Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts

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1.5 Quellen

Wie das Literaturverzeichnis und die Liste der Archive mit den Quellen zeigen, wurde für die Untersuchung sehr unterschiedliches Quellenmaterial miteinbezogen. Der Centralausschuss für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche verstand sich lediglich als Initiator, nicht aber als Träger der Bonner Konferenz und des SABBK.14 Deshalb ist in den «Fliegenden Blättern», dem offiziellen Publikationsorgan der Inneren Mission, nur die erste Phase der Bewegung beschrieben. Da sich der SABBK nicht in einem Verein organisierte, sondern einen losen Zusammenschluss darstellte, konnte beim Nachzeichnen der Bewegung nicht auf offizielle Sitzungsprotokolle zurückgegriffen werden. Zur Rekonstruktion der geschichtlichen Entwicklung des SABBK wurden deshalb neben ungedruckten Archivalien in verschiedenen Archiven (ADW, StABS und AdRH) Veröffentlichungen wie die Zeitschrift Concordia, die «Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit» sowie die Korrespondenz der Mitglieder des SABBK herangezogen. Auch die Hinführung zum Thema der sozialen Frage im 2. Kapitel, insbesondere die Darstellung der Haltung des schweizerischen Protestantismus zur sozialen Frage, basiert auf Primärquellen, wie beispielsweise auf den veröffentlichten Synodeprotokollen der Zürcher Kirche, den publizierten Reden der schweizerischen Predigergesellschaft oder auf Zeitschriftartikeln aus den Publikationsorganen der verschiedenen theologischen Richtungen. Die Überzeugungen der SABBK-Mitglieder sind gut zugänglich, da diese ihre Meinungen in Publikationen kundtaten oder in diversen Zeitschriften veröffentlichten. Um die sozialpolitische Bedeutung der jeweiligen Mitglieder präzis beschreiben zu können, wurde zusätzliches Archivmaterial (aus den Archiven ABM, StAAG, BAR und UBBS) herbeigezogen.

Da die Primärquellen aus verschiedenen Bibliotheken und Archiven stammen und deshalb teilweise nicht einfach zugänglich sind, habe ich mich bemüht, viele Zitate in der Arbeit abzudrucken, damit der Leser die Quellen zumindest ausschnittweise zur Verfügung hat und so meiner Argumentation besser folgen kann. Die Quellentexte habe ich dabei wenn möglich immer in ihrer ursprünglichen Schreibweise stehenlassen und das «[sic!]» um der besseren Lesbarkeit Willen bewusst nur selten eingesetzt. Zentrale Zitate der Sekundärliteratur sollen jeweils ebenfalls helfen, meine Argumentation und Einschätzung nachvollziehbar und transparent zu machen.

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2. Die soziale Frage im 19. Jahrhundert

In der vorliegenden Arbeit wird untersucht, wie die protestantischen Unternehmer des schweizerischen Ausschusses für die Bestrebungen der Bonner Konferenz die soziale Frage analysierten, wie sie auf diese reagierten und welche sozialpolitischen Lösungsvorschläge sie propagierten. Dieses Kapitel führt in das Thema der sozialen Frage ein, insbesondere in die Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus mit der sozialen Frage im 19. Jahrhundert. Dazu wird zunächst diskutiert, was gemeinhin unter der sozialen Frage im 19. Jahrhundert verstanden wird. Im Anschluss daran wird der Frage nachgegangen, wie die Kirchen auf die soziale Frage reagierten und welche sozialpolitischen Haltungen sich im Protestantismus herausgebildet haben. Um die Einstellung des schweizerischen Protestantismus und auch der protestantischen Unternehmer gegenüber der sozialen Frage systematisieren zu können, werden die vier idealtypischen sozialpolitischen Haltungen – Patriarchalismus, Sozialkonservativismus, Sozialdiakonie und Sozialliberalismus – vorerst skizziert. Ein besonderer Akzent liegt dabei auf dem Patriarchalismus, besonders seiner Herkunft und Verankerung in der Reformationszeit sowie seinen Stärken und Schwächen. Nach der Diskussion sozialpolitischer Haltungen wird in einem weiteren Abschnitt gezeigt, wie sich die soziale Frage speziell in der Schweiz äusserte. Daran anschliessend soll ausführlich das Verhältnis des schweizerischen Protestantismus zur sozialen Frage behandelt werden. Dazu wird gezeigt, wie sich die Zürcher Kirche, die schweizerische Predigergesellschaft, die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft sowie die theologischen Richtungen (Reformer, Vermittler und Bekenntnistreue) zur sozialen Frage äusserten. Ausgehend von der Annahme, dass die Unternehmer vor allem aus dem theologisch-konservativen und erwecklich-pietistischen Lager kamen, wird dabei besonders auch die Haltung der Bekenntnistreuen zur sozialen Frage thematisiert. Darüber hinaus soll kurz auf das Verhältnis des Katholizismus zur sozialen Frage eingegangen werden, bevor schliesslich in einem Fazit die Resultate diskutiert werden und nach deren Relevanz für die weitere Untersuchung gefragt wird. |20|

