Loe raamatut: «Die Sprachlosigkeit der Fische»
Margit Mössmer
Die Sprachlosigkeit
der Fische
Roman
Der Tag, an dem Doktor Jorge Oswaldo Muñoz bei dem Hahn des Nachbarn Alzheimer diagnostizierte
Als ich von der alten Kathedrale kommend die Calle Luis Rosas erreichte, sah ich Doktor Jorge Oswaldo Muñoz, den Arzt und Fabrikleiter, zum ersten Mal. Er stand in eine weiße ecuadorianische Morgensonne getaucht vor dem Café, in dem er mich treffen sollte, und unterhielt sich mit einem Mann im Coca-Cola-Overall, der ein Bein auf eine Sackrodel mit Leergut gestellt hatte und sich mit einer Hand immer wieder auf den Oberschenkel klopfte, weil ihn die Worte des Doktors so amüsierten. Jorge stand mit dem Rücken zu mir, aber ich konnte sehen, wie er dem Cola-Mann auf den Oberarm boxte, woraufhin der Mann seinen Kopf in den Nacken warf und laut auflachte. Einige Sekunden blieb ich hinter dem Männerpaar stehen, überlegte, den Doktor an der Schulter anzutippen:
Jorge?
Doch da drehte er sich schon zu mir um. Er sah viel besser aus, als ich erwartet hatte. Meine Mutter meinte, er hätte die besten Zeiten bereits erlebt, doch er war gut beisammen, sportlich gekleidet, trug eine Sonnenbrille und einen Haarschnitt wie Michael Douglas in jungen Jahren.
»Kindchen!«, drückte er mich an sich heran. »Du bist da!«
»Hola Jorge, mucho gusto.« Ich ließ die feste Umarmung dieses Fremden geschehen, und es war mir nicht unangenehm.
Er stellte mich dem Mann im Overall als Nichte vor. Der schüttelte mir begeistert die Hand, witzelte ein paar Worte in einem Spanisch, das ich nicht verstehen konnte, stieg in seinen Lieferwagen und fuhr davon.
»Wer war das?«
»Der Cola-Mann.«
Wir setzten uns an einen der drei Tische des Cafés, das zur Straße hin keine Mauer hatte. Es war zugeräumt mit religiösen Statuen und Plastikblumen, an den Wänden hingen alte Stadtaufnahmen und Werbeplakate des Präsidenten. Jorge bat den greisen Besitzer, das Radio leiser zu machen.
»Das ist meine Nichte!«, schrie er den Alten an.
»Es stört dich doch nicht, dass wir hier einen auf Onkel und Nichte machen, oder?«
»Nein, schon okay. Ist ja auch irgendwie …«
»Sie kommt aus Europa!«, schrie er.
Der Alte tat, als würde er verstehen, und servierte uns ungefragt mit Frischkäse bestrichene Brote zum Kaffee. »Oye papito, dein Brötchen hier hat aber schon mehr Jahre auf dem Buckel als deine Alte, was?« Jorge lachte, der Mann lachte, ich beschloss, auf das Brötchen zu verzichten.
