Goldene Hände

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Goldene Hände
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Margrit Stamm

Goldene Hände

Praktische Intelligenz als Chance für die Berufsbildung

ISBN Print: 978-3-0355-0427-9

ISBN E-Book: 978-3-0355-0428-6

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Jammern ist passé

Kapitel 1 Herausforderungen für die Berufsbildung

Begabten- und Talentförderung als bildungspolitische Aufgabe

Neue Strategien für die Rekrutierung und Betreuung des Nachwuchses

Frühe Elternarbeit: Werbung für die Berufsbildung

Könnerschaft als Verwirklichung der Praktischen Intelligenz

Kapitel 2 Talente Wer sie sind und wie sie sich entwickeln

Goldene Hände brauchen keine klügsten Köpfe

Leistungsstarke Migranten: die unerwarteten Talente

Fazit: Weg vom Defizitblick!

Kapitel 3 Lehrstellenmarketing Warum Rekrutierung, Selektion und Begleitung verändert werden müssen

Lehrlingsmangel als Passungsproblem

Die bedeutsame Rolle des Image-Faktors

Geschlechtstypische Berufswahl als Folge von Einstellungsmustern

Lehrstellenmarketing und die zentrale Rolle der Betriebe

Lehrvertragsauflösungen und Fachkräftemangel

Fazit: Ausbildungskapazitäten besser nutzen!

Kapitel 4 Attraktivität Weshalb Eltern die wichtigsten Meinungsmacher sind

Der Einfluss der Eltern

Eltern als Manager

Fazit: Eltern früh ins Boot holen!

Kapitel 5 Praktische Intelligenz Wie sie die Entwicklung von Könnerschaft beeinflusst

Die massive Unterschätzung der Praktischen Intelligenz

Das Geheimnis des stillen Wissens

Fazit: Praktische Intelligenz in der Ausbildung fördern!

Kapitel 6 Unausgeschöpfte Talentreserven Strategien für die Berufsbildung

Strategie I: Potenziale suchen und fördern

Strategie II: Ein Lehrstellenmarketing entwickeln

Strategie III: Attraktivitätsbemühungen gezielt auf die Familie ausweiten

Strategie IV: Praktische Intelligenz als Ziel von Könnerschaft verstehen

Literatur

Vorwort

In den vergangenen Jahren habe ich verschiedene Projekte im Rahmen der Berufsbildungsforschung durchgeführt, teilweise noch als Lehrstuhlinhaberin am Departement für Erziehungswissenschaften der Universität Fribourg oder dann in meiner neuen Funktion als Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education in Bern. Meine Forschungsschwerpunkte waren und sind in erster Linie auf die Stärken, Ressourcen und Potenziale junger Auszubildender sowie angehender Berufsleute ausgerichtet und – damit verbunden – auf die Qualität der beruflichen Bildung. Eine solche Perspektive erachte ich als entscheidend, um den engen und defizitorientierten Blick auf viele Herausforderungen der Berufsbildung überwinden zu können. Beispielsweise wissen wir heute viel zur Lehrstellenkrise, zu leistungsschwachen Auszubildenden oder zu ausbildungskritischen Betrieben, jedoch wenig oder kaum etwas zum Potenzial, das Lehrstellensuchende mitbringen, zu den Hintergründen herausragender Ausbildungsabschlüsse oder zu den Erfolgsfaktoren, welche ausbildungswillige Betriebe kennzeichnen, die ihre Lehrstellen besetzen können.

Zusammen mit meinen Teams habe ich die Ergebnisse unserer Forschungsstudien jeweils in strukturierten Schlussberichten veröffentlicht. Im Anschluss daran wurde ich oft zu Referaten und Podiumsdiskussionen eingeladen, um diese Erkenntnisse zu präsentieren und zu diskutieren. Solche Erfahrungen haben mir die Augen geöffnet; beispielsweise, dass auch der beste Schlussbericht für sich allein genommen, wenig wirksam werden kann. Ein Transfer von Forschungsergebnissen von der Wissenschaft in die Praxis braucht noch anderes. So muss man die Ergebnisse nachvollziehbar aufbereiten und allgemein verständlich formulieren, sich aber ebenso aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft hinauswagen. Dies beinhaltet unter anderem, Empfehlungen oder Konsequenzen zu formulieren, die eine bildungs- oder sozialpolitische Botschaft haben. Und das braucht manchmal Mut!

