Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts

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b) Vermittler

Die Vermittler standen theologisch zwischen den Reformern und den Bekenntnistreuen. Wie die Bezeichnung bereits andeutet, wollten sie zwischen den beiden anderen Richtungen vermittelnd und ausgleichend wirken.157 Sie engagierten sich daher nicht nur in der Frage des Bekenntnisses, sondern auch in der sozialen Frage gegen jegliche Polarisierung. So waren sie der Auffassung, dass auch die soziale Frage ein Problem der Polarisierung sei: «Die soziale Frage, soweit sie Arbeiterverhältnisse anbelangt, beruht im wesentlichen auf der Kluft, welche Dienende und Herrschende, Arme und Reiche von einander trennt.»158 Die Vermittler plädierten dafür, diese «Kluft» durch versöhnliches und sozialpatriarchales Handeln der Unternehmer zu schliessen: «Es gibt nur ein Mittel die giftige Quelle zu schliessen, und diese Quelle heisst: Veredelung des Kaufkontraktes durch ein persönliches Verhältnis gegenseitigen Wohlwollens, ein Verhältnis, bei dem der Fabrikherr, der Leiter und Lenker des Geschäftes, seine Arbeiter zwar in ihrer Fabriktätigkeit als willenloses Werkzeug, in jeder anderen Hinsicht aber als befreundete Genossen |52| behandelt.»159 In diesem Sinn berichtete das Volksblatt dann auch euphorisch über einen Vortrag des «Grossindustriellen» Sarasin und begrüsste seinen Weg zur Lösung der sozialen Frage. Den Unternehmern sprachen die Ver­­mittler eine besondere Kompetenz bei der Lösung der sozialen Frage zu: «In­­zwischen will ich mein Referat schliessen, damit nicht am Ende der Leser meine, ich sei auch ein Grossindustrieller, der die Sache noch besser wissen sollte als Herr Sarasin.»160 Die Vermittler empfahlen auch das Büchlein161 des Unternehmers Johann Caspar Brunner zur Lektüre und betonten, es wäre viel gewonnen, wenn die Arbeiter mehr auf die Unternehmer hörten.162 Besonders hervorgehoben wurde von den Vermittlern, dass eine echte Lösung der sozialen Frage nur durch das Christentum geschehen könne, denn «ohne das Christenthum wird es nie eine dauernde Lösung der sozialen Frage geben».163 Aufgrund ihres Vertrauens in eine durch patriarchale Unternehmer herbeigeführte Lösung können die Vermittler der sozialpatriarchalen Haltung zugeordnet werden.