»Der Flug war gut?«
»War okay.«
»Sehr gut, sehr gut. Wie lange bleibst du hier?«
»Zwei Wochen.«
»Zwei Wochen! Das ist ja keine Zeit für dieses Land.«
»Ich bin ja wirklich nur hier, um …«
»Ja, Kindchen, deine Mutter hat es mir geschrieben. Aber ehrlich, ich habe keine Ahnung, wo Gerda steckt.«
»Ich weiß, das hat Mama auch schon gesagt. Niemand weiß es.«
»Niemand.«
»Sie hat mir aber auch gesagt, dass du sie am besten kennst.«
»Ach ja? Ich weiß nicht, ob man Gerda am besten kennen kann. Papito, das Radio!«
»Vielleicht könntest du mir sagen, wo du sie zuletzt gesehen hast, und ich könnte dann versuchen …«
»Noch ein bisschen warme Milch, Väterchen, por favor!«
»Ich dachte, wenn ich erst mal hier bin …«
»Ich glaube nicht, dass sie noch in Ecuador ist.«
»Wann hast du sie denn zuletzt gesehen?«
»Lass mich nachdenken.«
Auf der Milch im Porzellankännchen hatte sich eine dünne Haut gebildet. Er schob sie mit einem Löffel zurück und ließ das dampfende Weiß in seinen Kaffee laufen. Er bemerkte die Zigarettenschachtel, die vor mir auf dem Tisch lag, doch ehe ich ihm eine Zigarette anbieten konnte, schüttelte er den Kopf, als wollte er einen lästigen Gedanken loswerden. Er sah mich an, klopfte die Steinzeitbrösel, die in seinen Schoß gefallen waren, von der Hose, sah mich wieder an, nahm einen Schluck und stellte die Tasse ab:
»Ich weiß es nicht. Ich kann dir nicht sagen, wann ich sie zuletzt gesehen habe. Ich weiß, wann ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Das war bei mir zu Hause in Quinindé. Gerda ist mir quasi zugelaufen! Du weißt ja, meine Frau María Luz und ich, wir haben uns da draußen ein kleines Grundstück gekauft, damals. Gott, waren wir jung, ein paar Hektar Palmen, ein paar Mulis, eine Handvoll Arbeiter. Kaum jemand kannte die Gegend, kaum jemand hatte sich jemals dorthin verirrt. Ich erinnere mich an diesen regnerischen Tag. Es war ein Tag wie jeder andere. Das heißt, das stimmt so nicht, es war der Tag, an dem ich beim Hahn meines Nachbarn Alzheimer diagnostizierte. Eine Diagnose, die ich noch nie zuvor jemandem gestellt hatte. Doch ich konnte mir nur so erklären, warum das Tier den halben Tag lang krähte. Meine Theorie war, dass es deshalb unaufhörlich krähte, weil es dachte, es hätte noch nicht. Der Verwirrte begann in der Morgendämmerung zu krächzen, mehr oder weniger ordnungsgemäß. Doch dann hörte er bis zu sieben Stunden lang nicht mehr damit auf. Seine Stimmbänder waren völlig am Ende, sein Krähen war erbärmlich. Äußerlich sah man ihm nichts an. Sein Kamm leuchtete, sein Federkleid war dicht, er sah blendend aus. Er lebte umgeben von einer Schar kräftiger Hennen, einheitlich schwarz oder rötlich gefärbte Exemplare, deren Schenkel- und Brustmuskulatur ihm täglich entgegenquollen. Fortpflanzungstechnisch war nichts zu beanstanden. Manche der gallinas zogen einen Schwarm kleiner Federbüschel hinter sich her, flauschige Küken, die noch nichts verstehen konnten von der Welt. ›Und der Hahn selbst soll nun so einer sein? Einer, der nichts verstehen kann von der Welt?‹, fragte mein Nachbar. ›Sind Sie sicher, Doktor? Alzheimer?‹ Nun bin ich klarerweise kein Tierarzt, aber ja, auf gewisse Weise war ich mir sicher. Ich bat ihn, den Hahn zu fangen, damit ich ihm ein wenig Blut abnehmen konnte. Da stand auf einmal eine junge Frau in Gummistiefeln und Regenponcho vor dem Gartentor. Ja, ich erinnere mich an Gerdas knallgelben Regenponcho. Es nieselte nur ein wenig, also zog sie die Kapuze vom Kopf und kam näher. ›Buenos días, Señores. Entschuldigen Sie, ich kam gerade zufällig hier vorbei und wollte Sie fragen, ob Sie wissen, wem diese wunderbaren Palmen gehören. Sie sehen so ewiglich aus, wie vor hunderten von Jahren aus dem Boden gestoßen.‹
Ich war völlig perplex, so ein Kompliment bekomme ich nicht alle Tage, verstehst du? Und überhaupt, die Erscheinung dieser Gringa mitten auf unserer Hacienda … Wie hatte sie uns nur hier oben gefunden? ›Das sind meine Palmen‹, sagte ich viel zu kindisch zu ihr.
