Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts

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3.2 Gründe für die Erforschung christlicher Unternehmer

Welches sind nun mögliche Gründe, die dazu geführt haben, christliche Unternehmer wissenschaftlich zu erforschen?

Ein erster Grund liegt darin, dass in den letzten 20 Jahren vermehrt nach dem Verhältnis der Kirchen zur Wirtschaft, insbesondere zu Unternehmen und Unternehmern gefragt wurde.203 Gerade auch die Denkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands «Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive» (2008) gibt davon beredtes Zeugnis; so heisst es dort, es brauche «überzeugende, glaubwürdige und tatkräftige Unternehmer und ein positives Leitbild für unternehmerisches Handeln»204. Doch nicht erst in den letzten 20 Jahren wurde nach dem Verhältnis von christlichem Glauben und Wirtschaft gefragt. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Max Weber mit seinem religionssoziologischen Aufsatz «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus»205 eine bis in die Gegenwart intensiv und kontrovers diskutierte These zum Verhältnis von protestantischem Glauben und Wirtschaft aufgestellt.206 Auch wenn diese These nicht direkt das Verhältnis zwischen christlichen |67| Unternehmern und Kirchen thematisiert, so verdient sie dennoch – nur schon wegen ihrer grossen Bekanntheit und vielfältigen Rezeption vor allem des «‹Idealtypus› des kapitalistischen Unternehmers»207 – hier erwähnt zu werden. Die sogenannte Max-Weber-These besagt, dass der Calvinismus und insbesondere bestimmte Formen des Pietismus und Methodismus der geistige Nährboden für die Entwicklung des Kapitalismus gewesen seien. Dabei habe die Haltung der «innerweltlichen Askese»208 des calvinistisch geprägten Protestantismus zusammen mit einer religiös verstandenen Berufsausübung den Kapitalismus vielfach begründet und befördert. Es ist also dieser Zusammenhang – das vermehrte Fragen nach dem Verhältnis der Kirchen zur Wirtschaft –, das auch verstärkt zu einer Analyse christlicher Unternehmer geführt hat.

Ein weiterer Grund, der die Analyse christlicher Unternehmer beförderte, liegt in der intensivierten wissenschaftlichen Untersuchung des «sozialen Protestantismus».209 Als konkrete Beispiele von in diesem Umfeld entstandenen Werken sei hier sowohl die Monographie210 über den christlichen Unternehmer Carl-Ferdinand Stumm (1836–1901) sowie ein soeben erschienener Sammelband211 mit zahlreichen Porträts christlicher Unternehmer aus Mitteldeutschland genannt. |68|

Zudem lässt sich auch ein vermehrtes wissenschaftliches Interesse an der Erforschung von Unternehmern beobachten,212 ein Interesse, das sich auch in der Forderung äussert, Unternehmensarchive als Kulturgut zu behandeln und dementsprechend zu schützen.213

Doch nicht nur Unternehmensarchive wurden als Kulturgüter entdeckt, auch die industriellen Objekte selbst wurden zunehmend als Kulturgüter erkannt und infolgedessen eine «Industriedenkmalpflege» gefordert.214 Selbstverständlich hat die Industriedenkmalpflege per se nicht direkt zur wissenschaftlichen Analyse christlicher Unternehmer geführt, sie ist aber offensichtlich ein weiterer wichtiger Grund, welcher im thematischen Zusammenhang mit der Erforschung christlicher Unternehmer steht.