c) Bekenntnistreue

Die Bekenntnistreuen, später meist mit dem Begriff «Positive» bezeichnet, setzten sich für ein traditionelles Verständnis des Christentums ein und kämpften für den Erhalt des traditionellen christlichen Glaubens sowie für «die Weckung und Pflege des religiös-sittlichen und kirchlichen Lebens in den Gemeinden».164 Die Bekenntnistreuen deuteten in ihren Zeitschriften die soziale Frage sozialpatriarchal als eine Folge der Sünde: «Die Ursache der Noth sucht man meistens im Aeussern, statt wo sie wirklich zu suchen ist in den Herzen, man vergisst, dass gerade die feineren Sünden des Hochmuths, der Gottentfremdung eine Quelle nicht nur der sittlichen Zerrüttung, sondern |53| auch des ökonomischen Verfalls werden können.»165 In Ergänzung zur weit verbreiteten Ansicht im Protestantismus, wonach die Sünde der Arbeiter die Hauptursache der sozialen Frage sei, vertraten die Bekenntnistreuen die Überzeugung, nicht nur der sündhafte Lebenswandel der Arbeiter, sondern auch derjenige der Unternehmer sei eine Ursache der sozialen Frage. Der deutsche Industrielle Carl Mez (1808–1877)166 brachte an einem Treffen der Bekenntnistreuen in Baden deren moralischen Zugang auf den Punkt, indem er selbst­kritisch die soziale Frage als Folge der schlechten Moral der Unternehmer bezeichnete: «Wir sind lieblos, unweise in Genüssen, z. B. Tabak.»167 Die Be­­kenntnistreuen waren jedoch durchaus auch der Überzeugung, dass die Arbeiter durch ihre Sünde und Gottlosigkeit die soziale Frage mit verursachten, denn «was hilft’s, wenn die Arbeiter ihre Freistunden und zwar bis spät in die Nacht hinein mit Vorliebe in Localen der denkbar schlechtesten Atmosphäre zubringen»?168 Sie propagierten die sozialpatriarchale Haltung zur Lösung der sozialen Frage: Die Unternehmer sollten ihre Arbeiter als Erweiterung ihrer Familie betrachten und sich nicht nur wirtschaftlich, sondern auch geistlich für sie verantwortlich fühlen. Die Bekenntnistreuen forderten deshalb, dass die Unternehmer mit ihren Arbeitern «Tisch und Bett» teilten, gemeinsam mit ihnen Hausgottesdienste feierten und auf ihren moralischen Lebenswandel achteten.169 Sie waren zudem der festen Überzeugung, dass die Sorge ums geistliche Wohl der Arbeiter auch im wirtschaftlichen Interesse der Unternehmer läge, denn «ein glaubensloser Arbeiter ist das ärmste Geschöpf; durch alle Mittel sucht er im Diesseits zu profitieren.»170 Des Weiteren stellten die Bekenntnistreuen einen direkten kausalen Zusammenhang her zwischen einer konsequent gelebten Frömmigkeit eines Unternehmers und seinem wirtschaftlichen Erfolg. Beispielsweise erklärte ein Aufsatz den Aufstieg eines Handwerkers zum Meister mit seiner tadellosen Moral und eifrigen Frömmigkeit: «Der Mann, von dem ich erzähle, der hat es erfahren und bei seinen Kindern bewährt sich’s auch, weil sie in gleichem Sinn und Geist fortfahren.» Zwischen den einzelnen Teilen dieser Erfolgsgeschichte wurde regelmässig festgehalten: «Der Segen Gottes blieb nicht aus.»171 Eindringlich betonten die Bekenntnistreuen, dass die soziale Frage nur durchs Evangelium gelöst werden könne und Gottes direktes Eingreifen dafür nötig sei: «Nicht die Natur |54| thut’s, nicht der Mensch thut’s, Gott thut’s.»172 Die Bekenntnistreuen wehrten sich vehement gegen eine Intervention des Staates zur Lösung der sozialen Frage,173 denn dieser könne sie nicht lösen: «Auch die staatliche Hebung der betreffenden Klassen und ihre Unterstützung durch Liebesthätigkeit sind diesem Feinde gegenüber ohnmächtig, ja sie vermehren nur die Begehrlichkeit, wenn nicht von innen ein anderer Grund gelegt wird. Mag ein Fabrikgesetz noch so luftige Räume vorschreiben, was hülfe ein kürzerer Normalarbeitstag zur Pflege des Familienlebens denen, welche ihre freie Zeit nie den Ihrigen schenken oder stets Streit mitbringen, wenn sie nach Hause kommen? Bringt das an sich so schöne Vereinsrecht der Mehrzahl wirklich geistige Bildung und Veredelung, oder befördert es bei ihnen die materielle Genusssucht?»174 Im sozialpatriarchalen Sinn stellten sie auch Karl Sarasin als Vorbild eines christlichen, patriarchalen Unternehmers hin und propagierten, ein solcher Unternehmer sei «eine tatsächliche Antwort» auf die soziale Frage: «Arbeiter, mit denen so gesprochen und gehandelt wird, werden sich schwerlich von den Socialisten verführen lassen; und wenn, so wäre es ihre Schuld und ihr eigener Schaden.»175 Die Bekenntnistreuen vertraten von allen theologischen Richtungen am entschiedensten die sozialpatriarchale Haltung und solidarisierten sich am unkritischsten mit den Unternehmern – beispielsweise mit Sarasin.

Zusammenfassend kann gesagt werden: Das Richtungswesen führte zu einer Pluralisierung des schweizerischen Protestantismus. Dies hatte bei den theologischen Parteien die Herausbildung unterschiedlicher sozialpolitischer Haltungen zur Folge. Die Reformer plädierten für eine staatliche Intervention zur Lösung der sozialen Frage und vertraten insofern die sozialkonservative Haltung. Die Vermittler und Bekenntnistreuen blieben beide in der sozialpatriarchalen Haltung verhaftet, wobei die Bekenntnistreuen vehement gegen jegliche staatliche Intervention kämpften und sich für eine Lösung der sozialen Frage durch christliche Unternehmer stark machten. |55|

2.6 Katholizismus und soziale Frage

Innerhalb des Katholizismus – gerade auch im schweizerischen Katholizismus176 – fand im 19. Jahrhundert ebenfalls eine engagierte Auseinandersetzung mit der sozialen Frage statt.177

