Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts

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2.5.2 Schweizerische Predigergesellschaft

Die in der schweizerischen Predigergesellschaft organisierte evangelische Pfarrerschaft der Schweiz traf sich ab 1839 jedes Jahr für zwei Tage, um sich über aktuelle kirchliche, theologische oder soziale Themen auszutauschen.102 Diese jährlichen Treffen der Predigergesellschaft waren eine zentrale Institution für die theologische Meinungsbildung des schweizerischen Protestantismus des 19. Jahrhundert. Im Zentrum der Versammlungen standen jeweils Referate von Pfarrern, die als Diskussionsgrundlage dienten.

Anlässlich der neunten Jahresversammlung (1847) befasste sich die schweizerische Predigergesellschaft erstmals mit der sozialen Frage. Pfarrer |40| Johann Peter Romang (1802–1875)103 sprach zum Thema «Bedeutung des Communismus».104 Das Referat, eingeteilt in die drei Abschnitte «Dar­stellung», «Würdigung» und «Folgerung», beleuchtete den Kommunismus gründlich und wies auf diejenigen Überzeugungen hin, die im Konflikt mit dem Christentum standen. Dabei betonte Romang aber, dass sich die Kirche deswegen nicht einfach ablehnend gegenüber dem Kommunismus verhalten solle, sondern die Anliegen, die dahinterstünden, ernst nehmen müsse: «Nichts ist unchristlicher, als die diesen Erscheinungen zu Grunde liegende Gesinnung, doch die Bedürfnisse sind anzuerkennen. Und die Aufgabe wäre, durch Herstellung eines wahrhaft christlichen Zustandes diese hässliche Karikierung der christlichen Liebesgemeinschaft zu verdrängen.»105 Ähnlich wie Waser, der in der Zürcher Kirche den Pauperismus durch das Vorbild der Geistlichen überwinden wollte, schlug Romang vor, den Kommunismus durch eine überzeugende «christliche Liebesgemeinschaft» zu verdrängen. In der Predigergesellschaft wurde in der Folge immer wieder propagiert, die soziale Frage solle gelöst werden, indem die Kirche und insbesondere die Pfarrer als gute Vorbilder überzeugend auf die Arbeiter einwirkten.

Selbstbewusst wirkt auch das Referat beim Treffen der Predigergesellschaft von 1853. Heinrich Hirzel (1818–1871)106 sprach im damals bereits stark industrialisierten Glarus zum Thema «Ueber die Wechselwirkung zwischen der protestantischen Kirche und dem sozial-bürgerlichen Leben mit besonderer Rücksicht auf die Fabrikindustrie».107 Einige Jahrzehnte vor Max Weber und Ernst Troeltsch stellte Hirzel stolz eine Verbindung zwischen dem Protestantismus und der wachsenden und «segensreichen» Industrie her. Euphorisch zeichnete er ein optimistisches Bild der Zukunft, in der die negativen Auswirkungen der Industrialisierung bald in den Hintergrund treten würden: «Nun – auch an vielfachen ganz direkten Beziehungen der Industriegeschichte und der Kirchengeschichte fehlt es keineswegs: wir mögen zurückblicken in vergangene Jahrhunderte, oder vorwärts schauen auf die gesegneten Einwirkungen, welche die grossen Ergebnisse der Industrie, schon den Zeichen der |41| Gegenwart nach zu schliessen, auf die Ausbreitung des Reiches Gottes auf Erden ausüben werden. Unser Thema betont mit allem Rechte das Protestantischsein unsrer Kirche, und unleugbar hat der Protestantismus so viel Lebenssaft aus der Industrie gezogen, noch viel mehr aber Lebenssaft ihr gegeben, dass er die Industrie als eine ihm nicht gar von ferne verwandte Lebensmacht wird anerkennen müssen.»108 Optimistisch sah Hirzel auch einer baldigen sozialpatriarchalen Lösung der sozialen Frage entgegen. Durch Predigt und Seelsorge sollten die Unternehmer zu humaner Fürsorge bewegt werden, damit aus der Fabrik eine christliche Gemeinschaft würde: «Der Fabrikherr soll seine Arbeiterschaft als die Erweiterung seiner Familie betrachten und Freud und Leid, das ihm in seinem Hause widerfährt, seine Arbeiter dadurch miterleben lassen, dass er bei Hochzeits-, Tauf- und Traueranlässen seiner Untergebenen mit Gaben in die Ersparnis- und Krankenkasse eingedenk ist.»109 In der Diskussion im Anschluss an das Referat wurde jedoch Hirzels Euphorie nicht geteilt. Heftig wurde gegen den Sozialismus geschimpft. Dabei wurde nicht, wie in Langes Proposition in der Zürcher Synode, die soziale Not, sondern der Sozialismus als Folge der Sünde angesehen. Einige Pfarrer stimmten jedoch auch versöhnliche Töne an und der Präsident der Predigergesellschaft setzte sich – sozialpolitisch durchaus fortschrittlich – für eine staatliche Arbeitszeitbeschränkung in den Fabriken ein: «Wenn auch Hr. Pfarrer Hirzel uns gewarnt hat, Fleisch für unseren Arm zu halten, so wird er doch damit einverstanden sein, dass der Staat durch seine Gesetze und Verordnungen da eingreifen muss, wo auf anderem Weg nicht geholfen werden kann.»110