2.1 Die soziale Frage

Das «lange 19. Jahrhundert»15 war gekennzeichnet durch tiefgreifende politische, kirchliche und gesellschaftliche Auf- und Umbrüche.16 Ausgehend von der Französischen Revolution war der Beginn des 19. Jahrhunderts geprägt durch den Kampf zwischen rationalistischen Modernisierern und konservativen Traditionalisten – um hier nur gerade die beiden grössten rivalisierenden politischen Weltanschauungen zu nennen. Kirchlich gesehen war das 19. Jahrhundert gekennzeichnet von der beginnenden Entkirchlichung, dem Kulturkampf sowie den verschiedenartigen Versuchen der Kirchen, sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Gesellschaftlich schliesslich war das 19. Jahrhundert geprägt durch Veränderungen, die gemeinhin unter dem Begriff «soziale Frage» subsummiert werden. Unter diesem Begriff werden «Krisendiagnosen und entsprechende Bewältigungsstrategien seit der Herausbildung der Industriegesellschaft»17 zusammengefasst. An Stelle des Begriffs «soziale Frage» wird häufig auch der Ausdruck «Arbeiterfrage» verwendet, da sich in jenem Zeitraum die soziale Frage vornehmlich in der Verarmung |21| der Lohnarbeiter manifestierte.18 Die Voraussetzungen, welche die Herausbildung der Industriegesellschaft ermöglichten und insofern zur sozialen Frage führten, sind vielschichtig und äusserst komplex miteinander verwoben. Im Folgenden werden die zentralen Voraussetzungen diskutiert.

Eine erste wichtige Voraussetzung, die zur sozialen Frage führte, ist in der Industrialisierung zu sehen.19 Die Anfänge der Industrialisierung liegen im England des 18. Jahrhunderts, als diverse Erfindungen den Übergang von der Handarbeit zur maschinellen Fertigung einleiteten und der Antrieb mit Wasserkraft und Dampfmaschinen möglich wurde. In der Folge transformierte die Industrialisierung eine mehrheitlich landwirtschaftlich und handwerklich geprägte in eine von der maschinellen Produktion geprägte Gesellschaft. Die ökonomischen und sozialen Folgen der Industrialisierung für die Gesellschaft waren einschneidend und tiefgreifend. Eine der Konsequenzen war der rasante Anstieg der Anzahl Lohnarbeiter, die vielfach unter schrecklichen hygienischen und sozialen Bedingungen in den neuen Zentren der Industrie arbeiteten.

Eine weitere Voraussetzung für die Herausbildung der sozialen Frage bildete das rasante Bevölkerungswachstum.20 Dieses verursachte gravierende wirtschaftliche Nöte und trieb eine grosse Anzahl Menschen in der Hoffnung auf Arbeit in die bereits früh industrialisierten städtischen Zentren. Innerhalb einer äusserst kurzen Zeitspanne führte dies zu einer grossen Urbanisierung und damit zur Herausbildung eines Proletariates, das heisst zu einer grossen Konzentration von Lohnarbeitern auf sehr engem Raum. Da diese Lohnarbeiter nicht mehr in eine dörfliche oder landwirtschaftlich geprägte Sozialstruktur eingebettet waren, besassen sie keinerlei soziale Absicherung und waren der wirtschaftlichen Konjunktur und ihren Arbeitgebern schutzlos ausgeliefert.