›Nun, dann möchte ich Ihnen gratulieren, Señor …‹
›Muñoz. Doktor Jorge Oswaldo Muñoz.‹
›Doktor?‹
›Arzt, ja.‹
›Mucho gusto.‹
›Gleichfalls Señora, das hier ist Samuel Cordero, mein Nachbar.‹
›Mucho gusto.‹
›Darf ich fragen, wie Sie sich hierher verirrt haben?‹
›Ich hörte ein ungewöhnliches Krähen, ein Krächzen eher. Da, dachte ich, kann ein Mensch auch nicht weit sein. Wissen Sie, ich würde mich sehr für ein kleines Abendessen interessieren, ich bin schon ziemlich lange unterwegs.‹
›Sie haben unseren Patienten gehört‹, sagte ich, ›der Gute hier hat Alzheimer.‹ Ich zeigte auf den Hahn, der uns unruhig umkreiste, und Gerda ging in die Hocke, um ihn anzusehen.
›Alzheimer? Das ist doch sehr ungewöhnlich für einen Hahn, oder nicht?‹
Während ich Gerda erklärte, wie ich zu dieser Diagnose gekommen war, streckte sie ihren Arm aus und strich mit flacher Hand über den Rücken des Tieres. Samuel, mein Nachbar, fuhr sich ungläubig durchs Haar und sah mich an, als wollte er sagen: Wie ist das möglich? Er kannte seinen Hahn nun seit neun Jahren. Nur mit äußerster Mühe konnte man ihn fangen, mit noch größerer Mühe festhalten. Er sah zu, wie Gerda das Tier in aller Ruhe streichelte, aufhob, begutachtete und schließlich wieder zu Boden ließ. Der Hahn ging lautlos durch die regennasse Erde, bis er den asphaltierten Weg zum Gartentor erreichte. Dort plusterte er sich auf und schlug mit lauten Klauenschlägen einige Male auf den Beton.
Gerda, Samuel und ich standen da und vergaßen plötzlich alles um uns herum. Wir waren nur noch von der Schönheit des Tieres beeindruckt. Seine gefleckten Schwanzfedern bewegten sich wie ein tropischer Farn, in einem weiten Bogen hängend, und sein Kamm war voll purpurnem Leben.
›Sehen Sie mal genauer hin, Doktor‹, sagte Gerda, ›dieser Hahn ist kerngesund. Ihm ist langweilig, das ist alles.‹
›Langweilig?‹
›Langweilig, fad, aburrido, bored to death.‹
›Woher wissen Sie das?‹
›Ich kenne mich ein bisschen aus mit Geflügel. Ich habe in meinem Leben bereits einige Hähne mit diesem Problem kennengelernt, glauben Sie mir. Es gibt sie überall, vor allem hier in Südamerika. Diese wunderschönen Tiere langweilen sich zu Tode. Für mich ist das zwar völlig unverständlich, denn ich kenne keine Langeweile, habe sie nie kennengelernt. Sie müssen sich diese Unkenntnis vorstellen wie bei einem Menschen, der noch nie Kopfweh oder einen Orgasmus hatte.‹«
»Das hat sie gesagt?«, unterbrach ich den Doktor.
