er nicht selten den Ereignissen voraus, um ihr stärkstes Momentum zu stellen, für das wiederum Schnelligkeit und journalistischer Instinkt vonnöten waren.
IFNI, SPANIENS LETZTES KOLONIALE ABENTEUER
I
Reportage über die »Gefangenen« des Marokko-Kriegs
Januar 1934
Manuel Chaves Nogales 1933, als stellvertretender Direktor der AHORA in Deutschland.
ES GIBT KEINE GEFANGENEN
Eine gewissenslose Fantasterei um die Vermissten, ersponnen nach der Katastrophe von Annual
Kein Hinweis auf einen einzigen spanischen Militärangehörigen, der von den Stämmen des Drâa-Territoriums gefangen gehalten wird
Keine Verhandlungen der spanischen Regierung, um sie zu retten
Eine Kampagne, der man schleunigst Einhalt gebieten muss
Kabel des Sonderkorresponenten der »AHORA«
Tanger, 9. Januar 1934
Wieder gesellte sich zu den offenen Fragen unserer Nation die Sorge um die angeblichen Gefangenen von Annual, die, wie versichert wird, seit nunmehr zwölf Jahren im marokkanischen Inland leben, ohne dass man zu ihrer Rettung Verhandlungen aufgenommen hätte. Eine hartnäckig köchelnde Kampagne in der Presse, vage Hinweise suspekter Informanten und das Talent einiger überhitzter Köpfe, Andeutungen zu streuen. Das alles trägt dazu bei, dass diese absurden Hirngespinste von wie vom Erdboden verschwundenen Gefangenen neue alarmierende Ausmaße annehmen, die vor allem die noch so kleinen Fünkchen Hoffnungen schüren, mit denen man die angstvolle Ungewissheit tausender Mütter und Ehefrauen nährt.
Vor wenigen Tagen wurde davon gesprochen, dass man nicht weniger als 300 spanische Soldaten, die im Drâa-Territorium gefangen gehalten werden, befreien werde; man hätte sie explizit dort ausfindig gemacht; sogar Vor- und Nachnamen wurden genannt; und wieder wird versichert, General Fernández Silvestre würde sich unter den Gefangenen befinden.
Wieder gab es Leute, die diesen Fantastereien Glauben schenkten. Selbst die spanische Regierung hat, angestachelt von der Besorgnis der Familien der Vermissten, beschlossen, sich auf der Ebene des Ministerialrats der Sache anzunehmen und nötigenfalls Verhandlungen zur Befreiung aufzunehmen. All dies gibt der Frage der Gefangenen des Drâa eine Dimension, die sich als brandgefährlich erweisen könnte und als rücksichtlos, wollte man von ihr nicht ablassen.
Denn hinter dieser Sensationsgeschichte steckt nichts, absolut nichts.
Es gibt sie nicht, die spanischen Verschollenen der Katastrophe von Annual, die von Stämmen des marokkanischen Inlands gefangen gehalten werden. Das kann man ohne Umschweife festhalten. Es gibt keinen Hinweis auf einen Einzigen. Nie hat es den gegeben. Die bloße Annahme der Hypothese, es könne sie geben, widerspräche den elementarsten Anforderungen des menschlichen Verstands.
In unseren Artikeln aus ebendiesem Marokko werden wir Beweise für unsere feste Überzeugung suchen. In der Hoffnung, dass sich in den unruhigen Seelen der Unglücklichen, die Gewissheit haben wollen, obwohl sie die Wahrheit kennen, denen nichts als Illusionen und Sehnen bleibt, die Bereitschaft durchsetze, das Unabänderliche zu akzeptieren, sodass sie mit dem Warten abschließen können.
Es sei vorausgeschickt, dass trotz der guten Absichten der Regierung und obwohl im Ministerialrat beschlossen wurde, die Freilassung zu verhandeln, derzeit nirgendwo in Marokko Verhandlungen zur Befreiung dieser angeblichen Gefangenen geführt werden, und zwar aus einem einfachen Grund: Niemand wüsste, mit wem wo etwas zu verhandeln wäre. Die französische Militärbehörde hat erklärt, keinerlei Kenntnisse von der Existenz auch nur eines spanischen Gefangenen in dieser Zone zu haben. Der Generalsekretär der Oberen Polizeibehörde bestritt mir gegenüber gestern in Tetuan entschieden, dort in irgendeiner Weise tätig zu sein; und heute in Tanger wiederholte der Generaldirektor für Marokko und die Kolonien, Plácido Álvarez Buylla, dass weder die Polizeibehörden, noch die Generaldirektion für Marokko und die Kolonien den geringsten Hinweis auf eine angebliche Befreiung der Gefangenen hätten.
Mir ist klar, dass diese offiziellen Dementis der Öffentlichkeit nicht genügen. Aus Gründen politischen oder diplomatischen Vorgehens könnten offizielle spanische Stellen das Interesse haben, zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Öffentlichkeit aus der Sache rauszuhalten. Und die Erfahrung mit den ›höheren Interessen‹ der Regierung bestätigt die Leute in ihrem Argwohn und Misstrauen: »Die Regierung bestreitet, weil es ihr nützlich ist.« Nein. Was der Regierung gegenwärtig zupasskommt, ist zurzeit das genaue Gegenteil. Wollen wir den Nachweis versuchen.