3.3 Beispiele christlicher Unternehmer in Deutschland

Welche konkreten Beispiele bereits erforschter christlicher Unternehmer gibt es nun? Im Folgenden werden christliche Unternehmer porträtiert, die in der Forschung gründlich untersucht worden sind. Dabei soll vorerst auf Beispiele aus dem Protestantismus, anschliessend auf solche aus dem Katholizismus eingegangen werden. In der Zeit vor 1870 sind im Protestantismus in Deutschland215 unterschiedliche Lösungsansätze zu beobachten, mit denen versucht wurde, auf die soziale Frage mit dem Konzept einer christlichen Fabrikgestaltung zu antworten. Die propagierten Lösungen beinhalteten anfänglich |69| zumeist Aspekte genossenschaftlicher Selbsthilfe.216 Die beiden prominentesten Persönlichkeiten, die in diesem Zusammenhang erwähnt werden, sind Carl Mez (1808–1877) und Gustav Werner (1809–1887)217. Der süddeutsche Pietist Mez war politisch als Abgeordneter in der badischen Kammer engagiert und versuchte als Unternehmer «den Privatkapitalismus durch das Experiment einer Genossenschafts- bzw. Bundesfabrik zu überwinden».218 Der württembergische Radikalpietist Werner hingegen wollte durch eine «eigenwillige christokratische Begründung»219 die Grossindustrie mit dem Reich Gottes zusammenbringen. Es gelang ihm jedoch trotz grossem Engagement und vielen Spenden nicht, Gewinn zu erwirtschaften, und so musste er seine Unternehmen in gemeinnützige Stiftungen umwandeln.

Es gab jedoch nicht nur Versuche, die soziale Frage mit Hilfe genossenschaftlicher Ideen zu lösen. Die überwiegende Mehrzahl der christlichen Unternehmer war nämlich der Überzeugung, dass sie als christliche Unternehmer mit dem Konzept des Patriarchalismus auf die soziale Frage antworten sollten. Nur wenige christliche Unternehmer zeigten Ansätze, die über den Patriarchalismus hinausgehen.220 Ein prominenter und auch kämpferischer Vertreter eines solchen Patriarchalismus war der bereits erwähnte Carl-Ferdinand Stumm (1836–1901).221 Stumm gehörte – zusammen mit Sarasin – zu den Initiatoren der Bonner Konferenz.222 Auch der bereits erwähnte christliche |70| Unternehmer Ernest Mehl kann als Vertreter des Patriarchalismus gesehen werden. Mehl hat sich vor allem mit betrieblicher Sozialpolitik für seine Arbeiter engagiert, gerade auch weil er in der patriarchalen Fürsorge für seine Arbeiter eine Möglichkeit zur Missionierung sah.223 Ähnlich patriarchal dachte auch der christliche Unternehmer Carl Bolle (1832–1910) in Berlin – genannt «Bimmel-Bolle» – welcher sich ebenfalls mit Frömmigkeit und betrieblicher Sozialpolitik profilierte.224

Neben diesen gut erforschten, christlichen Unternehmern gibt es im Protestantismus unzählige weitere, deren Betriebsführung jedoch nicht direkt mit dem Christentum in Verbindung gebracht wird,225 oder auch solche, die noch nicht derart gründlich wie die oben genannten untersucht worden sind, aber in der Forschung erwähnt werden.226 |71|

Auch im Katholizismus gab es viele Versuche, auf die soziale Frage mit einer christlichen Fabrikgestaltung zu reagieren.227 Anknüpfungspunkt für eine christliche Fabrikgestaltung waren im Katholizismus meist nicht genossenschaftliche Ideen oder der Patriarchalismus, wie im Protestantismus, sondern «Humiliatenbruderschaften, d. h. fromme Laien, Männer und Frauen und solche, die in ihren Familien ein religiöses Leben führten»228. Im Katholizismus sind daher verschiedene Versuche einer klösterlichen Gestaltung des Fabrikwesens zu beobachten.229 Grundsätzlich fokussierten sich die Initiativen zur Gründung christlicher Fabriken im Umfeld des Katholizismus weniger auf die Person eines christlichen Unternehmers, sondern vielmehr auf die Institution der Fabrik. So steht denn in einer der gründlichsten Untersuchungen zur christlichen Fabrikgestaltung im Katholizismus auch nicht ein einzelner christlicher Unternehmer im Zentrum, sondern die «Firma Villeroy & Boch als Modell [einer] christlich inspirierten betrieblichen Institution»230. Selbst­verständlich spielte «die religiös-christliche Orientierung der Fabri­kanten­familie»231 eine zentrale Rolle bei der Schaffung der christlich inspirierten betrieblichen Wohlfahrtsinstitutionen, eine Fokussierung auf eine Einzelperson als christlichen Unternehmer fand jedoch nicht statt. Ein weiteres herausragendes Beispiel einer christlichen Fabrik ist die Textilfabrik des französischen Industriellen Léon Harmel (1829–1915). Harmel schuf in seinem Betrieb eine beeindruckende Vielfalt an Wohlfahrtseinrichtungen, von ihm kamen ausserdem wichtige Impulse für die Entwicklung der katholischen Soziallehre.232 Selbstverständlich gibt es wie im Protestantismus auch im Katholizismus unzählige weitere Beispiele christlicher Unternehmer, beispielsweise den Textilfabrikanten und Vorsitzenden des Verbandes katholischer Industrieller |72| Franz Brandts (1834–1914);233 auf sie kann in diesem Rahmen jedoch nur am Rand hingewiesen werden.