»Quasi Wort für Wort. Ich merkte, dass Gerda versuchte, dem Tier noch einmal näherzukommen, doch sein verächtlicher Blick verunsicherte sie. Sie fragte: ›Haben Sie diesen Blick gesehen?‹ und blieb stehen. Da plusterte sich der Hahn auf, und sein Federkleid blendete uns in tausenden Farben schimmernd, so stark, dass wir unsere Augen bedecken mussten. Wir waren Zeugen einer Verwandlung. Der Gelangweilte wurde groß wie ein Schwein und bunt wie eine Disneyfigur. Dann lachte er über uns und verschwand im Dickicht.«
»Wie meinst du das, er wurde groß wie ein Schwein?«
»Na wie ein Schwein eben. Was wird denn so ein Schwein haben? Um die hundert Kilo vielleicht. Von diesem Tag an hörte er auf zu krähen, er war glücklich und zufrieden.«
»Nicht mehr gelangweilt?«
»Ganz und gar nicht.«
»Seltsame Geschichte.«
»Papito!«, rief der Doktor. »Bring uns doch noch zwei von deinen Steinzeitbrötchen! … Ich glaube, Gerda hat Europa vermisst. Sie hat mir viel von ihrer Zeit dort erzählt.«
»Und du weißt wirklich nicht, wann und wo du sie zum letzten Mal gesehen hast?«
»Ich weiß es nicht. Mit Gerda und der Zeit ist das so eine Sache, wirklich, keine Ahnung. Wo wirst du wohnen, Kindchen?«
»Um ehrlich zu sein, hab ich mich noch nicht darum gekümmert.«
»Du wohnst natürlich bei uns. María Luz richtet dir ein Bett im Erdgeschoss.«
Das Bett war angenehm, mein Schlaf unruhig. Ich träumte, mein Gepäck wäre am Flughafen von Quito verloren gegangen. Stunden und Tage war ich auf den Gepäckbändern unterwegs, hüpfte über Koffer und Menschen, glaubte immer wieder, etwas entdeckt zu haben, das zu mir gehörte. Ich irrte mich jedes Mal. Einmal griff ich nach einem blitzblauen Koffer, der abfärbte und Spuren auf meinen Händen zurückließ. Ein Rucksack war bei näherer Betrachtung ein Fernseher, in dem eine Quizshow lief, und schließlich biss mich ein Hund in Militäruniform in die Hüfte. Ich beschloss, aufzustehen und eine Runde im Garten zu drehen. Leise öffnete ich die Tür, um niemanden im Haus zu wecken, da sah ich den Doktor rauchend am Pool sitzen. Als er mich bemerkte, dämpfte er die Zigarette wie ein verschrecktes Schulkind im Rasen aus.
»Ah, du bist es«, lachte er. »Ich dachte, es wäre meine Frau.«
Ich bat Jorge um eine Zigarette und setzte mich neben ihn ins Gras. Ich ließ meine Füße ins Wasser hängen und veränderte damit die Silhouetten der sich im Wasser spiegelnden Ölpalmen. Eine Zeit lang ließen wir nur die Frösche und Nachtvögel sprechen. Dann stieß Jorge mit einem lauten Schnaufen Rauch aus der Nase: »Weißt du Kindchen, ich habe da auf einmal so viele Bilder im Kopf.«
in Madrid
Nur weil Abigail Adams bei einem Straßenfest in Covarrubias von einem jungen Mann darauf aufmerksam gemacht wurde, dass »die Österreicherin« und sie in derselben Gasse wohnten, hatte sie das Gefühl, sie müsste sich mit Gerda verbünden, da sie beide »Ausländerinnen« waren, hier in Madrid. Gerda aber verabscheute Abby. Sie hasste es, wenn sie mit den Fingern an ihren Lippen zupfte, weil ihr nicht einfallen wollte, wie das neue Restaurant am Plaza Santa Ana hieß. Und sie hasste es auch, wenn sie über Werke von Goya oder Picasso sprach, als wären es Kleidungsstücke: »This one has nice colors!« Dennoch geschah es an einem Sonntag, dass sie sich überreden ließ, Abby zu einem Stierkampf in die Arena Las Ventas mitzunehmen, da diese, wie sie meinte, Angst habe, sich einem solchen Ereignis alleine auszusetzen, aber zu neugierig sei, um es nie kennengelernt zu haben. Gerda, die von März bis Oktober beinahe jeden Sonntagnachmittag in der Arena verbrachte, willigte ein, unter der Bedingung, dass Abby die Karten besorgte. Abby hatte Sonnenplätze gekauft. Sie hatte keine Ahnung, welche Tortur das bedeutete. Hier auf der Sonnenseite der Arena bewegten sich die Fächer der Damen wie ein Schwarm ungleicher Fische, und die bestickten Taschentücher der Herren verdunkelten sich mit dem aufgesogenen Schweiß um einige Nuancen.