Beim darauffolgenden Treffen der Predigergesellschaft in Genf (1855) sprach Pfarrer Jean-Samuel Chappuis (1809–1870)111 zur sozialen Frage. In seinem Referat bezeichnete er den «Paupérisme» als eine Manifestation des Antichristen.112 Er führte zwar ekklesiologische Überlegungen an, wie der Pauperismus bekämpft werden solle, warnte die Kirche jedoch davor, in diesem Kampf ihre Kräfte zu sehr zu binden. Die Aufgabe der Kirche sei eine geistliche, |42| sie sei vor allem das Hoffen auf den Tag, an dem der Heilige Geist erneut ausgegossen und an dem das Problem des Pauperismus gelöst werde.113

Nach dem Referat an der Genfer Tagung schwieg sich die Predigergesellschaft einige Jahre über die soziale Frage aus, theologische Richtungskämpfe begannen zunehmend die Verhandlungen zu dominieren. Beispielsweise werden in einem Referat über die Ursachen der Spannungen unter den Christen lediglich die theologischen Richtungskämpfe thematisiert, die zunehmenden sozialen Unterschiede bleiben jedoch unerwähnte114

Erst 1871 thematisierte der bereits erwähnte Pfarrer Bernhard Becker (1819–1879)115 beim Treffen der schweizerischen Predigergesellschaft in Schaffhausen wieder die soziale Frage.116 Als Pfarrer des im Vergleich zu anderen Kantonen der damaligen Zeit weit industrialisierten Glarus hatte sich Becker sein Leben lang intensiv mit der sozialen Frage befasst und einige bis in die Gegenwart beachtete Aufsätze und Predigten dazu publiziert.117 Der Ton des Referates war pessimistisch. Für Becker bestand die soziale Frage darin, dass die politische Freiheit zwar realisiert sei, diese aber keine soziale Gleichheit nach sich gezogen habe. Er rief deshalb alle Christen auf, die soziale Frage anzupacken, und propagierte nicht mehr nur eine sozialpatriarchale Lösung, sondern diskutierte verschiedene sozialpolitische – auch sozialkonservative – Ideen, um schliesslich einen vielfältigen Massnahmenkatalog zu präsentieren. Die Forderung nach einer staatlichen Fabrikgesetzgebung war |43| dabei zentral.118 In der anschliessenden Diskussion wurden viele verschiedene Massnahmen zur Lösung der sozialen Frage erwogen; einer der anwesenden Pfarrer sagte: «Was irgendwie Gutes angestrebt werde durch Krankenkasse, Sparkasse, Hülfsvereine u. a., sei von Allen möglichst zu unterstützen und zu befördern.»119 Andere Pfarrer forderten wie Becker vehement die Einführung eines Fabrikgesetzes. Wurde in früheren Referaten der Predigergesellschaft meist die Sünde als Ursache der sozialen Frage angesehen, so bemerkte nun ein Votant in der Diskussion: «Die sociale Frage existiert, und da kann Niemand etwas dafür und dagegen. Sie ist das Kind der Dampfmaschine, der Kartoffel und des organisierten Credites.»120 Am Ende der differenzierten Diskussion wurden die Ursachen der sozialen Frage und ihre Lösung jedoch wiederum in sozialpatriarchaler Tradition lediglich in einer Verbesserung der Moral gesehen. So wurde beschlossen, die Bundesversammlung aufzufordern, gesetzliche Bestimmungen zur Beseitigung der Ehehindernisse und für eine würdige Sonntagsfeier zu erlassen. Die diskutierten sozialpolitischen Vorschläge zur Einführung eines Fabrikgesetzes auf Bundesebene wurden hingegen von einer Mehrheit der Pfarrer nicht unterstützt und deshalb nicht an die Bundesversammlung gesandt.121