 

3.4 Beispiele christlicher Unternehmer in der Schweiz

Welche Beispiele christlicher Unternehmer gibt es in der Schweiz? Da bislang in der Forschung nicht umfassend nach christlichen Unternehmern in der Schweiz gefragt worden ist, können hier lediglich einige Beispiele christlicher Unternehmer aufgeführt werden, die bereits wissenschaftlich erforscht wurden. Dabei bleiben diejenigen Unternehmer, die Mitglied des SABBK waren und daher im folgenden Kapitel dargestellt werden, hier unerwähnt, um Doppelungen zu vermeiden. Eine Zusammenstellung vieler Unternehmer des 19. Jahrhunderts bietet die Reihe «Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik»234. Die darin bereits untersuchten christlichen Unternehmer protestantischer Prägung sind beispielsweise Salomon Zellweger-Walser (1807–1887)235 und Ulrich Zellweger-Ryhiner (1804–1871)236. Es gibt aber noch viele weitere, die nicht explizit als christliche Unternehmer erforscht und bezeichnet worden sind.237 Ein Beispiel eines christlichen Unternehmers katholischer Herkunft ist – der schon erwähnte – Theodosius Florentini (1808–1865).238 Interessant wäre auch ein Blick in die Biographien solcher Unternehmer zu werfen, die sich nicht explizit als christliche Unternehmer verstanden haben und in der Forschung auch nicht als solche bezeichnet worden sind.239 |73|

3.5 Fazit

Die Diskussion christlicher Unternehmer im 19. Jahrhundert hat gezeigt, dass bereits eine Fülle wissenschaftlicher Forschung zum Thema vorhanden ist. Es fällt allerdings auf, dass dennoch bis anhin nur wenige versucht haben zu definieren, was unter einem christlichen Unternehmer verstanden werden kann. In der vorliegenden Arbeit wird unter einem christlichen Unternehmer eine initiative Persönlichkeit verstanden, die Risiken auf sich nimmt und gestaltet und sich dabei sowohl in seinem Betrieb wie auch in Kirche, Politik und Gesellschaft sozial engagiert, insbesondere um die negativen Begleiterscheinungen der Industrialisierung zu bekämpfen. Das Konzept des christlichen Unternehmers muss nicht zwingend auf eine Einzelperson beschränkt sein und kann beispielsweise den Ehepartner oder eine klösterliche Gemeinschaft miteinschliessen. Obgleich die christlichen Unternehmer unterschiedlichen theologischen Richtungen angehören können, sind sie doch vornehmlich dem theologisch konservativen und erwecklich-pietistischen Lager zuzuordnen, weshalb meist eine explizite christliche Motivation zu beobachten ist.

Die Gründe für die Erforschung christlicher Unternehmer sind vielfältig: Sie reichen von der intensivierten Forschung zum sozialen Protestantismus über das Interesse an der Industriekultur bis hin zur aktuellen Diskussion des Verhältnisses der Kirchen zur Wirtschaft. Fragt man nach Beispielen wissenschaftlich erforschter christlicher Unternehmer im 19. Jahrhundert, stösst man auf viele Untersuchungen in Deutschland, sowohl aus dem Protestantismus als auch dem Katholizismus, jedoch nur auf wenige in der Schweiz. Die vorherrschende sozialpolitische Haltung christlicher Unternehmer ist der Patriarchalismus. Nur wenige der untersuchten Unternehmer – als originelles Beispiel sei Ernst Abbe genannt – zeigen darüber hinausgehende Konzepte zur Lösung der sozialen Frage.