Solche Aha-Erlebnisse sind der Hauptgrund, weshalb ich vor ein paar Jahren begonnen habe, unsere Forschungsergebnisse kurz und übersichtlich in «Dossiers» zusammenzufassen und auf meiner Website kostenlos zugänglich zu machen. Die Dossiers finden ein grosses Echo, was mich natürlich sehr freut. Besonders beliebt scheinen sie bei Bildungs- und Sozialpolitikern, in der Bildungsverwaltung, bei Betrieben, Lehrkräften und Medienschaffenden zu sein.

Nachteilig an den Dossiers ist allerdings, dass sie keinen Gesamtüberblick über meine Forschungsschwerpunkte erlauben. Ich habe mich deshalb über die Idee von Verleger Peter Egger (hep verlag) und auch von Kollege Rudolf Strahm sehr gefreut, meine Haupterkenntnisse aus den Berufsbildungs-Dossiers in einer einzigen Publikation zu bündeln. Diese Idee habe ich in der vorliegenden Publikation verwirklicht und ihr drei Thesen zugrunde gelegt:

•Die berufliche Grundbildung hat ein grosses Reservoir an Begabungs- und Talentreserven, die sie nicht genug nutzt. Einer der Hauptgründe ist der, dass Potenziale zu selten erwartet, wahrgenommen, wertgeschätzt und deshalb auch nur in geringem Umfang gefördert werden.

•Die Berufsbildung kann einen grossen Wertbeitrag für ihre Attraktivität leisten und auch dem Nachwuchsmangel begegnen. Aber sie muss den Tunnelblick auf bestimmte Adressatengruppen mit einem Perspektivenwechsel in Selektion und Rekrutierung überwinden.

•Notwendig ist ein Talentmanagement, das den Namen auch verdient. Talentmanagement ist nichts anderes als der systematische Aufbau von Könnerschaft.

Die Berufsbildung muss ihren Blick neu ausrichten: weg von der alleinigen Konzentration auf Defizite und Schwächen hin zur Integration von Potenzialen und Stärken. Ein solcher Perspektivenwechsel kann jedoch nicht einfach über Nacht geschehen. Und schon gar nicht dadurch, dass man nun den Begriff «Talent» inflationär gebraucht, die traditionellen Selektions- und Rekrutierungsprozeduren gleichwohl beibehält und die persönlichen, oft mit Vorurteilen behafteten Einstellungsmuster gegenüber jungen Menschen nicht hinterfragt. Es braucht einen Perspektivenwechsel in den Köpfen. Einstellungen, Vorurteile und Überzeugungen sitzen tief und halten sich hartnäckig. Strukturen lassen sich leichter und schneller verändern.

Wer nun als Erstes denkt, dass ein Perspektivenwechsel lediglich die Bereitstellung von Finanzen erfordert, liegt falsch. Vielmehr geht es um etwas Fundamentales, das kein Geld kostet: um den Aufbau einer potenzialorientierten Haltung, um den Willen und das Interesse, Talente und Begabungen zu entdecken, anzuerkennen und zu fördern. Ohne eine solche Haltung und ein Bekenntnis zu Leistungsexzellenz in der Berufsbildung kann auch das grosszügigste Budget keine Wirkung erzielen.

Die gegenwärtige bildungspolitische Situation ist günstig: Lehrlingsmangel und Akademisierungstendenzen fordern uns alle heraus, die Berufsbildung weiterzuentwickeln und Veränderungen anzustreben – ohne sie dabei gegen die Gymnasien auszuspielen. Die vorliegende Publikation liefert hierzu einige Anhaltspunkte. Sie trägt meine Forschungserkenntnisse und diejenigen meiner Teams zusammen und gibt viele Denkanstösse. Doch liefert sie keine Rezepte, sondern lediglich Empfehlungen. Damit ermöglicht sie, eingeleitete oder geplante Aktivitäten mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft in Einklang zu bringen. Denn, was Begabung, Talent oder Könnerschaft in der Berufsbildung sind, wie sie sich manifestieren und wie die Ausbildungsverantwortlichen, aber auch Industrie und Wirtschaft darauf (re)agieren können – das sind Fragen, die bisher oft richtig, nicht selten aber auch einseitig beantwortet wurden.