Schliesslich führte die Aufhebung der Stände- und Zunftordnung zusätzlich zu einer Auflösung der herrschaftlichen Fürsorge und der mit ihr verbundenen sozialen Sicherung.21 Die Folge war schliesslich eine stark ungleiche ­Verteilung wirtschaftlicher, sozialer und politischer Rechte, was für die Lohnarbeiter mit massiven existentiellen Risiken verbunden war. Dies führte zu einer Verelendung breiter Bevölkerungsschichten, zu sozialen und politischen Konflikten, kurz zu all dem, was mit dem Begriff «soziale Frage» bezeichnet wird. |22|

2.2 Die soziale Frage und die Kirchen

Die soziale Frage forderte auch die Kirchen in Europa heraus, sich in der ökonomisch, gesellschaftlich und politisch vielfältig veränderten Situation neu zurechtzufinden.22 Vor allem die verfassten Kirchen bekundeten grosse Mühe, kreativ und innovativ auf die Herausforderung der sozialen Frage zu reagieren.23 Doch auch wenn die verfassten Kirchen der sozialen Frage vorerst meist ohnmächtig und hilflos gegenüberstanden, so waren die kirchlichen Reaktionen doch durch vielfältige Versuche gekennzeichnet, auf die soziale Frage mit praktischem, karitativem und diakonischem Handeln zu reagieren. In einer «unüberschaubaren, verwirrenden Vielfalt» engagierten sich unzählige Personen und Institutionen aus christlichem Verantwortungsbewusstsein in privatem Rahmen und in kirchlichen Vereinen, um die Miseren der sozialen Frage zu bekämpfen.24

 

Auch der deutsche Protestantismus des 19. Jahrhunderts zeigt diese unüberschaubare, verwirrende Vielfalt, wobei bei der Bewältigung der sozialen Frage die Innere Mission eine zentrale Rolle spielte.25 Traugott Jähnichen schreibt zur zentralen Bedeutung der Inneren Mission: «Der deutsche Protestantismus hat auf die soziale Frage des 19. Jhs. vorrangig durch eine Neukonzeptualisierung der christlichen Liebestätigkeit reagiert. Das traditionelle christliche Motiv der ‹Barmherzigkeit› wurde unter den Bedingungen einer tief greifenden Veränderung der Sozial- und Wirtschaftsstruktur, die man im Protestantismus weithin als Krisenphänomen im Sinne eines gesellschaftlichen Verfalls interpretierte, mit dem Ziel einer Rechristianisierung der Bevölkerung verknüpft und als ‹Innere Mission› zu einer effizienten und öffentlichkeitswirksamen |23| Einrichtung sozialer Hilfe entwickelt. Auch wenn sich die Innere Mission weithin auf die an den Rand gedrängten Opfer gesellschaftlicher Umbrüche konzentrierte, bildete ihre Arbeit den Ausgangspunkt der sozialethischen Verantwortung des neuzeitlichen Protestantismus.»26 Unter dem Namen «Innere Mission» wird die protestantische Sozialarbeit zusammengefasst, die vom Hamburger Theologen Johann Hinrich Wichern (1808–1881) initiiert und koordiniert wurde.27

2.3 Vier sozialpolitische Haltungen

Zur genaueren Systematisierung der vielfältigen sozialpolitischen Haltungen des Protestantismus des 19. Jahrhunderts, die sich teilweise auch als Reaktion auf die soziale Frage herausgebildet haben, wird eine von Jähnichen vorgeschlagene Typologie herangezogen.28 Auch wenn sich diese Typologie auf die Verhältnisse und die Diskussion des Protestantismus in Deutschland bezieht, soll sie dennoch der besseren Einordnung und Systematisierung des schweizerischen Protestantismus, des SABBK und der involvierten Unternehmer dienen. Selbstverständlich birgt die Reduktion des Protestantismus auf vier idealtypische Haltungen die Gefahr einer zu starken Vereinfachung einer äusserst komplexen geschichtlichen Entwicklung. Im Sinne einer besseren Verständlichkeit soll jedoch damit gearbeitet werden. Jähnichen unterscheidet vier idealtypische Haltungen, die im Folgenden diskutiert werden. Dabei soll die sozialpatriarchale Haltung am ausführlichsten dargestellt werden, da diese sowohl im schweizerischen Protestantismus wie auch bei den Unternehmern stark verbreitet war. |24|