Im folgenden Kapitel soll nun gefragt werden, welche Impulse christliche, insbesondere protestantische Unternehmer in der Schweiz, von der Inneren Mission erhalten haben. Dazu wird nachgezeichnet, wie sich unter anderem protestantische Unternehmer der Schweiz ein erstes Mal am Kongress für Innere Mission 1869 in Stuttgart über die soziale Frage verständigten und wie sich schliesslich der SABBK formierte. Ihre sozialpolitische Haltung sowie die (christlichen) Motive ihres Engagements soll dabei zentral beleuchtet werden. |74|

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4. Impulse aus der Inneren Mission für die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage in der Schweiz

Wie im 2. Kapitel gezeigt wurde, fand in den Kirchen und insbesondere im schweizerischen Protestantismus des 19. Jahrhunderts eine intensive und vielfältige Auseinandersetzung mit der sozialen Frage statt. Von Seiten des schweizerischen Protestantismus wurde den Unternehmern eine zentrale Rolle bei der Lösung der sozialen Frage zugedacht, da die sozialpatriarchale Haltung, insbesondere bei den erwecklich-pietistisch geprägten Bekenntnistreuen, sehr verbreitet war. In jener Zeit ist deshalb auch das Wirken einiger christlicher Unternehmer – wie im 3. Kapitel gezeigt – zu beobachten. Es wurde deutlich, dass diese christlichen Unternehmer bei allen gemeinsamen, sozialpolitischen Überzeugungen auch unterschiedlich dachten und handelten. Wie bereits im 2. Kapitel angedeutet wurde, versuchte die Innere Mission den negativen Auswirkungen der Industrialisierung mit verschiedenen Initiativen zu begegnen. Wichtig war dabei vor allem die Gewinnung von Unternehmern für ihre volksmissionarischen, diakonischen und sozialpatriarchalen Anliegen. Im Folgenden soll nun ausführlich dargestellt werden, wie die Innere Mission auf die soziale Frage reagierte, insbesondere welche konkreten Impulse eine Gruppe von Unternehmern durch jene erhielt. Dazu wird untersucht, wie es zur Bonner Konferenz für die Arbeiterfrage und zur Bildung des SABBK kam, welche Schweizer Unternehmer darin involviert waren und welches deren sozialpolitisches Profil war. Dazu wird vorerst diskutiert, wie die Innere Mission grundsätzlich auf die soziale Frage reagierte, indem die Debatte zur sozialen Frage am Kongress für Innere Mission 1869 in Stuttgart beleuchtet wird. Als nächstes wird dargelegt, wie im Winter 1870 in Berlin eine «Konferenz für die Arbeiterfrage» vorbereitet wurde, wer im Juni 1870 in Bonn an dieser Konferenz teilnahm und referierte und welche sozialpolitischen Haltungen dabei propagiert wurden. Dann wird die Gründung und Ausrichtung der Zeitschrift Concordia beschrieben, um in einem nächsten Schritt Zusammensetzung |76| und Ausrichtung des SABBK darzustellen. Schliesslich wird gezeigt, wie der SABBK in die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft aufgenommen wurde und sich kurz danach auflöste. Sodann werden in einem Fazit die zentralen Resultate zusammengefasst.

4.1 Innere Mission und soziale Frage

Johann Hinrich Wichern (1808–1881) hat die evangelische Christenheit in Deutschland nicht nur auf die soziale Frage aufmerksam gemacht, er hat mit der Inneren Mission gleichzeitig ein programmatisches Konzept lanciert, mit dem dieser sozialen Frage begegnet werden sollte.240 Er entwarf dazu «ein breit angelegtes Reformkonzept […], welches Gedanken der Volksmission, der kirchlichen Diakonie und in Ansätzen auch der staatlichen Sozialreform umfasste»241. In seiner Denkschrift «Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche» skizzierte Wichern sein Verständnis der Inneren Mission als einer inneren und äusseren Erneuerung der Christenheit: «Als innere Mission gilt uns nicht diese oder jene einzelne, sondern die gesamte Arbeit der aus dem Glauben an Christum geborenen Liebe, welche diejenigen Massen in der Christenheit innerlich oder äusserlich erneuern will, die der Macht und Herrschaft des aus der Sünde direkt oder indirekt entspringenden mannigfachen äusseren und inneren Verderbens anheimgefallen sind, ohne dass sie, so wie es zu ihrer christlichen Erneuerung nötig wäre, von den jedesmaligen geordneten christlichen Ämtern erreicht werden.»242

Wichern hat der Inneren Mission nicht nur ein programmatisches Konzept gegeben, sondern auch die Bildung einer eigenständigen Organisation für die Anliegen der Inneren Mission angeregt. Diese Organisation wurde Centralausschuss genannt und «sollte koordinierende Aufgaben übernehmen, Arbeitsbereiche zusammenführen, Arbeitsfelder erschliessen.»243 Die Mitglieder des Centralausschusses waren bekannte Persönlichkeiten aus dem kirchlichen |77| und politischen Leben, die als Freunde der Inneren Mission deren Anliegen unterstützten.