 

Danken möchte ich Peter Egger vom hep verlag für die Initiierung und Unterstützung dieses Projekts und der Lektorin für ihre gewissenhafte Arbeit. Ebenso danke ich allen Zuhörerinnen und Zuhörern, welche meine zahlreichen Vorträge zu Berufsbildungsfragen jeweils besuchen und mir wichtige Rückmeldungen geben, manchmal auch kritische Einwände und Bestätigungen äussern. Diese sind für mich zentral, denn ohne solche Rückmeldungen kann sich die Forschung nicht weiterentwickeln.

Schliesslich geht ein – fast ausnahmslos anonymer – Dank an Hunderte von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an unseren Forschungsstudien. Ohne sie hätte keines der Projekte durchgeführt werden können, und die Schweizer Berufsbildung wäre um einige wichtige Erkenntnisse ärmer.

Bern und Aarau, Ende Januar 2016

Margrit Stamm

Einleitung: Jammern ist passé

In der Schweiz gibt es auf der Sekundarstufe II viele Leuchttürme guter Talentförderung sowohl in Gymnasien als auch Betrieben und Berufsfachschulen. Ein Beispiel sind die Europa- und Berufsweltmeisterschaften, an denen unser Land regelmässig herausragende Leistungen erzielt. In den letzten Jahren wurde dies immer an den gut 20 Medaillen ersichtlich, welche die Schweizer Delegation jeweils für sich beanspruchen durfte. Auch die Schweizer Berufsmeisterschaften «SwissSkills», die 2014 erstmals in Bern durchgeführt wurden, waren mit mehr als 155 000 Besuchern ein grosser Erfolg. Sie haben dazu beigetragen, in den Köpfen des Normalbürgers ein attraktives Bild über die Möglichkeiten der Berufsbildung entstehen zu lassen. Dass an der Berufsbildungsfront heute tatsächlich einiges in dieser Hinsicht geschieht, ist jedoch in erster Linie eine Folge des innovativen Berufsbildungsgesetzes, das 2004 in Kraft gesetzt wurde und die Förderung leistungsstarker Lernender als normative Aufgabe versteht.

Talentförderung im Sinne der oben erwähnten Meisterschaften entspricht genau dem, was der Begriff auch meint: Junge Menschen sind dann Talente, wenn sie in einem bestimmten Bereich über ein überdurchschnittliches Leistungsvermögen verfügen, und sie dieses mit gezielter Unterstützung von Berufsbildnern und Berufsbildnerinnen so ausbauen können, dass es sich zu Expertise auf höchstem Niveau entwickeln kann.

Leider hat sich in den letzten Jahren unbemerkt eine «Talent-Epidemie» ausgebreitet. Davon zeugen viele Plakate, auf denen mit jungen Menschen geworben wird: «Wir brauchen Ihr Talent – machen Sie Ihre Ausbildung bei uns!» oder «Absolviere ein Talentjahr, wenn du nicht weisst, ob du eher ins Gymnasium oder eine Berufslehre absolvieren willst!» Eigentlich tönt dies ja gut. Endlich weg von der Defizitperspektive hin zu dem, was junge Menschen können! Trotzdem kann man sich darüber nur eingeschränkt freuen. Viele Hochglanzbroschüren und modern aufgemachte Webseiten lassen nämlich Zweifel aufkommen. Zwar sprechen sie immer von Talenten, doch bleibt fraglich, ob solche Absichten in der Praxis auch umgesetzt werden. Unsere Forschungsstudien zu leistungsstarken Jugendlichen in der Berufsbildung verweisen auf eine andere Realität. Oft wird viel über die mangelnde «Ausbildungsreife» Jugendlicher gejammert, über all das, was sie nicht mehr können und über Elternhäuser, die ihrem Nachwuchs keine Manieren mehr beibringen. Deshalb sind Slogans zur Talentsuche auch ein geschicktes Vertuschen des defizitären Menschenbilds und somit auch ein Etikettenschwindel. Anstatt wie bis anhin einfach zu jammern, wird nun unüberlegt von Talenten gesprochen.

