Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts

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2.4 Die soziale Frage in der Schweiz

Selbstverständlich war die Schweiz von den weiter oben genannten Voraussetzungen, Ursachen und Auswirkungen der sozialen Frage nicht aus­genommen.53 Die Schweiz des 19. Jahrhunderts war ebenfalls durch In­dus­trialisierung, Bevölkerungswachstum und Auflösung der Stände und Zunft­ord­nungen geprägt. Doch die Voraussetzungen und Ursachen, die in der Schweiz zur sozialen Frage geführt haben, zeichnen sich durch spezifische Kennzeichen aus, auf die im Folgenden eingegangen werden soll.

Die entstehende Industrie der Schweiz war in hohem Mass geprägt durch die Rohstoffarmut und die Distanz der Schweiz zu Handelswegen mit günstigen Produkten.54 In der Schweiz gab es deshalb keine nennenswerte Schwerindustrie, |29| die Industrie musste sich auf die maschinelle Weiterverarbeitung eingekaufter Rohstoffe konzentrieren.

Ein weiteres Charakteristikum der Industrie in der Schweiz war die dezentrale Industrialisierung der vorwiegend ländlichen Gebiete.55 Die Rohstoffarmut und die damit einhergehende Spezialisierung auf die Weiterverarbeitung der Rohstoffe brachten es mit sich, dass sich die Industrien entlang von Flüssen in ländlichen Gebieten ansiedelten, um so die Wasserkraft zu nutzen. Die dezentrale Industrialisierung ermöglichte es den Menschen, in ihren angestammten Orten zu bleiben. Dies hatte den Vorteil, dass die Arbeiter neben dem Fabriklohn meist noch ein zweites Einkommen, ein sogenanntes Subsidiäreinkommen, in der Landwirtschaft hatten und somit nicht ausschliesslich von der wirtschaftlichen Konjunktur der Industrie abhängig waren. Durch diesen zusätzlichen Erwerb und die Beheimatung in den dörflichen Strukturen empfanden sich die Arbeiter in der Schweiz nicht als Proletarier, sondern als Kleinbürger.56 Aus diesem Grund erfolgten die Urbanisierung und die immense Ansammlung von Arbeitern auf kleinstem Raum in der Schweiz nur in abgeschwächter Form und es bildete sich kein eigentliches Massenproletariat.57 Weil sowohl die Arbeiter als auch die Unternehmer – trotz der fortschreitenden Industrialisierung an vielen Orten der Schweiz – weiterhin in die ländliche Sozialstruktur eingebunden waren, unterblieb eine Polarisierung der beiden Gruppen, wie sie beispielsweise in Frankreich oder Deutschland zu beobachten war, weitgehend.

Ausserdem kennzeichnete die Schweiz ein relativ hohes Bildungsniveau. Um konkurrenzfähig zu sein, war die rohstoffarme Schweiz nämlich gezwungen, ihren Wettbewerbsnachteil durch Spezialisierung der Arbeit, Erfindergeist und konsequente Rationalisierung zu kompensieren.58 Dieses Bildungsniveau ermöglichte der Industrie den Einsatz qualifizierter Arbeitskräfte, was für die Spezialisierung der Arbeit eine wichtige Voraussetzung war.59

Gesellschaftspolitisch charakterisierte die Schweiz ein früh demokratisiertes Staatswesen. Durch die radikalen und demokratischen Bewegungen sowie die Bundesverfassung von 1848 waren die Volksrechte bereits früh stark |30| entwickelt. Die Schweizer Arbeiter hatten daher nicht nur vielerorts einen bescheidenen Bodenbesitz, sondern besassen auch weitgehend demokratische Rechte.60 Aus diesem Grund entstanden in der Schweiz Arbeiterorganisationen erst vergleichsweise spät, um 1870. Da die soziale Frage jedoch bereits in den 1830er Jahren als Problem erkannt wurde, folgert Markus Mattmüller «dass die nichtsozialistischen Kreise eine Möglichkeit zur Besprechung der sozialen Frage und zu Lösungsversuchen hatten, bevor die Arbeiterbewegung selbst einsetzte. In diesem Zeitraum traten die ersten Bemühungen kirchlicher Kreise um die soziale Frage auf.»61