Auch wenn in der Schweiz eine durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert ausgelöste Wanderungsbewegung innerhalb des Landes stattfand und sich dadurch die «geschlossenen konfessionellen Räume»178 zunehmend aufzulösen begannen, so lässt sich im schweizerischen Katholizismus dennoch eine eigenständige Auseinandersetzung mit der sozialen Frage beobachten.179 Schliesslich gab die päpstliche Sozialenzyklika «Rerum novarum» (1891) auch |56| in der Schweiz «neue Impulse für die Durchsetzung des sozialen Gedankengutes, wie die Rechte der Menschen auf Arbeit, gerechten Lohn, Eigentum, würdige Arbeitsbedingungen, Arbeitervereinigungen (Gewerkschaften) und Sozialversicherungen».180 Neben der päpstlichen Auseinandersetzung mit der sozialen Frage in dieser Sozialenzyklika, lassen sich aber auch im schweizerischen Katholizismus eine Vielzahl sehr heterogener wie auch praktischer Reaktionen auf die soziale Frage beobachten. Ein Beispiel für eine solche Reaktion zeigt sich beim Kapuzinerpater Theodosius Florentini (1808–1865), der versuchte, mit der «Idee der christlichen Fabrik und des christlichen Unter­nehmers»181 die soziale Frage durch klösterlich organisierte Fabriken zu lösen.182 In Florentinis Engagement zeigen sich viele Ähnlichkeiten zu Sarasins Ansatz, da beide die soziale Frage mit Hilfe des christlichen Glaubens lösen wollten.183 Die Ursache der sozialen Frage sah Florentini wie Sarasin in |57| der Sünde und er empfahl als Lösung ebenfalls den Patriarchalismus sowie eine Christianisierung der Industrie. Zur Christianisierung schrieb Florentini: «Es gibt kein anderes wirksames Mittel, als dass die Fabriken christianisiert werden, d. h. dass das Christentum die Fabrikbevölkerung – Fabrikherren und Fabrikarbeiter – durchdringe.»184 In Florentinis Einsatz für eine Rechristianisierung der Industrie zeigen sich deutliche Parallelen zum Konzept der Inneren Mission.185

 

2.7 Fazit

Mit der sozialen Frage werden die mit der Herausbildung der Industriegesellschaft einhergehenden Bewältigungsstrategien und Krisendiagnosen bezeichnet. Die Kirchen waren durch die soziale Frage grösstenteils überfordert, auch wenn es beispielsweise gerade in der Inneren Mission vielfältige Ansätze gab, innovativ auf die soziale Frage zu reagieren. Sozialpolitisch ­lassen sich im Protestantismus vier verschiedene idealtypische Haltungen – Sozial­­patriarchalismus, Sozialdiakonie, Sozialkonservatismus und Sozialliberalismus – beobachten, wobei der Sozialpatriarchalismus die vorherrschende Haltung war. Die soziale Frage kam in der Schweiz aufgrund besonderer Voraussetzungen anders zum Ausdruck als in Deutschland. So verhinderten beispielsweise die dezentrale Industrialisierung und das früh demokratisierte Staatswesen die Bildung eines Massenproletariats.

Die Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus mit der sozialen Frage verlief je nach Institution und theologischer Richtung unterschiedlich. Während die Zürcher Kirche mit ihrer sozialpatriarchalen Haltung die soziale Frage als Bedrohung empfand und lediglich den dürftigen Gottesdienstbesuch der Arbeiter bemängelte, versuchte die schweizerische Predigergesellschaft die soziale Frage theologisch zu beleuchten und engagierte sich auch in sozialkonservativer Weise, indem sie die Einführung eines Fabrikgesetzes auf eidgenössischer Ebene debattierte. Die SGG wiederum versuchte, die soziale Frage sozialstatistisch zu begreifen und diskutierte betriebliche und staatliche Wohlfahrtsbestrebungen, worin sich sowohl sozialpatriarchale, sozialkonservative wie auch sozialdiakonische Ansätze erkennen lassen. In |58| der SGG zeigt sich jedoch auch, dass seit den 1870er Jahren der sozialpolitische Konsens zunehmend erodierte und sich verschiedene, teilweise gegensätzliche sozialpolitische Haltungen zu etablieren begannen. Die theologischen Richtungen ihrerseits analysierten die soziale Frage wiederum anders. Die Reformer betrachteten diese primär als eine negative Begleiterscheinung der industriellen Revolution, die Vermittler als eine Konsequenz der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich und die Bekenntnistreuen als eine Folge der sittlich-moralischen Verrohung der Unternehmer und Arbeiter. Als Lösung plädierten die Reformer sozialkonservativ für staatliche Interventionen, während die Vermittler und die Bekenntnistreuen sozialpatriarchal eine Lösung durch betriebliche Wohlfahrtsbestrebungen der Unternehmer und Fleiss und Strebsamkeit der Arbeiter anstrebten. Stärker noch als die Vermittler betonten die Bekenntnistreuen, dass die soziale Frage letztlich nur durch göttliches Eingreifen gelöst werden könne. Eine Möglichkeit für dieses göttliche Eingreifen sahen sowohl die Vermittler wie auch die Bekenntnistreuen in patriarchalen, christlichen Unternehmern, welche die soziale Frage innerhalb ihres Betriebes, also patriarchal, im christlichen Geist mit betrieblicher Wohlfahrt lösten.