2.3.1 Die sozialpatriarchale Haltung

Die erste Einstellung bezeichnet Jähnichen als die sozialpatriarchale Haltung, diese sei in der Kirche vor allem in ländlichen Gegenden weit verbreitet gewesen, im Verlaufe des 19. Jahrhunderts jedoch immer mehr an den Rand gedrängt worden.29 Sie manifestierte sich sowohl in der landeskirchlichen Verflechtung mit dem Feudalsystem in der Tradition eines sozialen Patriarchalismus wie auch in der konservativen Reaktion auf die 1848er-Revolution. Jähnichen charakterisiert diese Haltung folgendermassen: «Im Horizont dieses Einstellungstyps wird das Schema der durch Autoritätsbeziehungen geprägten Über- und Unterordnungen im Blick auf die sozialen Verhältnisse als unwandelbare Ordnung Gottes sanktioniert. Der bedingungslosen Pflicht zur Unterordnung und Treue der Untergebenen entsprach im Rahmen der patriarchalischen Sozialauffassung eine ganzheitliche Fürsorge- und Schutzverpflichtung der übergeordneten Stände. Zwar ist in diesem Sinn in den Predigten und in kirchlichen Verlautbarungen immer wieder an die Verantwortlichkeit der übergeordneten Stände appelliert worden, der deutliche Akzent lag jedoch in der Einschärfung einer gläubigen Ergebenheit in das gesellschaftliche Los, verknüpft mit einer religiös begründeten Wertschätzung von Arbeitsfleiss und Treue sowie der Bereitschaft, das dadurch bedingte Leid anzunehmen und im Glauben zu tragen.»30 Im Protestantismus des 19. Jahrhunderts war die sozialpatriarchale Haltung, die auch oft einfach als «Patriarchalismus» bezeichnet wird, die vorherrschende Haltung, durch die alle anderen Einstellungen geprägt worden sind und die auch im schweizerischen Protestantismus sowie bei den untersuchten Unternehmern vorherrschend anzutreffen war.31

In der Untersuchung des Patriarchalismus waren Ernst Troeltschs (1865–1923) und Max Webers (1864–1920) Analysen des Protestantismus besonders einflussreich. Troeltsch diskutierte in seiner Untersuchung «Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen» den «Typus des christlichen Patriarchalismus» |25| gleich in verschiedenen Passagen.32 Weber führte in seinem Aufsatz «Wirtschaft und Gesellschaft» den Patriarchalismus unter der Überschrift «Patriarchale und patrimoniale Herrschaft»33 aus. Im Anschluss an Troeltsch und Weber bezeichnen Jähnichen und Friedrich den Patriarchalismus als «soziale Ordnungsstruktur, die – basierend auf der Hausgemeinschaft als dem ganzheitlich den entsprechenden Personenkreis und Besitzstand umfassenden Rechtsverband – dem Hausherrn eine einzig auf Tradition normierte, grundsätzlich schrankenlose Herrschaftsausübung einräumte, die unlösbar mit fundamentalen Fürsorgepflichten gekoppelt war.»34

Die Ursprünge des Patriarchalismus reichen zurück in das neutestamentliche Schrifttum. Während der Zeit der Reformation erfuhr der Patriarchalismus zudem einen starken Auftrieb und eine erneute theologische Legitimation. Besonders deutlich ist dies in Martin Luthers grossem Katechismus, insbesondere in seiner Auslegung des vierten Gebotes, in dem der Gehorsam gegenüber Vorgesetzten und der staatlichen Obrigkeit mit dem Gehorsam gegenüber den Eltern gleichgesetzt wird, was zur Folge hatte, dass der Patriarchalismus zur vorherrschenden Haltung in der lutherischen Sozialethik wurde. Selbstverständlich wurde dabei jedoch nicht nur allein der Gehor­­­sam gegenüber den Vorgesetzten eingefordert, sondern auch betont, dass von den Vorgesetzten die Wahrnehmung von Fürsorgepflichten erwartet wird. ­Troeltsch spricht in diesem Zusammenhang auch von einer «patriarchalischen, agrarisch-kleinbürgerlichen Ethik»35.

Es ist offensichtlich, dass der Patriarchalismus in einer feudalen Agrargesellschaft eine durchaus adäquate sozialpolitische Haltung darstellte. So liegt die Stärke des Patriarchalismus – wenn er denn ernst genommen wurde – auch darin, dass er zu einer sozialeren Gestaltung der Machtausübung verhalf und |26| so «zu einer personalen Humanisierung der Herrschaftsverhältnisse»36 führte. Ob der Patriarchalismus allerdings auch eine adäquate Antwort auf die Industrialisierung und die soziale Frage im 19. Jahrhundert war, muss bezweifelt werden und ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Im 19. Jahrhundert werden angesichts der sozialen Frage auch zunehmend die Schwächen und Grenzen des Patriarchalismus sichtbar. Derweil nämlich auf dem agrarisch geprägten Land der Patriarchalismus durchaus noch seine positiven Auswirkungen zeigen konnte, versagte er angesichts der sozialen Frage in den stark anonymisierten und säkularisierten Städten. Auch die protestantischen Unternehmer des SABBK thematisierten diesen unumkehrbaren Trend zumindest ansatzweise. Denn die Beziehung zwischen den Unternehmern und ihren Arbeitern war vermehrt der Anonymisierung unterworfen, so dass eine patriarchale Lösung der sozialen Frage je länger desto weniger möglich war.