Ein weiteres, diesmal politisches Kennzeichen war schliesslich der stark ausgeprägte Föderalismus der Schweiz.62 Die einzelnen Kantone der Eidgenossenschaft entwickelten bezüglich der sozialen Frage sehr unterschiedliche und voneinander unabhängige politische Umgangsformen, ein weiterer Grund, weshalb eine gesamtschweizerische Polarisierung der Arbeiter und Unternehmer weitgehend unterblieb. Im Vergleich zum umliegenden Europa unterschied sich die Schweiz politisch jedoch nicht nur durch den ausgeprägten Föderalismus, sondern auch durch die unterschiedliche Machtstellung der Konservativen. Der aufstrebende Bundesstaat der Schweiz war vom Radikalismus bestimmt, die Konservativen gerieten deshalb zunehmend in die Minderheit und Opposition.

Ein weiterer zentraler Aspekt bei der Betrachtung der sozialen Frage in der Schweiz ist die Entwicklung der Fabrikgesetzgebung, die bis zur Bundesverfassung von 1874 in der Kompetenz der Kantone lag. Aufgrund der bereits angesprochenen dezentralen und föderalistischen politischen Organisation der Schweiz lagen die Anfänge der Arbeiterschutzgesetzgebung in den einzelnen Kantonen. So war auch die Entwicklung der Fabrikgesetzgebung durch den ausgeprägten Föderalismus gekennzeichnet und markierte den Anfang des modernen, schweizerischen Wohlfahrtsstaates.63 Zusätzlich führte der unterschiedliche Industrialisierungsgrad der einzelnen Kantone zu sehr unterschiedlichen |31| Versuchen, die Fabrikarbeit zu regulieren. Die Anfänge dieser Versuche liegen im beginnenden 19. Jahrhundert und betrafen meist die Kinderarbeit. In der Fabrikgesetzgebung spielte der stark industrialisierte und auch politisch weitgehend demokratisierte Kanton Glarus eine Pionierrolle.64 Das «Gesetz über das Arbeiten in Spinnereien» (1848) sowie das «Gesetz über die Verwendung schulpflichtiger Kinder in industriellen Etablissements» (1856) verboten die Fabrikarbeit für schulpflichtige Kinder und setzten eine Maximaldauer eines Arbeitstages fest. 1858 wurde schliesslich in den Fabriken die Arbeit an Sonn- und allgemeinen Feiertagen verboten. Pfarrer Bernhard Becker (1819–1879)65 spielte in der öffentlichen Diskussion dieser Gesetze eine zentrale Rolle, wobei er sich jeweils für eine arbeiterfreundliche Regelung engagierte. In der Glarner Landsgemeinde von 1864 wurde schliesslich demokratisch – gegen den Willen der Kantonsregierung – eine allgemeine Normierung der Arbeitszeit auf 12 Stunden und ein Verbot der Nachtarbeit angenommen. Dieses Glarner Fabrikgesetz war ein Meilenstein in der schweizerischen Sozialpolitik. Die direkte Demokratie prägte damit die soziale Gesetzgebung wesentlich. 1872 wurde schliesslich die Länge eines Normalarbeitstages auf 11 Stunden reduziert. Viele andere Kantone, wie beispielsweise Aargau, Basel-Stadt und Schaffhausen, führten schliesslich ebenfalls kantonale Fabrikgesetze ein. Dank der frühen Entwicklung seines Fabrikgesetzes spielte Glarus eine Pionierrolle und hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die Gesetzgebung dieser anderen Kantone und des Bundesstaates. Die ersten kantonalen Fabrikgesetze entstanden also vor der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die einzelnen Kantone versuchten anfangs durch interkantonale Regelungen andere Kantone ebenfalls für eine Fabrikgesetzgebung zu gewinnen, um eine Benachteiligung eines Kantons im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf zu verhindern. Die Initiative für eine interkantonale Gesetzgebung und die Schaffung eines Konkordates ging ebenfalls von Glarus aus. In den Jahren 1859, 1864 und 1872 fanden drei Treffen statt, die zwar zu keinem direkten Resultat führten, dafür aber das Anliegen eines eidgenössischen Fabrikgesetzes bekräftigten und wichtige Punkte der eidgenössischen Fabrikgesetzgebung bereits vorwegnahmen. Erst mit der Bundesverfassung von 1874 (Art. 34) erhielt der Bund schliesslich gesetzgeberische Kompetenz. Das eidgenössische Fabrikgesetz wurde am 21. Oktober 1877 mit 51,5 % und insgesamt 181 204 Ja-Stimmen angenommen.66 |32|