Der Centralausschuss sollte die bestehenden Vereine und Anstalten der Inneren Mission fördern, innovativ neue Projekte erarbeiten, durch volksmissionarische Schriften für die Ideen der Inneren Mission werben und Mitarbeiter ausbilden.244 Tatsächlich wuchs denn die Zahl der Vereine und Anstalten unter der Leitung des Centralausschusses auch stark an, gefördert wurden «Rettungshäuser, Jünglingsvereine, verschiedene Erziehungsanstalten, Häuser für die Gefangenenfürsorge und der Ausbau des Herbergswesens»245. Doch auch wenn die Innere Mission einen wachen Blick für den sozialen Wandel der Zeit hatte und ihre eindrücklichen diakonischen Initiativen in mancherlei Hinsicht als Reaktion auf die Industrialisierung verstanden werden kann, so war sie doch sehr zurückhaltend, die soziale Frage auch als sozialpolitisches Problem zu begreifen.246 Vielmehr reagierte sie mit volksmissionarischen Konzepten und diakonischen Einrichtungen auf die soziale Frage. So hatte Wichern zwar erkannt, dass die Ursache der sozialen Frage, insbesondere der Massenarmut, nicht lediglich in der Sünde des Einzelnen, sondern auch in der Industrialisierung und den veränderten Arbeitsverhältnissen zu sehen war. Dennoch propagierte er eine Lösung der sozialen Frage durch sozialdiakonische Initiativen und sozialpatriarchal orientierte Unternehmer, ohne sich grundsätzlich mit den Ursachen der sozialen Frage zu beschäftigen.247 Nur vereinzelt lancierte Wichern Diskussionen um die soziale Frage und sozialpolitische Lösungsmöglichkeiten, wie beispielsweise an der kirchlichen Oktoberversammlung |78| von 1871.248 Dort hielt er das Hauptreferat zum Thema «Die Mitarbeit der evangelischen Kirche an den socialen Aufgaben der Gegen­wart»249, welchem das Korreferat «Rede zur Socialen Frage»250 des Berliner Nationalökonomen Adolph Wagner (1835–1917)251 folgte. Während Wichern in seiner Rede keine neuen, innovativen Lösungsvorschläge zur sozialen Frage vor­legte,252 entfaltete Wagner dagegen in seiner Rede eine «staatssozialistische So­­zialreform, wie sie später im Kaiserreich diskutiert wurde».253

Im Folgenden soll nun dargestellt werden, wie sich die Innere Mission bereits 1869 in Stuttgart mit der sozialen Frage befasste und inwiefern Schweizer Unternehmer involviert waren.

4.2 Kongress für Innere Mission 1869 in Stuttgart

Ausgehend vom Wittenberger Kirchentag (1848) fanden bis 1869 insgesamt fünfzehn Kirchentage statt.254 Gleich im Anschluss an den Kirchentag tagte jeweils der Kongress für Innere Mission. Der fünfzehnte Kirchentag wurde vom 31. August bis 3. September 1869 in Stuttgart veranstaltet, der Kongress für Innere Mission fand an den letzten beiden Tagen, vom 2. bis 3. September, statt.255 Am zweiten Tag des Kongresses wurde über die soziale |79| Frage debattiert. Der Nationalökonom Erwin Nasse (1829–1890)256 hielt das Hauptreferat zum Thema «Der Antheil der inneren Mission an der Lösung der Arbeiterfrage»257. Im Anschluss an Nasses Vortrag gaben die drei Unternehmer Johannes Quistorp (1822–1899)258, Karl Sarasin und Christoph Dieterlen (1818–1875)259 ihre Voten ab, in denen sie ihre je eigene Lösung der sozialen Frage präsentierten.