2.3.2 Die sozialdiakonische Haltung

Als zweite Haltung bezeichnet Jähnichen die sozialdiakonische der Inneren Mission.37 Den Ursprung dieser Haltung sieht er im Konzept der In­ne­ren Mission Wicherns. Theologisch und politisch sei Wichern zwar konservativ geprägt gewesen, er habe jedoch durch sein volksmissionarisches An­liegen sozialreformerische Überlegungen mit einbezogen. Als «konservativer Mo­­­dernisierer»38 habe Wichern konkrete sozialdiakonische Arbeits­fel­der aufge­baut, indem er das Vereinswesen als zeitgemässe Handlungsform aufgegriffen habe. Ihm sei es vor allem um die Förderung einer intakten Familienstruktur gegangen. Mit seiner sozialdiakonischen Haltung habe Wichern die soziale Frage lösen wollen, indem «er eine Reintegration der neu entstandenen proletarischen Fabrikarbeiter in eine reformierte patriarchalische Sozialordnung angestrebt»39 habe.

2.3.3 Die sozialkonservative Haltung

Als dritte Einstellung führt Jähnichen die sozialkonservative Haltung an.40 Diese sei im Anschluss an die Reichsgründung entwickelt und mit dem Begriff «Kathedersozialismus» bezeichnet worden. Wichtigster Vertreter dieser Position sei der Berliner Nationalökonom Adolph Wagner (1835–1917).41 |27| Die sozialkonservative Haltung kennzeichnet Jähnichen mit folgenden Worten: «Als der entscheidende, über das auf freiwilliger Basis organisierte Handeln der Inneren Mission hinausgehende Schritt dieses Typs des sozialen ­Protestantismus ist das Bemühen um planmässiges sozialstaatliches Handeln zu nennen.»42 Der Staat solle nicht mehr nur als Macht- und Kulturstaat, sondern auch als Sozialstaat verstanden werden, der sich zugunsten der sozial Schwächeren einsetzt. Ziel ist deshalb der «Aufbau von sozialstaatliche[n] Sicherungssysteme[n], die Entwicklung eines sozialen Steuerrechts, die Ausweitung des gesetzlichen Arbeitsschutzes sowie der Aufbau öffentlich-­recht­­licher Interessenvertretungsorgane der Arbeiterschaft»43. Der sozialkonser­vativen Haltung ordnet Jähnichen auch den Juristen Theodor Lohmann (1831–1905)44, den Pfarrer Rudolf Todt (1838–1887)45 und den Hofprediger in Berlin, Adolf Stoecker (1835–1909)46 zu.

2.3.4 Die sozialliberale Haltung

Die vierte Haltung sieht Jähnichen im sozialliberalen Protestantismus, der sich um den 1880 gegründeten Evangelisch-sozialen Kongress47 heraus­bildete.48 Wichtigster Vertreter des sozialliberalen Protestantismus sei Friedrich Naumann (1860–1919). Die sozialliberale Haltung versteht er als Kor­rektur zu der «Staatszentrierung des sozialkonservativen Protestantismus», sie sei skeptisch gegenüber allen «Versuchen und einer direkten kirchlichen Einwirkung auf soziale Problemlagen oder gar einer Rechristianisierung der Gesellschaft».49 Die sozialliberale Haltung sei zudem getragen von einer positiven Einstellung zur Wirtschaft: «Wirtschaftspolitisch würdigten die sozial­liberalen Protestanten die Effizienzsteigerung kapitalistischen Wirt­schaf­tens und grenzten sich entschieden gegen sozial-romantische, gegen ­einseitig staats­zentrierte und insbesondere gegen sozialistische Gesell­schaftskonzep­tionen ab.»50 Ziel sei eine «Transformation des Kapitals als einer einseitigen Herrschaftsordnung» in eine «‹Wirtschaftsdemokratie› mit weitreichenden |28| Par­tizipationsrechten der Arbeitnehmerschaft und einer Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen».51 Die sozialliberale Haltung ziele somit auf eine «Ethisierung des Wirtschaftslebens», dadurch hoffe man die «Effizienzgewinne des Kapitalismus mit sozialpolitischer Verantwortung» auszugleichen.52