In den folgenden Jahren thematisierte die Predigerschaft die soziale Frage nur noch am Rande in den beiden Versammlungen der Jahre 1874 und 1879.122

Der Blick auf die schweizerische Predigergesellschaft verdeutlicht, dass sich die Pfarrer in ihren Versammlungen regelmässig und engagiert mit der sozialen Frage befassten. Rudolf Liechtenhan schreibt zusammenfassend über |44| die Auseinandersetzung der Predigergesellschaft mit der sozialen Frage: «Unser Überblick hat gezeigt, dass es an den Tagungen der Predigergesellschaft nicht an Aufmerksamkeit, Verantwortungsbewusstsein, Verständnis, Pflichtgefühl und sogar Enthusiasmus gefehlt hat.»123 Viele dieser Referate standen jedoch nach Markus Mattmüllers Einschätzung «unter apologetischen Fragestellungen»124. Die Pfarrer sahen in der sozialen Frage in erster Linie eine Bedrohung für das Christentum und kümmerten sich lediglich aus diesem Grund um eine Lösung. Betrachtet man die Lösungsansätze der schweizerischen Predigergesellschaft vor dem Hintergrund der Typologie Jähnichens, so nahm diese mehrheitlich eine sozialpatriarchale Haltung ein. In ihren Referaten appellierten die Pfarrer deshalb an die Verantwortung der Unternehmer und riefen gleichzeitig die Arbeiter zu einem moralischen Leben auf.125 Neben der sozialpatriarchalen Haltung lassen sich aber auch sozialkonservative Ansätze erkennen. Beispielsweise machten sich viele Pfarrer für eine Verschärfung der Sonntagsruhe stark und einige plädierten wie Becker vehement für die Einführung von Fabrikgesetzen und insofern für planmässiges, sozialstaatliches Handeln.

 

Die Predigergesellschaft war ein loser Zusammenschluss von Schweizer Pfarrern aus den verschiedenen Kantonalkirchen und hatte als solche keine offensichtlich erkennbare politische oder institutionelle Anbindung. Gerade diese politische und institutionelle Unabhängigkeit ermöglichte ihr allerdings eine freiere Auseinandersetzung mit der sozialen Frage als dies beispielsweise in der Zürcher Synode möglich war. Aus diesem Grund waren die Referate der Predigergesellschaft auch durch eine heftige Selbstkritik gekennzeichnet und zeigten eine grosse Varietät.