2.5 Die soziale Frage und der schweizerische Protestantismus

Die Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus67 mit der sozialen Frage ist vielschichtig und uneinheitlich.68 Die Gründe hierfür liegen in den oben dargelegten Kennzeichen der sozialen Frage in der Schweiz sowie der organisatorischen, theologischen und personellen Vielfalt des schweizerischen Protestantismus. Organisatorisch war dieser ein Konglomerat aus unterschiedlich organisierten Kantonalkirchen, Vereinen und kirchlichen Gruppierungen. Theologisch charakterisierte den schweizerischen Protestantismus nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zusehends der Kampf um das sich entfaltende sogenannte Richtungswesen. Je nach theologischer Richtung entwickelte |33| sich so eine unterschiedliche Diskussion und Deutung der sozialen Frage. Personell prägten einige Persönlichkeiten und Institutionen die Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus mit der sozialen Frage. Ein Beispiel ist der bereits erwähnte Glarner Pfarrer Becker, der sich unermüdlich mit der sozialen Frage beschäftigte und mit zahlreichen Publikationen versuchte, eine christliche Antwort auf die soziale Frage zu geben. Ob, und wenn ja inwiefern der schweizerische Protestantismus angesichts der sozialen Frage versagt habe, wird in der Forschung kontrovers diskutiert; Albert Hauser schreibt zum Forschungsstand: «Diese Meinung, das heisst die Auffassung, dass die Kirche nicht oder jedenfalls mit grosser Verspätung sich der sozialen Frage und Umwälzungen angenommen habe, ist noch heute weit verbreitet, und sie wird immer wieder verkündet, wenn es gilt, die wirkliche oder angebliche religiöse oder kirchliche Passivität der Arbeitermassen zu ergründen und zu erklären.»69 Verbreitet ist die kritische Einschätzung wie sie beispielsweise Christine Nöthiger-Strahm äussert: «Lange Zeit hatte die offizielle Kirche die gewaltigen Umbrüche im Sozial- und Wirtschaftsleben des 19. Jahrhunderts nicht wahrgenommen, sie lehnte es ab, zu anderen als den bisher üblichen, nämlich karitativen Massnahmen zu greifen, um die soziale und wirtschaftliche Not grosser Bevölkerungsteile zu mildern.»70 Nach meiner Einschätzung hat im schweizerischen Protestantismus zwar tatsächlich – wie im Folgenden ausgeführt wird – eine frühe und intensive Debatte um die soziale Frage stattgefunden. Doch – und da spricht Nöthiger-Strahm einen zentralen Schwachpunkt an – in der Debatte bestanden die favorisierten Ansätze tatsächlich vielfach lediglich in «karitativen Massnahmen» und an Stelle eines reflektierten sozialpolitischen Handelns war die sozialpatriarchale Haltung vorherrschend. Diese karitativen Massnahmen und die sozialpatriarchale Haltung sollten jedoch nicht unterschätzt werden, denn häufig bereiteten sie indirekt eine sozialpolitische Lösung der sozialen Probleme vor.

 

Für eine differenzierte Darstellung und Klärung der Debatte des schweizerischen Protestantismus über die soziale Frage wird im Folgenden die Auseinandersetzung in ihrer organisatorischen und theologischen Heterogenität dargestellt. Dazu wird der Umgang zentraler kirchlicher Institutionen mit der sozialen Frage nachgezeichnet und den vier sozialpolitischen Haltungen zugeordnet. Konkret wird diskutiert, wie sich die Zürcher Kirche, die schweizerische Predigergesellschaft und die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft mit der sozialen Frage auseinandersetzten und welche sozialpolitischen Haltungen sie einnahmen. Wie bereits angesprochen, beschäftigte sich der |34| schweizerische Protestantismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts leidenschaftlich mit theologischen Richtungskämpfen. Um die sich anbahnende theologische Heterogenität in der Wahrnehmung und Deutung der sozialen Frage ebenfalls zu beleuchten, soll deshalb auch die Debatte um die soziale Frage in den verschiedenen theologischen Richtungen (Reformer, Vermittler und Bekenntnistreue) dargestellt werden, wobei auch hier wieder nach den propagierten sozialpolitischen Haltungen gefragt wird.