 

In der Debatte der Inneren Mission mit der sozialen Frage spielte Nasse eine zentrale Rolle. Er hat «in den sechziger Jahren des 19. Jhs. nationalökonomische Vorstellungen in den sozialen Protestantismus und insbesondere in die Innere Mission getragen»260. Ab 1871 war Nasse bis zu seinem Tod Vorsitzender des «Vereins für Sozialpolitik», wie der Zusammenschluss der Kathedersozialisten261 auch genannt wurde.262 In der Zeit vor dem Kongress für Innere Mission korrespondierte Nasse mit Wichern und Sarasin, um mit ihnen sein Referat abzusprechen. Nasse schrieb Wichern, dass sein Zugang vornehmlich |80| ein nationalökonomischer und kein theologischer sei. Zum Inhalt des geplanten Referates notierte er: «Meine Absicht ist nun [auf] dem weiten Gebiet der sogen. Arbeiterfrage den Punkt vorzugsweise hervorzuheben, der mir der Kernpunkt zu sein scheint, die Bestimmung des Lohnes der gemeinen Lohnarbeit.»263 Während Nasse Wichern lediglich über Inhalt und Absicht seines Referats informierte, korrespondierte er mit Sarasin eingehender und berücksichtigte auch einige Gedanken aus einem Vortrag, den Sarasin ihm zugeschickt hatte. Im Wissen um seinen theoretischen und nationalökonomischen Blickwinkel schrieb er Sarasin: «Es freut mich sehr, dass Sie nach mir sprechen werden. Ich habe als Gelehrter doch mehr einen Überblick der ganzen Frage mit den verschiedenen in Betracht kommenden Momenten zu geben, als praktische Vorschläge zu machen. Es ist gewiss von grossem Nutzen, wenn in dieser Hinsicht Männer des praktischen Lebens das Wort ergreifen.»264 Nasses Referat war in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil diskutierte er mögliche sozialpolitische Ursachen der sozialen Frage. Er warf darin dem Staat vor, seine Verantwortung nicht wahrgenommen zu haben: «Man hatte in den Ländern Europas, welche in industrieller Entwicklung den übrigen vorangegangen sind, leider während der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts alle diese Nachtseiten des Fabrikwesens sich ungestört entwickeln lassen, als wenn keine Staatsgewalt existierte, die die Pflicht hätte, die Kinder vor gewissenloser Ausbeutung und vor dem sichern Verderb durch ihre eigenen Eltern zu schützen, die Fabrikanten zu den nothwendigen Einrichtungen für den Schutz von Gesundheit und Leben der Arbeiter anzuhalten, und überhaupt für öffentliche Gesundheitspflege zu sorgen.»265 Nasse führte zudem aus, dass die Unternehmer als Käufer von Arbeitsleistung eine viel komfortablere Stellung als die Arbeiter hätten. Es bestehe deshalb ein Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage, was wiederum das Verhältnis zwischen Unternehmer und Arbeiter trübe. Im zweiten Teil seines Referates legte Nasse verschiedenste Lösungsansätze vor, welche von der Gewinnbeteiligung der Arbeiter über genossenschaftliche Ideen bis hin zur Schaffung von Konsumvereinen reichten. Am vehementesten propagiert Nasse zur Lösung der sozialen Frage die Stärkung der Beziehung zwischen Unternehmer und Arbeiter. Diese Beziehung müsse mehr sein als die eines Käufers und Verkäufers: «Aus alledem geht Eins bis zur Evidenz hervor, dass Arbeitgeber und Arbeiter sich nicht blos[s] als Käufer und Verkäufer von Arbeitsleistungen gegenüber stehen sollen, dass eine viel tiefere Gemeinschaft zwischen ihnen besteht, die auch bei der Bestimmung des Lohns nicht ungestraft ausser Acht gelassen |81| werden darf und dass noch andere sittliche Kräfte in diesen Verhältnissen walten müssen, als der Wunsch, möglichst theure Arbeitsleistungen zu verkaufen, auf der einen, möglichst wohlfeil zu kaufen, auf der andern Seite.»266 Im Gegensatz zu der auch in der Inneren Mission weit verbreiteten sozialpatriarchalen Auffassung, die Gottlosigkeit der Unternehmer und insbesondere jene der Arbeiter sei die Ursache der sozialen Frage, vertrat Nasse vehement die Überzeugung, dass es wirtschaftliche und soziale Gründe waren, die zur sozialen Frage führten. Diese Gründe müssten zuerst mittels staatlicher Intervention beseitigt werden und erst danach sei eine Christianisierung möglich: «Aber wir dürfen nicht vergessen, dass der Ausbreitung des Evangeliums in den Kreisen, um die es sich hier handelt, vor Allem auch äussere Hindernisse wirthschaftlicher und socialer Art im Wege stehen, und dass es unsere Sache ist, zur Wegräumung derselben nach den Mitteln zu suchen und zu greifen, welche die gegenwärtige wirthschaftliche Entwicklung unseres Volkslebens darbietet.»267 Insofern sind bei Nasse Ansätze der sozialkonservativen Haltung zu beobachten. Zurückhaltender als die Innere Mission gab sich Nasse in der Frage, aus welchen Quellen die Lösung der sozialen Frage ihre Kraft und Motivation schöpfen solle. Indirekte Anspielungen auf eine Lösung aus dem Geiste des Christentums268 wechselten sich dabei mit Nützlichkeitsüberlegungen ab, bei denen Nasse argumentierte, dass es auch im Eigeninteresse der Unternehmer läge, die soziale Frage zu lösen.269 Entgegen der Kritik an der Passivität des Staates und trotz seiner nach eigener Aussage nationalökonomischen Analyse der sozialen Frage spielte für Nasse dennoch die patriarchale Fürsorge eine zentrale Rolle. Denn nur diese ermögliche eine Befriedung des Verhältnisses zwischen Unternehmer und Arbeiter: «Um aber nun zu unserem Ausgangspunkte zurückzukehren, so ist gewiss zu erwarten, dass durch eine uneigennützige Fürsorge für die geistige und materielle Hebung der Lohnarbeiter, wenn sie vom Lohnherrn ausgeht, das ganze Verhältnis noch einen anderen Inhalt gewinnen werde, als das eines Käufers und Verkäufers von Arbeitsleistungen.»270 In der patriarchalen Fürsorge des Unternehmers sah Nasse die Voraussetzung für den Aufbau einer persönlichen Beziehung zum Arbeiter und somit eine Bedingung für die Lösung der sozialen Frage. Durch |82| seine Fokussierung auf diese persönliche Beziehung propagierte Nasse dieselben Lösungsvorschläge wie die Innere Mission, insbesondere wie die in der Inneren Mission engagierten Unternehmer.