Es ist wünschenswert, den inflationären Gebrauch des Talentbegriffs zu unterbinden. Wichtiger ist es, sich auf die Praxis zu konzentrieren, ob und wie Potenziale junger Menschen in Berufsfachschule, Betrieb und Weiterbildung tatsächlich gefördert werden. Denn dies ist einfacher gesagt als getan. Notwendig sind hierfür Berufsbildungsverantwortliche, die sich im wahrsten Sinne des Wortes als Talentförderer verstehen. Will eine Berufsbildungsverantwortliche das verborgene goldene Händchen eines jungen Migranten oder das intellektuelle Potenzial einer unbequemen Schülerin nicht sehen, dann bleiben Begabungen und Ressourcen unentdeckt und ungenutzt – auch wenn in Leitbildern und Unternehmensrichtlinien Gegenteiliges steht. Haltungen sind deshalb von grundlegender Bedeutung. Nur wer Potenziale bei allen jungen Menschen erwartet, sie erkennen und anerkennen und dann auch unterstützen will, betreibt Talentförderung. Dazu kommen Förderkompetenzen. Wer fördert, muss in der Lage sein, hochstehende Übungs- und Trainingsprozesse so zu arrangieren und zu überwachen, dass die jungen Talente im richtigen Mass herausgefordert und animiert werden, über sich selbst hinauszuwachsen. Dies alles genügt nicht. Talentförderung muss auch Chefsache sein und als grundlegende Ausbildungsaufgabe verstanden werden. Schul- und Geschäftsleitungen, welche ihre Berufsbildenden unterstützen, sind deshalb das Herzstück aller Anstrengungen.

Die Talent-Epidemie darf uns nicht glauben machen, dass junge Menschen tatsächlich talentierter als früher sind. «Talent», so wie der Begriff heute gebraucht wird, ist in vielen Fällen nichts anderes als eine Worthülse, eine PR-Massnahme im «Kampf um die Talente», d. h. um rar gewordene Lehrlinge oder um teure Ausbildungen beliebt zu machen. Das Gerede um Talente ist deshalb oberflächlich, weshalb es der Sache eher schadet als nützt. Eine Rückbesinnung auf das, was Talent meint und wann der Begriff verwendet werden soll, tut Not.

Die vorliegende Publikation nimmt sich solcher Herausforderungen an. Sie liefert auf der Basis unserer Forschungsstudien empirische Daten zur Frage, wer denn tatsächlich «begabt» oder «talentiert» ist und weshalb Berufslernende während ihrer Ausbildung, aber auch nachher, ihre Potenziale (nicht) entwickeln. Ein besonderer Blick wird dabei auf junge Migrantinnen und Migranten geworfen. Gerade aufgrund des Lehrlingsmangels sind solche Fragen besonders aktuell. Denn die Gründe für die vielen fehlenden Auszubildenden sind keinesfalls so eindeutig, wie dies immer wieder berichtet wird. Zwar geben im Lehrstellenbarometer vom April 2015 18 Prozent der befragten Unternehmen als Ursachen für ihre unbesetzten Stellen einen «Mangel an qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern», 18 Prozent «fehlende Berufsbildungsverantwortliche» und 14 Prozent «schwache respektive keine Nachfrage nach Lehrstellen» an. Unsere empirischen Analysen zeigen jedoch, dass es auch Gründe gibt, die bei den Betrieben selbst liegen. Sie haben somit einen relativ grossen Einfluss darauf, ob sie geeignete Kandidatinnen und Kandidaten finden oder nicht.

Allerdings haben viele Betriebe in der Zwischenzeit gemerkt, dass sie ihre Rekrutierungs- und Selektionspraxen ändern und sich stärker um potenzielle Auszubildende bemühen müssen. Ebenso ist auf politischer Ebene durch gezielte Massnahmen, Kampagnen (wie berufsbildungplus.ch) sowie professionellere Berufsinformationen und -vorbereitungen viel getan worden. Alle diese Anstrengungen haben jedoch eine empirische Tatsache ausgeblendet: dass Eltern die wichtigsten und entscheidendsten heimlichen Meinungsmacher bei der Berufswahl sind. Trotzdem konzentrieren sich die Massnahmen und Kampagnen fast ausschliesslich auf Schulen, Betriebe, Berufsfachschulen und Verbände.

Will man Begabungs- und Talentreserven ausschöpfen und diese fördern, dann muss man sich auch mit der Frage beschäftigen, wie eigentlich Könnerschaft entsteht. Dann stösst man schnell einmal auf die bedeutsame Rolle der Praktischen Intelligenz. Ohne ihre Berücksichtigung in der Ausbildungspraxis entsteht keine Expertise.