Obwohl die Unternehmer in sämtlichen Referaten der Predigergesellschaft getadelt und in die Pflicht genommen wurden, galten sie dennoch für die Lösung der sozialen Frage als Verbündete. Die Referate der Predigergesellschaft nehmen nicht direkt auf Mitglieder des SABBK Bezug. Die Pfarrer tauschten sich aber mit vereinzelten Mitgliedern des SABBK über die soziale Frage aus. So sandten sich beispielsweise der Glarner Pfarrer Becker und der |45| Basler Unternehmer Karl Sarasin126 gegenseitig ihre publizierten Schriften zu. Becker schrieb in einem Begleitbrief zu einem «Schriftchen», das er Sarasin zustellte: «Wir sind zwei Freunde, die einander etwas scheel anblicken, weil sie nicht in allen Dingen mit einander übereinstimmen. Aber doch in vielen Stücken ziehen wir an einem Seil […].»127

2.5.3 Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft

Aufgeklärte bürgerliche Philanthropen gründeten 1810 die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG).128 Die SGG verfolgte das Ziel, soziale Missstände auf humanistischer, republikanistischer und christlicher Grundlage zu erfassen und Anregungen für Hilfeleistungen zu geben. Für die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage war die SGG als sozialpolitisches Diskussionsforum eine zentrale Institution der Schweiz.129 Seit ihrer Gründung engagierten sich in der SGG unzählige evangelische und vereinzelte katholische Geistliche. Die SGG war somit eng mit dem schweizerischen Protestantismus verknüpft. Zudem waren viele Unternehmer in der SGG engagiert, so dass sie «ein wichtiges Forum für den Meinungsaustausch auch zwischen Pfarrern und Arbeitgebern»130 bildete. Die SGG befasste sich regelmässig mit den unterschiedlichsten politischen und sozialen Themen, so auch mit der sozialen Frage. Die frühesten Auseinandersetzungen mit der sozialen Frage fanden jedoch in den lokalen und kantonalen Gesellschaften der SGG statt, so |46| zum Beispiel in der Gesellschaft zur Beförderung des Guten und Gemeinnützigen (GGG) in Basel.131 Bereits 1841 befasste sich die GGG in einer Kommission mit der sozialen Frage und publizierte 1843 ihre Ergebnisse unter folgendem Titel: «Gutachten der von der Baslerischen Abtheilung der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft aufgeteilten Kommission über die Frage betreffend die Fabrikarbeiter-Verhältnisse»132. Das «Gutachten» gibt einen informativen Einblick in die bereits Anfang der 1850er Jahre in diversen Industriezweigen in und um Basel bestehenden Einrichtungen zur Linderung der sozialen Frage, wie beispielsweise Kranken- und Begräbniskassen, Sparkassen und Kleinkinderschulen. Im Gegensatz zur Zürcher Kirche oder der schweizerischen Predigergesellschaft hatte die SGG nicht den Anspruch, die soziale Frage theologisch zu deuten. Sie versuchte lediglich, die sozialen Verhältnisse nach dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung zu befragen und Verbesserungsvorschläge zu entwickeln. Insofern wandte die SGG als eine der ersten Institutionen der Schweiz sozialstatistische Methoden an.133 Unter den Verbesserungsvorschlägen wurde bereits sehr früh die Einführung obligatorischer Krankenkassen und staatlicher Fabrikgesetzgebung diskutiert, wobei aber meist vor staatsinterventionistischen Lösungen gewarnt und die Freiwilligkeit der Initiative favorisiert wurde.