Wichern äusserte sich zustimmend zu Nasses Referat, indem er dessen fachliche Kompetenz rühmte und auch die theologische Richtigkeit des Re­­ferates unterstrich. Nasse sei ein Mann, der «bei gründlichster fachlicher Kenntnis zugleich das Bewusstsein des Einen Nothwendigen habe»271. Die Fliegenden Blätter, das von Wichern redigierte, offizielle Publikationsorgan der Inneren Mission, berichteten anerkennend über den «inhaltreichen» Vortrag.272 Die Zusammenfassung des Vortrages in den Fliegenden Blättern wich jedoch deutlich von Nasses gedrucktem Vortrag ab: Die Wortwahl war eine eindringlichere und der Patriarchalismus als Lösung der sozialen Frage nahm mehr Raum ein. Nasse beginne mit einer wirtschaftlichen Überlegung zur Lohnberechnung und gehe dann über zu seiner Sozialreform, welche ein klar patriarchales Gepräge habe. Obwohl er den Staat dafür anklage, nicht eingeschritten zu sein,273 appelliere er jedoch keineswegs an den Staat, die soziale Frage zu lösen, sondern an die Unternehmer: «Eine Hauptaufgabe zur Erziehung der Arbeiter mitzuwirken, fällt jedenfalls den Arbeitgebern zu, darnach Allen, die nach ihrer Stellung auf Jene einzuwirken Gelegenheit haben. Vor allem tut Not, in den Besitzenden, als Haushaltern eines geliehenen Pfundes das Bewusstsein ihrer heiligen Verpflichtung zu wecken und zu kräftigen. Jedoch auch ihr eigenes Interesse mag sie bewegen, ihr Verhältnis zu den Arbeitern je mehr und mehr zu einem väterlich fürsorglichen zu gestalten.»274