2.5.1 Zürcher Kirche

Wie der Bundesstaat so war auch der Protestantismus föderalistisch organisiert und die einzelnen Kantonalkirchen deshalb nur lose miteinander verbunden. Auch das Verhältnis von Kirche und Staat war in den einzelnen Kantonen unterschiedlich ausgestaltet. Dies hatte zur Folge, dass in den verschiedenen Kantonalkirchen viele unterschiedliche Interpretationsmuster und Lösungsansätze zur sozialen Frage nebeneinander existierten. Aus diesem Grund kam es weder zu einer gesamtschweizerischen Polarisierung noch lassen sich einheitliche Konfliktlinien erkennen. So ergab sich auch keine schweizweite Front mit der Staatsmacht, den Unternehmern und den Kirchen auf der einen und den Arbeitern auf der anderen Seite. Beispielhaft soll nun im Folgenden anhand der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage auf der Grundlage von Synodeprotokollen analysiert werden.71 Die Zürcher Kirche bietet sich als Untersuchungsgegenstand an, weil ihre Beratungen in den Synodeprotokollen gut zugänglich sind und ausserdem bereits eine gründliche Untersuchung vorliegt.72 Zudem ist der Kanton Zürich besonders interessant, weil er aussergewöhnlich stark durch die wachsende Industrialisierung geprägt war und Zürcher Unternehmer bei der Industrialisierung der Schweiz eine zentrale Rolle spielten.73

Mitte des 19. Jahrhunderts liess sich in der Pfarrerschaft des Kantons Zürich eine erhöhte Sensibilität für die mit der sozialen Frage einhergehenden |35| Krisenphänomene beobachten. Zahlreiche Publikationen über den vermeintlich bedrohlichen sittlichen und religiösen Zustand geben davon Zeugnis. Im Januar 1848 thematisierte die Synode ein erstes Mal die um sich greifende Verarmung der Gesellschaft.74 Ein erstes Referat zum «Pauperismus»75 – wie damals die mit der sozialen Frage einhergehende Krisenphänomene genannt wurden – hielt der Zürcher Theologieprofessor Johann Peter Lange (1802–1884)76. Lange deutete den Pauperismus als eine Folge der Sünde, als eine zeichenhafte und prophetische Erscheinung, die, ebenso wie die Kometenerscheinungen, die Menschen zu «heilsam[er] Zucht des sündigen Lebens» rufe. Er forderte die Kirche zu einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem Thema auf, denn die «Kirche ist zuvörderst ebenso stark verpflichtet, den Pauperismus zu studieren, als ihm abzuhelfen».77 Um dem Pauperismus «abzuhelfen», schlug Lange zehn Massnahmen vor. So machte er sich beispielsweise für eine Stärkung der Eigentumsrechte, die er bedroht fand, stark, schlug die Auswanderung grosser Bevölkerungsgruppen vor und verwies darauf, dass das Problem erst im Jenseits wirklich gelöst werde. Im Anschluss an Lange hielt Hans Rudolf Waser (1790–1878)78 von Bäretswil, der Dekan des Kapitels von Hinwil im Zürcher Oberland, das Korreferat. Er kritisierte seinen Vorredner scharf und betonte, dass es bei diesem Thema keinen Raum für wissenschaftlich abstrakte Studien gebe. Er propagierte dann aber denselben Lösungsansatz wie Lange. Nach Wasers Vorstellung sollte die Kirche den Feind namens Pauperismus durch einen steten Kampf eindämmen, denn «so – Hand in Hand – mit dem Hause, der Schule und dem Staate, und sie alle durchdringend mit dem Geiste von oben, dem Geiste des Christenthums, wirkt die Kirche dem Pauperismus entgegen».79 Zusätzlich zu diesem Kampf sollten die Geistlichen den Pauperismus durch ihr Vorbild eliminieren: «Wir, wir seien zunächst die Stadt, die auf dem Berge liegt [Mt 5,14], auf die jeder Vorübergehende freudig hinaufblicken darf; bei uns, in unseren Haushaltungen, |36| an uns selbst sollen sie Vorbilder finden jeder häuslichen, jeder bürgerlichen Tugend.»80 Mit der Rede von «wir» und «ihnen» machte Waser deutlich, dass die Kirche aus der Perspektive der Besitzenden und Privilegierten sprach. Dem Kommunismus und Sozialismus erteilte Waser eine entschiedene Absage. Im sozialpatriarchalen Sinn empfahl er zur Überwindung des Pauperismus Ehrlichkeit und Sparsamkeit des Arbeiters und väterliche Fürsorge des Arbeitgebers.