Ob, und wenn ja inwiefern, der schweizerische Protestantismus bezüglich der sozialen Frage versagt habe, ist in der Forschung umstritten.186 Es lassen sich zwei verschiedene Einschätzungen beobachten: Auf der einen Seite beklagen Autoren, meist religiös-sozialer Herkunft, die Entwicklung des sozialen Denkens habe den Kirchen abgerungen werden müssen, der schweizerische Protestantismus habe die soziale Frage zu wenig ernst genommen sowie deren Tragweite viel zu spät erkannt. Markus Mattmüller schreibt: «Die reformierten Christen der Schweiz haben sich, soviel man weiss, nur sehr langsam an die Bewältigung […] [der sozialen Frage] gemacht.»187 Auf der anderen, tendenziell eher konservativen Seite steht eine würdigende und apologetische Einschätzung der Leistungen des schweizerischen Protestantismus, wie sie beispielsweise von Albert Hauser formuliert wurde: «Kann man angesichts aller dieser Worte und namentlich auch Taten noch behaupten, unsere Kirche habe auf sozialem Gebiet versagt? Darf man weiterhin von einer ‹Schuld der Kirche› sprechen? Wäre es nicht richtig und der Wahrheit entsprechend, endlich einmal unmissverständlich zu sagen, dass die Vertreter der protestantischen Kirche zu denen gehörten, die, auf die Stimme des Evangeliums horchend, ausserordentlich früh, nämlich schon zu Beginn der industriellen Revolution, sich |59| der sozialen Frage annahmen?»188 Die Untersuchung der verschiedenen Quellen hat bestätigt, dass Mattmüller die Situation treffender beurteilt als Hauser. Tatsächlich ist es erstaunlich, mit welch apologetischem Interesse sich beispielsweise die Zürcher Kirche mit der sozialen Frage befasste und dabei nur die sozialpatriarchale Haltung propagierte und weder sozialdiakonische noch sozialkonservative Ideen diskutierte. Dennoch lassen sich in der schweizerischen Predigergesellschaft, bei den Reformern und vor allem in der SGG auch Ansätze erkennen, die deutlich über den Sozialpatriarchalismus hinausgehen.

Die folgenden Erkenntnisse dienen nun der weiteren Untersuchung der protestantischen, christlichen Unternehmer, insbesondere des SABBK: Erstens erhielten die christlichen Unternehmer am meisten Rückhalt von konservativer Seite, die aber auch die grössten Hoffnungen auf ihre sozialpatriarchalen Bestrebungen setzten. Zweitens wird die Erkenntnis festgehalten, dass sechs Mitglieder des SABBK bereits im Jahr 1868 miteinander in einer Kommission der SGG über die soziale Frage debattierten.

Im nächsten Kapitel soll nun aber vorerst danach gefragt werden, was unter einem christlichen Unternehmer verstanden werden kann und was für Forschung zu diesem Thema bereits existiert.

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3. Christliche Unternehmer im 19. Jahrhundert

Wie im vorangehenden Kapitel dargestellt, haben die Kirchen im 19. Jahrhundert vielfältig auf die soziale Frage reagiert. Insbesondere in konservativen und erwecklich-pietistischen Kreisen (in der Schweiz auch «Bekenntnistreue» genannt) erhoffte man sich eine Lösung der sozialen Frage durch patriarchal eingestellte christliche Unternehmer. Im vorliegenden Kapitel soll die Forschung diskutiert werden, die bereits über christliche Unternehmer und ihre Auseinandersetzung mit der sozialen Frage publiziert wurde. Hierzu soll zunächst danach gefragt werden, welche Definitionen christlicher Unternehmer diese Forschung entwickelte. Danach soll den Gründen nachgegangen werden, weshalb überhaupt nach christlichen Unternehmern geforscht wurde. In einem weiteren Abschnitt werden sodann in einem Forschungsüberblick christliche Unternehmer und ihre jeweiligen sozialpolitischen Haltungen vorgestellt. Die meisten dieser Unternehmer stammen aus Deutschland. Daran anschliessend wird nach christlichen Unternehmern in der Schweiz gefragt, bevor dann in einem Fazit die wichtigsten Erkenntnisse zusammengefasst werden.