Nach einer ersten Beschäftigung auf kantonaler und lokaler Ebene, wie beispielsweise der GGG in Basel, begann sich Mitte der 1860er Jahre dann die SGG auf gesamtschweizerischer Ebene mit der sozialen Frage zu befassen. 1864 plädierte der als wirtschaftsliberal geltende Pfarrer Johann Ludwig Spyri (1822–1895)134 für eine maximale Arbeitszeit von 12 Stunden in den Fabriken.135 1868 hielt Bundesrat Friedrich Frey-Herosé (1801–1873)136 in Aarau ein |47| Referat über die soziale Frage und deren Lösung.137 Im Anschluss an dieses Referat bildete die SGG eine «Commission für die Arbeiterfrage».138 Sechs der elf Mitglieder dieser Kommission waren später auch Mitglieder des SABBK.139 Die «Arbeiter-Commission» verfolgte folgende Ziele: «1) die Kenntnisse der Zustände der Arbeiter zu verbreiten und auf die mit der Industrie verbundenen Übelstände zum Zwecke ihrer Abhülfe aufmerksam zu machen; 2) alle Versuche zur Besserung der Lage der Arbeiter sorgfältig zu prüfen und den ganzen Verlauf der socialen Bewegung fortgesetzt zu beobachten; 3) die gesammelten Beobachtungen und Materialien durch Mittheilungen an die Oeffentlichkeit und durch Anregung von Reformen und nützlichen Einrichtungen nutzbar zu machen.»140 Die Kommission berichtete regelmässig und ausführlich von ihren Erkundungen und Überzeugungen.141 Dabei favorisierte sie zur Lösung der sozialen Frage die sozialpatriarchale Haltung, indem sie vor allem die Stärkung der betrieblichen Wohlfahrt propagierte. In der SGG «erodierte» seit den 1870er Jahren der «sozialpolitische Konsens» jedoch zunehmend und es bildeten sich zwei Lager. Die Mitglieder der Kommission kamen dabei mehrheitlich aus dem wirtschaftsliberalen, staatskritischen und unternehmerischen und nicht aus dem sozialreformerischen Flügel.142 Als |48| eine der ersten Institutionen untersuchte die SGG jedoch auch akribisch die Einkommensverhältnisse der Arbeiter in verschiedenen Gemeinden der Schweiz und wies darauf hin, dass die Arbeiter meist nicht aus moralischen Gründen, sondern aufgrund des zu knappen Verdienstes zu wenig Geld hatten, um ihre Existenz zu bestreiten.

Die SGG, im Speziellen die «Arbeiter-Commission», war also diejenige Institution, in der protestantische Pfarrer und protestantische Unternehmer gemeinsam die soziale Frage analysierten, miteinander Lösungsansätze untersuchten und präsentierten. Eine theologische Deutung der sozialen Frage blieb dabei jedoch aus. Vielmehr analysierte die SGG die sozialen Verhältnisse nach sozialstatistischen Methoden und diskutierte diverse Lösungsansätze, wobei der Fokus auf dem patriarchalen Ansatz lag. Ähnlich wie in der Inneren Mission baute die SGG aber auch sozialdiakonische Arbeitsfelder auf, so schlug sie beispielsweise betriebliche Wohlfahrt oder praktische Liebestätigkeit in Vereinen vor. Gemäss Jähnichens Typologie vertrat die SGG sowohl die sozialpatriarchale wie auch die sozialdiakonische Haltung. Im Gegensatz zur Zürcher Kirche und zur Predigergesellschaft rezipierte die SGG auch die damalige theoretische Diskussion über die soziale Frage sehr genau. Aufgrund ihres optimistischen Fortschrittsglaubens und ihrer grossen Wertschätzung der Industrialisierung sah die SGG in der sozialen Frage lediglich eine Übergangserscheinung, die sich mit der Zeit von selbst lösen würde. Insofern zeichneten sich in der SGG bereits sozialliberale Ansätze ab.143