Schauen wir uns zunächst an, welchen Köder diese Kampagne der mutmaßlichen Gefangenen auslegt. Begonnen hat alles, als es der Regierung nicht in den Kram passte, diese zweihundert oder dreihundert Gefangenen heimzuholen, weil ihre Befreiung für die Ankläger der Beleg gewesen wäre, dessen sie die Männer bezichtigen: Für die Katastrophe von Annual verantwortlich zu sein. »Sie werden nicht gerettet«, hieß es, »weil die Regierung heute überhaupt kein Interesse daran hat, dass diese Leute auftauchen, deren bloße Existenz eine Schande der Schmach nicht nur für die Soldaten wäre, die Marokko in seiner Gewalt hat, sondern vor allem für den Staat, der sie in dieser Situation zurückließ.«
López Expósito, ein schräger Zeitgenosse, teils Seher, teils mental überfordert, ist der Einzige, der versichert, die Gefangenen mit eigenen Augen gesehen zu haben. Er weidete die Geschichte mit der ›Staatsraison‹ aus und gab zu verstehen, dass Primo de Rivera sein Schweigen hatte erkaufen wollen, oder zumindest dafür hatte sorgen wollen, dass man ihm nicht zuhöre, weshalb Primo de Rivera ihn außer Landes habe bringen lassen. Die Finte, der zufolge die ›Regierung‹ nicht wolle, dass man von den Gefangenen rede, gab der Geschichte indes den nötigen Zunder, den sie brauchte, um sie am Köcheln zu halten. Wenn die Regierung etwas vertuschen wolle, müsse die Sache schwerwiegend sein. Mehr war an Intrige nicht nötig. Die fortgesetzte Gefangenschaft und die Geheimniskrämerei liefern ausreichende Indizien für das doppelte Spiel des Staates.
Aber denken wir scharf nach, denn fast alle, die 1921 Spanien regierten und das Heer befehligten, wurden nach dem Sturz der Monarchie festgesetzt, viele mussten sich verantworten, Tatsachen, die das Argument einstürzen lassen. »Ah ja!«, heißt es dann. »Es ist gar nicht die spanische Regierung, die daran interessiert ist, sondern die französische. Die Spanier aus Annual sind Gefangene in der aufständischen Region der französischen Zone, und die Franzosen möchten sich nicht die Blöße geben, ihre mangelnde Kontrolle über das Gebiet, das ihnen übertragen wurde, offenbar werden zu lassen. Deshalb dementieren sie.«
Soweit also der Sachverhalt, der uns dazu zwingt, die Absurdität zu hinterfragen, wonach sich zwölf Jahre nach dem Desaster von Annual Hunderte Spanier – Befehlshaber, Offiziere und Soldaten – in den Händen verhungernder Mauren befinden sollen, die ihre leeren Bäuche mit dem Lösegeld hätten sättigen können.
Zunächst sagten wir, dass der Wechsel der Regierungsform in Spanien das Argument, die spanische Regierung verfolge mit der Vertuschung ein ›Interesse‹, in sich zusammenfallen lasse. Was die Rolle von Frankreichs Regierung anbetrifft, so drängt sich eine Überlegung auf: Frankreich hat in der rebellischen Zone seines Territoriums jüngst einige Operationen durchgeführt, die eine totale Besetzung des Territoriums verfolgen. Was hätten die Franzosen der Welt wohl Besseres präsentieren können als eine Handvoll Spanier als eindeutigen Beleg für ihre authentische Vormacht in dieser Region?! Wenn außer Spaniens Regierung heute jemand ein natürliches Interesse hätte, spanische Gefangene ausfindig zu machen, dann vor allem Frankreichs Regierung.
Die neue Regierungsform in Spanien und die jüngsten Operationen des französischen Militärs in Marokko entkräften die beiden hartnäckigsten Argumente, die zugunsten der These der Gefangenen angeführt werden, endgültig. Nicht zuletzt waren dies die beiden stärksten Argumente. Alles andere ist bloße Mutmaßung und willkürliche Irreführung.
López Expósito, der Einzige, der aussagt, die Gefangenen gesehen zu haben, ist ein verrannter Wirrkopf, der mit der Wahrheit keinerlei Vertrag hat, wie sich zeigte; das heißt nicht, dass er absichtlich lügt. Er lügt, weil er in seinen Einbildungen gefangen ist, vielleicht weil er unfähig ist, zu entscheiden, was im Chaos seines konfusen Gehirns und der filmreifen Hektik seiner Biografie Realität und was Fiktion ist. Alle weiteren Zeugnisse sind zweitrangig oder nicht einmal das. Irgendwelche Kaïd, die sagen, ihnen sei von Leuten, die etwas gesehen hätten, zugetragen worden; Mauren, die auftauchen und vage Hinweise gegen Geld anbieten … Diesen Kanaillen sei entgegenzuhalten: Wenn ihr uns einen Brief zeigt, irgendeinen Gegenstand aus dem Besitz der Gefangenen, sogar einen einzigen Namen, wir werden euch dafür in Gold bezahlen. Was hätten sich diese Informanten mehr gewünscht, als etwas in den Händen zu haben, das sie mitbringen könnten?!
Im Gegenteil! Die Unruhe stiftende Kampagne um die angeblichen Gefangenen hat keinerlei bedeutenden Rückhalt. Nur ein wo Rauch ist, ist auch Feuer, das die Bevölkerung in Atem hält. Der Rauch qualmt, weil eine gewisse Klientel bei allem, was mit Marokko zu tun hat, profitiert. Niemand verliert etwas, solange noch verhandelt wird, so die Devise. Der Staat spuckt überall ein Sümmchen aus, und wo wäre es sinnvoller, als einmal nachzuschauen, ob man nicht ein paar Spanier auferstehen lassen kann, die man für tot erklärte? …
Marokko ist ein derart undurchdringliches Terrain, sodass alles möglich ist. Selbst, wenn man sich Gefangene herbeisehnt, gibt es am Ende welche. Wenn Spanien Geld zum Verpulvern übrighat, kann es sogar ein paar Gefangene retten, die nie existiert haben. Wie? Unsere Erklärung folgt.