3.1 Was ist ein «christlicher Unternehmer»?

Der Titel dieser Untersuchung verspricht eine Erforschung «protestantischer Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts». Die Bezeichnung «protestantisch» hat ihren Grund darin, dass alle Unternehmer des SABBK – einzige Ausnahme ist der christkatholische Carl Franz Bally (1821–1899) – formal einer protestantischen Kirche der Schweiz angehörten. Ein zentrales Anliegen der vorliegenden Arbeit besteht nun darin zu zeigen, inwiefern diese protestantischen Unternehmer auch «christliche Unternehmer» waren.

Die vorliegende Untersuchung fokussiert also auf protestantische – und somit christliche – Unternehmer des 19. Jahrhunderts in der Schweiz. Dabei soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass es auch gegenwärtig in Deutschland |62| und der Schweiz Unternehmer gibt, die sich als «getaufte Christen und Glieder der Kirche […] in der Verantwortung für die Gesellschaft [sehen], in der sie leben und arbeiten. Sie engagieren sich in und für ihre Kirche und beteiligen sich am Dialog zwischen Kirche und Wirtschaft».189 Viele dieser Unternehmer haben sich in verschiedenen Organisationen zusammengeschlossen, beispielsweise im Arbeitskreis Evangelischer Unternehmer (AEM) oder im Bund Katholischer Unternehmer (BKU). Gerade in jüngster Vergangenheit lässt sich im Umkreis dieser Organisationen auch eine intensivierte Auseinandersetzung mit der Frage nach der Verantwortung des Unternehmers/der Unternehmerin für die Gesellschaft beobachten.190

Welche Definitionsversuche für «christliche Unternehmer» des 19. Jahrhunderts gibt es? In Monographien über «christliche Unternehmer» sind nur vereinzelte Versuche zu finden, diesen Begriff zu definieren.191 Lediglich ­Chris­toph Mehl hat in seiner Untersuchung zum christlichen Unternehmer |63| Ernest Mehl (1836–1912) versucht, den Begriff näher zu bestimmen: Christliche Unternehmer sind «diejenigen Einzelpersonen […], die im industriellen Kontext […] in verantwortungsvoller Führungsposition tätig waren […] und gesellschaftlich relevante soziale Leistungen in ihrem Beruf auf dem Hintergrund einer ausgeprägten christlichen Motivation vollbrachten. Diese Gruppe ist keine einheitliche Grösse, sondern umfasst im Einzelnen sehr unterschiedliche Biographien, wobei beim gegenwärtigen Forschungsstand angenommen werden kann, dass diesen Personen eine protestantisch geprägte patriarchale Grundhaltung gemeinsam war […].»192 Von dieser Definition soll im Folgenden ausgegangen werden, wobei die einzelnen Bestandteile der Mehlschen Definition diskutiert, wenn nötig präzisiert und um einige wesentliche Aspekte ergänzt werden sollen.193 Mehl versteht unter einem christlichen Unternehmer eine «Einzelperson», die wesentliche «soziale Leistungen» vollbracht hat. Eine genauere Betrachtung zeigt aber in vielen Fällen, dass im Konzept des christlichen Unternehmers nicht von einer «Einzelperson» ausgegangen werden kann, sondern beispielsweise erst durch die engagierte Zusammenarbeit eines Ehepaars, einer Familie oder einer klösterlichen Gemeinschaft das Konzept eines christlichen Unternehmers realisiert werden konnte. Mehls Definition muss also dahingehend ergänzt werden, dass das Konzept des christlichen Unternehmers nicht bloss aus einer «Einzelperson» besteht, sondern meist andere Personen mit einschliesst. Gerade der von Mehl als «soziale Leistungen» bezeichnete Aspekt wurde vielfach von der Ehefrau des Unternehmers geleistet.194 Die in Mehls Definition genannte «patriarchale Grundhaltung» der christlichen Unternehmer realisiert sich also meist erst durch die Zusammenarbeit eines Ehepaars und kaum durch eine «Einzelperson» allein.