Um das Problem der Verarmung besser verstehen zu können und um «häusliche und bürgerliche Tugenden zu stärken»81, wurde 1852 eine «Synodalkommission für innere Mission» ins Leben gerufen, die anhand eines von den Pfarrern beantworteten Frageschemas die «Nothstände unseres Volks­lebens»82 in einem Bericht zusammenstellen sollte und dem Regierungsrat Empfehlungen zur Linderung der «Nothstände» vorzuschlagen hatte. Dieser Bericht der Synodalkommission beanspruchte für sich, einen differenzierten Umgang mit der durch die Fabrikarbeit ausgelösten sozialen Frage zu pflegen: «Wir müssen uns hüten das Fabrikwesen für an sich und absolut schädlich zu betrachten; auch ist es ein Material, aus dem der fromme und gute Mensch Gutes und der böse Böses sich bildet […].»83 Als Ursache der Notstände bezeichnete der Bericht aber schliesslich nicht mehr nur die Moral der Arbeiter,84 sondern auch die Fabrikarbeit als solche.85 Zur Lösung der sozialen Frage wurden die Unternehmer in sozialpatriarchaler Tradition in die Pflicht genommen: «Die Fabrikherren könnten auf die Arbeiter sehr wohltätig wirken, wenn sie nicht bloss ihre Arbeit oder den Gewinn, den sie ihnen bringt, sondern auch das sittliche Wohl ihrer Untergebenen ins Auge fassten.»86 Das |37| Fabrikwesen wurde in den Vorschlägen der Synodalkommission nicht grundsätzlich kritisiert und es wurden auch keine grundsätzlichen Veränderungen gefordert. Um die «Nothstände unseres Volkslebens» zu beseitigen, unterbreitete der Kirchenrat dem Regierungsrat lediglich Vorschläge, welche die Moral betrafen. Diese Vorschläge reichten von Verminderung der Wirtschaften über Verhinderung leichtsinniger Eheschliessungen bis zu strikterer Handhabung des Sonntagspolizeigesetzes.87 Zwei Jahre später wurde an der Synode wiederum die fehlende Frömmigkeit der Arbeiter bemängelt, die Industrialisierung jedoch nicht als Grund der sozialen Frage angesehen: «Daher verhalten sich die Armen, allerdings mit einzelnen rühmlichen Ausnahmen, passiv gegen die Kirche und besuchen den Gottesdienst selten oder nie, ausser wo sie etwa als Bewohner eines Armenhauses dazu angehalten werden.»88

Nach dieser ersten Auseinandersetzung der Synode mit der sozialen Frage wurde das Thema erst wieder 1868 aufgegriffen. Johann Ulrich Oschwald (1814–1886)89 trug eine Synodalproposition – eine Art Grundsatzrede vor der Synode – mit dem Titel «Das Christenthum und die soziale Frage» vor. Nach einem Schnelldurchgang durch die Weltgeschichte folgte ein sorgfältiges Abwägen der Vor- und Nachteile der «Grossindustrie». Die Nachteile der Industrialisierung, insbesondere diejenige des sozialen Ungleichgewichts, wollte Oschwald durch die drei Strategien Selbsthilfe, Staatshilfe und Mithilfe der Unternehmer lösen. Von den Unternehmern erhoffte er sich dabei am meisten, denn ein «grosser Theil dessen, was auf wirthschaftlichem Wege zur allmäligen Lösung des sozialen Problems zu thun ist, liegt sodann in den Händen der Arbeitgeber».90 Das anschliessende Korreferat hielt Heinrich Knus (1832–1897)91. Selbstkritisch ging er mit der Kirche ins Gericht und warnte vor einer Vereinnahmung der Kirche durch die Unternehmer: «Es herrscht bei den unteren Klassen der Verdacht, dass die Kirche in stillschweigendem Einverständnis mit der Klasse der Besitzenden das Werkzeug sei, die Massen zu zügeln, in Gehorsam, Botmässigkeit und Unterthänigkeit zu erhalten. Wenn wir als Diener der Kirche keineswegs gewillt sind, dieser Anschauung Vorschub zu leisten, im Gegentheil einmüthig und energisch dagegen protestieren, so dürfen wir nicht vergessen, dass bei der besitzenden Klasse die Neigung |38| vorhanden ist, der Kirche diese wenig beneidenswerthe Stellung eines Zuchtmeisters und Bändigers der Masse anzuweisen.»92 Die umsichtige Warnung Knus’ diskutierte die Synode jedoch nicht weiter.