2.5.4 Theologische Richtungen (Reformer, Bekenntnistreue, Vermittler)

Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der schweizerische Protestantismus zunehmend von der Herausbildung kirchlicher Parteien, dem sogenannten Richtungswesen, bestimmt.144 Selbst wenn gelegentlich die Hoffnung |49| geäussert wurde, die soziale Frage könne die zerstrittenen Richtungen einen,145 so widerspiegelten sich die theologischen Richtungskämpfe dennoch auch in dieser Diskussion.146 Die Dominanz dieser Richtungskämpfe führte dazu, dass die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage im Hintergrund blieb oder diese gar für die Richtungskämpfe instrumentalisiert wurde.147 Die Behandlung der sozialen Frage verlagerte sich deshalb in die theologischen Richtungen hinein und führte so zur Ausgestaltung unterschiedlicher sozialpolitischer Haltungen innerhalb des schweizerischen Protestantismus. Diese zunehmende Differenzierung lässt sich besonders anschaulich in den kirchlichen Zeitschriften beobachten.148 Bis Mitte der 1860er Jahre wurde in sämtlichen Zeitschriften auf die Wichtigkeit der sozialen Frage hingewiesen und die Untätigkeit der Kirche beklagt, konkrete Lösungsansätze wurden jedoch noch keine präsentiert.149 Ende der 1860er Jahre und Anfang der 1870er Jahre begannen |50| die theologischen Richtungen dann ihre je eigenen sozialpolitischen Ideen zu propagieren. Das Richtungswesen führte so bei den drei theologischen Richtungen – den Reformern, den Vermittlern und den Bekenntnistreuen –, zu einer unterschiedlichen Behandlung der sozialen Frage, wie im Folgenden dargestellt wird.

a) Reformer

Die Reformer bezeichneten ihre Theologie auch als «freisinnige, freie oder spekulative Theologie».150 Sie kämpften gegen den «Dogmatismus» in der Kirche und für eine Anpassung von Bekenntnis, Liturgie und Autorität der Heiligen Schrift ans Zeitverständnis.151

Das Aufkommen der sozialen Frage deuteten die Zeitschriften der Reformer nicht moralisch, sondern als logische Folge der industriellen Entwicklung. Ein Artikel von 1866 beurteilte beispielsweise die industrielle Entwicklung äusserst positiv, die sozialen Probleme wurden lediglich als Übergangsphänomene angesehen: «Er [der Mensch] muss den industriellen Fortschritt der Zeit, statt bekämpfen, sich dienstbar machen, selbst ausbeuten.»152 Die Reformer benannten aber auch die negativen Folgen des industriellen Fortschrittes, welche die sozialen Probleme verursachten: «Der Uebelstand entspringt aus der Natur der neuern Industrie selbst.»153 Zur Lösung der sozialen Frage warnten sie anfänglich vor einem Staatsinterventionismus und favorisierten stattdessen die Selbsthilfe der Arbeiter.154 Die Armut deuteten die Reformer bereits sehr früh nicht mehr moralistisch und in sozialpatriarchaler Tradition als Folge der Sünde. Ebenso wenig erachteten sie Arbeit und Sparsamkeit als erfolgreiches Heilmittel dagegen: «Es gelingt bei Weitem nicht Allen, die arbeiten und sparen, reich zu werden und hinwiederum ist auch der vorhandene Reichthum nicht nur ein Produkt der Arbeit und der Sparsamkeit, vielmehr spielen Glück und Unglück dabei eine sehr grosse Rolle […].»155 Mit der Zeit |51| fand bei den Reformern jedoch ein Gesinnungswandel statt. Die soziale Frage wurde nicht mehr bloss als Übergangsphänomen angesehen, das mit dem Fortschritt automatisch verschwinden würde. Immer mehr begannen die Reformer in der Diskussion, beispielsweise auch bei der Revision der Bundesverfassung, ein eidgenössisches Fabrikgesetz zur Lösung der sozialen Frage zu begrüssen: «Vergesst, dass wir verschiedenen Kantonen, verschiedenen religiösen Parteien angehören, und ergreift die schöne Gelegenheit einer be­­vorstehenden Bundesrevision, vom Bund alles das zu verlangen, was zwar noch lange nicht die Lösung der sozialen Frage ist, wohl aber mit ein Grundstein zum gesunden, starken, kräftigen Bau, an dessen Aufrichtung alle warmen Herzen im eigenen Interesse des Arbeiterstandes arbeiten.»156 In ihrem Einsatz für ein planmässiges sozialstaatliches Handeln lassen sich bei den Reformern gemäss Jähnichens Typologie Ansätze einer sozialkonservativen Haltung ausmachen. Die sozialpatriarchale Haltung war weitgehend überwunden.