Ein weiterer zentraler, aber ergänzungsbedürftiger Aspekt in Mehls Definition ist die Aussage, dass christliche Unternehmer «gesellschaftlich relevante |64| soziale Leistungen in ihrem Beruf» erbrächten. Mehl führt zwar nicht aus, was er unter dem Begriff «Beruf» versteht, aus dem weiteren Zusammenhang kann aber geschlossen werden, dass er «Beruf» im Sinne der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in einem Betrieb oder einem Unternehmen auffasst. Dadurch wird aber der Wirkungsbereich eines christlichen Unternehmers unnötig auf die betriebliche Sozialpolitik reduziert. Das Engagement für eine betriebliche Sozialpolitik ist offensichtlich und unbestritten ein wesentlicher Aspekt eines christlichen Unternehmers, jedoch keineswegs der einzige. Es gibt viele Beispiele christlicher Unternehmer, zu deren Selbstverständnis es gehörte, sich nicht nur in ihrem eigenen Betrieb, sondern ebenso in Kirche, Politik und Gesellschaft zu engagieren.195

 

Mehl schreibt des Weiteren, dass ein christlicher Unternehmer «soziale Leistungen […] auf dem Hintergrund einer ausgeprägten christlichen Motivation» vollbringe. Der Aspekt einer «ausgeprägten christlichen Motivation» ist zweifellos eine naheliegende Möglichkeit, um einen christlichen Unternehmer zu definieren. Wie nun aber diese «ausgeprägte christliche Motivation» im Einzelfall beobachtet werden kann, und worin sie konkret besteht, bleibt in vielen Fällen eine offene Frage.196 Auf jeden Fall ist es eine unzulässige Verkürzung, |65| von einer «ausgeprägten» christlichen Motivation auszugehen. Die christlichen Kirchen und Traditionen waren im 19. Jahrhundert ein prägender Rahmen der von niemandem ignoriert werden konnte. Insofern kann jeder Unternehmer, der in jener Zeit gelebt hat – selbstverständlich mit Ausnahme Angehöriger anderer Religionen –, in irgendeiner Weise als christlicher Unternehmer angesehen werden. Deshalb ist es nicht unproblematisch, wenn nur derjenige als christlicher Unternehmer angesehen wird, der sich selbst auch als solcher verstand und bei dem eine «ausgeprägte» christliche Motivation explizit beobachtbar ist. Infolgedessen möchte auch ich nicht (einschränkend) definieren, wie das «christlich» zu verstehen ist. Dennoch werden in der vorliegenden Arbeit vornehmlich Unternehmer dargestellt, die versucht haben, das – wie auch immer verstandene – Christentum mit ihrer Rolle als Unternehmer in Beziehung zu setzen. Dass diese Beziehung sehr unterschiedlich gesehen und ausgestaltet wurde, soll die vorliegende Arbeit zeigen.

Mehl diskutiert in seiner Definition des christlichen Unternehmers den Begriff «Unternehmer» nicht. Aus diesem Grund wird dies im Folgenden für diese sehr vielfältige Bezeichnung ergänzend nachgeholt.197 Hierzu dient die hilfreiche Definition im «Lexikon der Wirtschaftsethik»; Franz Blome-Drees schreibt dort: «Mit dem Begriff ‹Unternehmer› werden Menschen bezeichnet, die sich durch bestimmte Eigenschaften auszeichnen. Sie reagieren nicht nur auf gegebene Verhältnisse, sondern ergreifen aktiv die Initiative. Sie zeichnen sich durch ihre Entscheidungskraft, kreative Aktivität und Leistungsmotivation aus, und sie sind bereit, in einer Welt voller Unsicherheit für sich und andere Risiken zu gestalten und zu übernehmen.»198 Im Zentrum dieser Definition steht also die Risikoübernahme des Unternehmers.199 Dabei wird davon ausgegangen, dass der Unternehmer auch zugleich der Eigentümer des Unternehmens |66| ist, was auch mit dem Ausdruck «Eigentümer-Unternehmer»200 bezeichnet wird. Selbstverständlich ist jedoch auch eine «Differenzierung in Unternehmer und Kapitalgeber»201 möglich. Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass die hier untersuchten Unternehmer für ihre patriarchal geprägte Lösung der sozialen Frage immer die Situation eines Eigentümer-Unternehmers voraussetzten.202