»Oh he’s such a cutie!«, kleinkindelte Abby, als sie auf dem Programmzettel das Foto des Toreros sah, der gleich in der Arena auftreten würde. Dummes Illinois-Girl, dachte Gerda. Natürlich war Domingo Valderrama kein »cutie«. Er war ein Gott. Gerda schlief mit ihm. Morgens, wenn sie in seiner weitläufigen Wohnung im Stadtteil Lavapiés die Augen öffnete, sah sie Domingo am Bettende nackt vor dem Spiegel stehen, wie er sich auf den Kampf vorbereitete. Die Füße hielt er gestreckt, die Knie durchgedrückt, das Becken stark nach vorne und die Schultern in der gleichen Strenge zurückgeschoben, das Kinn seitlich nach unten gereckt, sodass ihn die Spannung im Nacken schmerzen musste. Die Luft, die durch die geöffnete Terrassentür ins Zimmer kam, ließ den Vorhang um seine Beine tanzen, so als wäre er die muleta – das rote Tuch.
Nicht nur, dass Domingo Valderrama die Bullen mit der muleta unverschämt nah an seinem schmalen Körper vorbeiführte und immer bis zum letzten Moment wartete, bevor er das Tuch wendete und es mit der dann gelben Farbe für das gereizte Tier unattraktiv werden ließ. Was er vor allem beherrschte, war das Töten.
Manch ein Torero hatte den Sandboden von Las Ventas das warme Blut in Litern aufsaugen lassen, bevor das Tier endlich aus der Arena geschleift werden konnte. Doch nicht Domingo. Er setzte seinen Degenstoß immer dann, wenn er den Stier dazu gezwungen hatte, seinen Kopf tief zu senken, derart punktgenau zwischen die Schulterblätter, dass jedes der 235 bisher von ihm getöteten Tiere nach spätestens vier Schritten zu Boden fiel. Das Volk liebte ihn dafür. Denn nichts hasste man in Madrid mehr als einen Stierkampf ohne schnelles Ende.
Die Bedingungen für den Kampf waren an jenem Sonntag, an dem Gerda Abby lieber in der Arena gegenübergestanden wäre, als mit ihr eine Tüte maiz frito auf den billigen Sitzplätzen zu teilen, hervorragend. Kein Windhauch konnte die angespannte Konzentration eines Toreros in einen Gedanken an den Tod umlenken, und kein Mann der sechs erfahrenen picadores und banderilleros, auf die sich selbst ein Matador wie Domingo auf Leben und Tod verlassen können musste, war ein leichtsinniger. Domingos Gegner wurde bereits zu Mittag ausgelost: ein ausgewachsener Bulle mit 630 Kilogramm Gewicht. Ein Tier, das zuvor noch nie im Kampf gewesen war, was essenziell für das Überleben eines jeden Matadors in der Arena war, schließlich sollte der Stier das Tuch und nicht den Mann, der es führte, als Aggressor verstehen. Dieser 236. Bulle, der sein bisheriges Leben auf einer zwanzig Hektar großen Ranch südlich von Madrid verbracht hatte, sollte Domingos Leben verändern. Nach einem fünfzehnminütigen Kampf voller Takt, Tanz, Farbe, Musik und Anteil nehmendem Geschrei von den Rängen war Domingo so weit. Er fokussierte den muskulösen, nass geschwitzt-blutigen Nacken des Stiers und hob seinen Degen zum tödlichen Stoß an, als ein plötzlich aufkommender Wind das rote Tuch ungewollt in Bewegung brachte. Das Tier machte einen Schritt zurück, senkte seinen Kopf ein weiteres Mal und versetzte Domingo einen Schlag, der ihn weit über die Ränge des Stadions, über die Fassade der Arena und die Calle Alcalá bis zur Turmspitze der Iglesia de los Angeles wuchtete.