In der Debatte im Anschluss an Nasses Referat präsentierten drei «Fabrikherren, welche auf die Aufforderung des Central-Ausschusses sich eingefunden hatten», ihre Lösungsansätze der sozialen Frage.275 Alle drei Votanten unterstützten grundsätzlich Nasses Referat, wiesen aber zugleich sehr deutlich darauf hin, dass das Anliegen der Inneren Mission, nämlich eine Lösung der sozialen Frage durch Christianisierung, viel zu kurz gekommen sei. So lobte Quistorp in seinem Votum lediglich die fachliche Seite des Referats und bemängelte, dass Nasse die Nationalökonomie zu stark, die religiöse Seite |83| aber viel zu wenig betont habe.276 Um dieses Defizit zu kompensieren, präsentierte Quistorp in einem 13-seitigen Korreferat optimistisch seine als Unternehmer praktizierte Lösung der sozialen Frage durch betriebspatriarchale Bestrebungen. Er sah im Zusammengehen von Christentum und Fabrikwesen eine grosse Chance und viele Vorteile: «Der leitende Grundsatz bei den von mir getroffenen Einrichtungen ist von Anfang an der gewesen: das im Allgemeinen ziemlich verkannte und namentlich in christlichen Kreisen mit grossem Misstrauen angesehene Fabrikwesen zu Ehren bringen zu helfen, und den thatsächlichen Beweis zu führen, dass mit derartigen Unternehmungen christliche Zucht, Sitte und Ordnung sich nicht nur sehr wohl vereinigen, sondern sogar fördern lassen. Die Geschäftsdevise meiner Fabrik lautet: An Gottes Segen ist Alles gelegen.»277 Quistorp war der festen Überzeugung, dass Gottes Segen in seiner eigenen Fabrik reichlich vorhanden sei und gerade in der betrieblichen Sozialpolitik sichtbar werde. Quistorps sozialpatriarchale Initiativen reichten von der Errichtung einer Schule für die Kinder der Arbeiter über die Einführung einer Kranken-, Witwen-, Sterbe- und Unterstützungskasse bis zum Bau einer Bibliothek, einer Kegelbahn und Wohnungen für die Arbeiter. Mit diesen Bestrebungen wollte Quistorp nicht nur das Christentum fördern, er war auch der Ansicht, der geschäftliche Erfolg liesse sich damit steigern. Zur Begründung der betrieblichen Wohlfahrtseinrichtungen zog er deshalb ganz selbstverständlich auch Nützlichkeitsüberlegungen heran und erhoffte sich durch seine betriebliche Sozialpolitik durchaus eine Steigerung des Gewinns. Quistorp teilte mit Nasse die Auffassung, dass Nützlichkeitsüberlegungen und die durch betriebliche Sozialpolitik geübte Nächstenliebe sich nicht konkurrenzieren müssten, sondern sich gegenseitig positiv ergänzen könnten: «Abgesehen von dem nicht unerheblichen materiellen Gewinn, den sie mehr oder weniger alle davon haben, ist auch der Geist brüderlicher Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit wesentlich dadurch gefördert, und im gleichen Maasse auch das Interesse für die Fabrik gesteigert worden, so dass Alle willig und mit Lust und Liebe auf ihrem Platze arbeiten, also selbst |84| verständlich auch mit Nutzen und Vortheil für die Fabrik.»278 Quistorp äusserte sich allerdings nicht dazu, wie er sich verhielte, wenn christliches Anliegen und Gewinnsteigerung sich nicht gegenseitig unterstützen würden. In Übereinstimmung mit Nasse betonte er, wie wichtig die persönliche Beziehung zwischen dem Unternehmer und seinen Arbeitern sei. Quistorps Schilderung dieser Beziehung trägt jedoch noch stärker sozialpatriarchale Züge: Ein «christlicher Fabrikbesitzer […], exponiere sich, er scheue sich nicht […] in die Wohnung der Leute zu gehen; und er wird den Segen in dem persönlichen Verhältnis zu seinen Leuten sehr bald wahrnehmen. Summa summarum: man habe ein Herz für seine Leute, und sie werden wieder ein Herz für uns haben.»279

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