1874 wurde Oschwalds Synodalproposition von einer gewissen Haager Gesellschaft zur Vertheidigung der christlichen Religion93 als gelungene apologetische Preisschrift gekrönt und erneut publiziert.94 Im Vergleich zu seinem Vortrag vor der Zürcher Synode verstärkte Oschwald in dieser überarbeiteten Schrift die zentrale Bedeutung der Unternehmer und verwies zustimmend auf die in der Zwischenzeit erfolgten Bestrebungen der Bonner Konferenz. Oschwald führte zwar nicht konkret aus, worin die Anstrengungen der Unternehmer bestehen sollten, betonte aber an verschiedenen Stellen, was «der Grund und Boden» sei, auf dem das soziale Ungleichgewicht ins Lot gebracht werden könne: «Es ist kein anderes als die wahrhaft universelle, welterlösende Macht des Christenthums.»95 Der Antistes (Vorsteher) der Zürcher Kirche Diethelm Georg Finsler (1819–1899)96, empfahl Oschwalds gekrönte Synodalproposition zur Lektüre und illustrierte die Qualität der Schrift damit, dass ein Industrieller gleich 30 Exemplare bestellt habe, um sie zu verteilen.97 Finsler brachte also die Solidarität der Zürcher Pfarrerschaft mit den Unternehmern zum Ausdruck und sprach ihnen bei der Lösung der sozialen Frage eine zentrale Rolle zu: «Ganz besonders begrüssen wir es, wenn die Arbeitgeber selber mit freiwilligen Leistungen vorgehen […].»98 Eine staatliche Intervention zur Lösung der sozialen Frage wurde in der Zürcher Kirche nicht diskutiert.

 

Während also die Zürcher Kirche anfänglich die soziale Frage lediglich moralisch als eine Folge der Sünde deutete,99 sah sie diese mit der Zeit zusehends als eine Folge der Industrialisierung. Sie sträubte sich hartnäckig gegen jegliche Vorstösse mit kommunistischem und sozialistischem Gedankengut |39| und propagierte eine sozialpatriarchale Lösung durch die moralisch-sittliche Erneuerung der Arbeiter sowie eine vermehrte Fürsorge durch die Unternehmer. Eine Sozialpolitik wurde jedoch nicht entwickelt. Zu Recht notiert Robert Barth kritisch, die Zürcher Kirche habe «weder ein eigentliches Sozialprogramm noch eine grundsätzliche Definition der kirchlichen Aufgaben in der industrialisierten Umwelt erlassen»100. Die Unternehmer – und nicht die Arbeiter! – wurden im Kampf um eine Lösung der sozialen Frage ganz selbstverständlich als Verbündete angesehen.101 Eine sozialpolitische Lösung, beispielsweise mittels eines Fabrikgesetzes, wurde im untersuchten Zeitraum in der Zürcher Kirche nicht besprochen, obwohl man damals in Zürich über ein kantonales Fabrikgesetz debattierte. Vielmehr macht es den Anschein, dass die Pfarrer jener Zeit mehr über das Fernbleiben der Arbeiter vom Sonntagsgottesdienst besorgt waren als über deren teilweise katastrophalen Arbeitsbedingungen in den Fabriken. Es muss deshalb der Schluss gezogen werden, dass sich die Zürcher Kirche nur aufgrund eines apologetischen Interesses um die soziale Frage kümmerte und erst dort ihre Stimme kritisch erhob, wo sie ihre eigene Existenz durch die Folgen der sozialen Frage bedroht sah. In Jähnichens Typologie kann das Verhalten der Zürcher Kirche lediglich der sozialpatriarchalen Haltung zugeordnet werden, auch sozialdiakonische Ansätze sind nicht zu beobachten.