Von da an verbrachte Domingo sein Leben im Kirchturm. Junge und alte Frauen brachten ihm Rosen oder Kuchen, legten die Gaben auf die Treppe, die zum Turm hinaufführte. Ältere Herren kamen, breiteten Tücher aus und drapierten Stierohren oder Stierschwänze darauf. Der große Torero nahm die Geschenke an. Doch den Kirchturm hat Domingo Valderrama nie wieder verlassen.
in Scherben
»Was sollte das jetzt?« Sie wollte eigentlich eher cool als panisch klingen, aber sie merkte, dass sie das »das« viel zu sehr betont und wahrscheinlich auch deutlich zu laut gesagt hatte, also strich sie sich mit Daumen und Mittelfinger die Haare rechts und links vom Scheitel nach hinten, um wieder lässig zu wirken.
»Du wolltest mir nicht glauben«, blieb Rike bewegungslos am Tisch sitzen und kritzelte scheinbar unbewusst Kugelschreiberlinien auf einen zerknitterten Zettel. Gerda ging zum Fenster und blickte durch das ausgefranste Loch nach draußen. Sie konnte den Stein nicht entdecken, die Wohnung lag zu weit oben.
»Was denn? Was wollte ich nicht glauben?«
»Dass alles, einfach alles, was uns umgibt, für uns da ist, damit wir es benutzen.«
»Benutzen?«
»Benutzen.«
»Aber du hast einen Stein durch dein Wohnzimmerfenster geworfen. Rike, es hätte jemand da unten gehen können!«
Rike ließ den Stift fallen, stand mit einem starken Ruck auf, sodass der Holzsessel, auf dem sie gesessen hatte, auf das mattgraue Parkett knallte, und verließ die Wohnung.
Gerda kam sich dumm vor. In dieser Wohnung, mit diesem Menschen, den sie nicht kannte und der, wie es schien, verrückter war, als sie angenommen hatte. Ihre Sturmfrisur, ihre zerknautschte Haut, das verdreckte blassrote Shirt und die komischen Hochwasserhosen hatte sie bei ihrer ersten Begegnung vier Stunden zuvor schon als Signale empfunden, als Signale für etwas anderes. Anders als ihre Frisur, ihr Shirt, ihre Hose und ihre Haut.
Gerda mochte die Art, wie Rike ihre Schultern an der Sessellehne platzierte, so, dass ihre langen schlanken Arme tatenlos über dem Boden hingen. Und sie bewunderte ihr Lächeln, das eine Mischung aus bedingungsloser Nähe und ständiger Koketterie transportierte. Gerda meinte, in Rike eine Art Negativraum entdeckt zu haben. Etwas, das all das war, was sie selbst nicht war. Aber das? Steine aus geschlossenen Fenstern werfen? Das war eindeutig mehr als das, was sie nicht war.
Sie schob die großen Bögen Papier und den Eimer Farbe zur Seite, um sich auf die geblümte, durchgesessene Couch fallen zu lassen. Sie überlegte, was sie hier zu suchen hatte, ob sie nicht besser einfach gehen sollte. Warum war sie hier? Wo war Rike jetzt hingelaufen? Sie prüfte jede Ecke des Zimmers, als wäre irgendwo zwischen der abblätternden Farbe an den Wänden, dem dumpfen Boden, den getürmten Spraydosen und den verbeulten Werkzeugkisten eine Antwort zu lesen.
Ob sie sich von ihr malen lassen würde, hatte Rike sie im Park gefragt. Das hätte ihr doch schon merkwürdig vorkommen sollen. Aber Gerda hatte da diesen Negativraum im Kopf, wenn sie Rike ansah. Sie ließ sich ihre Bilder zeigen, die sie in einer großen schwarzen Mappe unter ihren Arm geklemmt hatte. Eine Seite der Mappe lag auf Rikes Schoß, die andere auf Gerdas. Das lederne Band, das die beiden Deckel zusammenhalten sollte, kitzelte ihren Schenkel. Rike sprach zu jedem ihrer Bilder zwar wenig, aber gut. Und dann, als das letzte Tuscheporträt gewendet worden war, gingen sie in Rikes Wohnung.
Es machte einen lauten Knall, als Gerda in der Küche nach einem Besen suchte. Sie lief ins Wohnzimmer zurück, und da lag der Stein wieder auf dem Boden. Sie hob ihn auf und ging vorsichtig zum Fenster. Unter ihren Füßen knirschten die Scherben. Sie blickte hinunter auf die Straße und sah Rikes kupfrigen Haarschopf vom Gehsteig Richtung Haustür fliegen. Einen Moment später stand sie schnell atmend vor ihr.
»Hast du das gesehen?«, band sie die verwirrten Haare zu einem riesigen Knödel ganz oben an ihrem Kopf. Gerda beachtete sie nicht, sondern rieb ihre Sohlen am Tischbein, um die Glassplitter abzustreifen. Sie strich über die raue Oberfläche des dunkelgrauen Klumpens in ihrer Hand und fragte sich, ob man solche Steine im Park finden konnte.
»Ob du das gesehen hast?« Rike fasste sie etwas zu grob an der Schulter.
»Ja.« Gerda hing noch an ihrer Berührung und musste kein »aber« aussprechen, damit Rike weiterredete: »Ich habe den Stein wieder zurückgeworfen! Erscheint dir das jetzt immer noch zerstörerisch? Habe ich jetzt nicht eine völlig andere Aussage erreicht? Eine Umkehrung mit Effekt, auch wenn der Effekt nicht die Umkehrung des ersten Effektes ist? Ist das nicht eine schöne Form von Gleichgewicht?«
Gerda musste nachdenken. Sie bewegte den Stein in ihrer Hand auf und ab, als hätte sie so herausfinden können, wie schwer er war, und als wäre das in diesem Moment wichtig gewesen zu wissen. Rike hockte sich auf den Boden und schaute von unten durch das jetzt noch größere Loch ins Freie. Richtig gut sah sie aus, beim Denken über das, was gerade war. Andererseits, dachte Gerda, konnte das, was sie so gut aussehen ließ, auch Selbstverliebtheit sein.
»Sinnloses Gleichgewicht ist das schönste Gleichgewicht.« Rike griff sich in den aufgeregt geröteten Nacken. »Das Loch hat mir eine neue Chance verschafft, Gerda.«
Zum ersten Mal an diesem Nachmittag hörte Gerda sie ihren Namen sagen.
Rike kramte in einer der metallenen Kisten unter dem Tisch und holte einen Fotoapparat heraus. Für einen Moment war sie ganz bei sich. Sie knirschte mit ihren abgefuckten Espadrilles über die Scherben zum Fenster, schaute nach oben, tastete die Mauer mit ihrem Handrücken ab und knirschte wieder zurück.
»Brauchst du Hilfe?«, flüsterte Gerda so leise, dass sie es sicher nicht hören konnte. Natürlich brauchte sie Hilfe, dachte Gerda. Die hatte sie ja nicht mehr alle. Eine Frau, die Steine aus dem Fenster warf, um Argumente zu untermauern! Hätte Gerda das geahnt, hätte sie sie ganz sicher nicht gefragt, wo sie die Inspiration für ihre Bilder hernahm. Denn daraufhin hatte Rike von der Eroberung des Raumes gesprochen und den Stein durchs Fenster geworfen.
»Okaaay …«, zog Gerda die As lang, um ihren Aufbruch zu signalisieren, und ihre neue Bekanntschaft bat sie zu bleiben.
Am nächsten Tag stand Rike früh auf. Sie holte Frühstück und machte auf dem Rückweg schöne Fotos von hässlichen Fassaden. Als sie zurückkam, sah sie Gerda in der Unterhose in ihrem Wohnzimmer stehen, wie sie mit einem Vorschlaghammer gewaltig auf die Wand einschlug. Sie sah, wie Gerdas Haut auf den Fingern schon ganz aufgerissen war, wie ihr der staubige Schweiß an den Schläfen, zwischen den Brüsten und den Nacken hinunterfloss. Nach und nach holte Gerda Ziegel aus der Wand und stapelte sie sorgfältig neben sich auf den Boden.
»Fuck, Gerda, was machst du da!?«
Gerda schlug noch einmal gegen die Mauer, bevor sie sich in eine weißgraue Staubwolke gehüllt zu Rike umdrehte: »Ich besorg’ uns neue Steine.«
Tasuta katkend on lõppenud.