Die vorliegende Publikation ist solchen Themen gewidmet. Auf der Basis der Erkenntnisse unserer Forschungsstudien beschäftige ich mich in einem ersten Kapitel mit den zukünftigen Herausforderungen für die Berufsbildung. Dazu gehören die Begabten- und Talentförderung als bildungspolitische Aufgabe, die Selektion und Rekrutierung der Auszubildenden in Zeiten des Lehrlingsmangels, die Attraktivität der Berufsbildung mit Blick auf die Bedeutung der Familie als wichtigstem Rekrutierungspool sowie die Praktische Intelligenz als Herzstück auf dem Weg zur Könnerschaft. Kapitel zwei bis fünf stellen die Hauptergebnisse von insgesamt fünf unserer Forschungsprojekte vor: «Begabung und Leistungsexzellenz in der Berufsbildung» (2005–2009), «Migranten als gesellschaftliche Aufsteiger» (2009–2012), «Lehrlingsmangel: Strategien für die Rekrutierung des Nachwuchses» (2013), «Nur (k)eine Berufslehre: Eltern als Rekrutierungspool» (2014) sowie «Praktische Intelligenz: Ihre missachtete Rolle in der beruflichen Grundbildung» (2014–2015).

Mit diesem Buch hoffe ich, einen Beitrag zu leisten, um eingeleitete oder geplante Aktivitäten mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft in Einklang zu bringen und zu verhindern, dass Massnahmen und Kampagnen weniger einseitig erfolgen. Und ebenso, dass Betriebe erkennen: Jammern ist definitiv passé!

Kapitel 1 Herausforderungen für die Berufsbildung

Aktuell fällt die Berufsbildung durch mindestens drei Merkmale auf. Das erste Merkmal ist die ihr immer wieder zugeschriebene Qualität. So attestierte ihr die OECD-Studie «Learning for jobs» im Jahr 2009 «beeindruckende Qualitäten», weshalb sie «stolz auf ihr hochqualifiziertes Berufsbildungssystem» sein dürfe.[1] In der Tat gibt es wenig Vergleichbares, das überall und in allen Medien so präsent ist. Auch in der Bevölkerung besteht die weitgehend einhellige Überzeugung, dass das Schweizer Berufsbildungssystem eine hervorragende Einrichtung ist. Solche Komplimente kommen nicht einfach aus dem hohlen Bauch, sondern sind ein Hinweis darauf, wie fundiert die Berufsbildung aufgestellt ist.

Das zweite Merkmal betrifft die eigenartige Polarisierung zwischen Selbstüberschätzung – die Alt-Nationalrätin Josiane Aubert hat diese einmal eine «nationale Idealisierung der Berufsbildung» genannt – und wiederkehrenden Klagen. Diese bauen oft auf einer Schwarz-Weiss-Malerei auf und lassen ein gewisses Mass an Selbstkritik vermissen. Einerseits wird die Berufsbildung spätestens seit den SwissSkills 2014 auch als Exportschlager und Garant gegen Jugendarbeitslosigkeit[2] hochgelobt, andererseits aber als System mit zu vielen Lehrabbrüchen und zu wenig fähigen Auszubildenden kritisiert. Damit einher geht das dritte Merkmal: die Tatsache, dass von vielen Eltern und nicht selten auch von Lehrpersonen die Berufslehre im Vergleich zum gymnasialen Weg noch immer als minderwertig angesehen wird, als zwar für schulschwächere Jugendliche angemessen, aber nicht für begabte.

Mit Sicherheit wird die Berufsbildung in den kommenden Jahren mit verschiedensten Herausforderungen konfrontiert werden. Dabei wird es darauf ankommen, ob man diese im positiven Sinn als halbvolles oder negativ als halbleeres Glas ins Auge fasst. Unsere Forschungsstudien unterstützen die positive Sichtweise, und zwar in den folgenden vier Bereichen:

•Begabten- und Talentförderung als bildungspolitische Aufgabe

•Neue Strategien für die Rekrutierung und Betreuung des Nachwuchses

•Frühe Elternarbeit als Werbung für die Berufsbildung

•Könnerschaft durch Praktische Intelligenz

Solche Klagen lassen sich folglich auch als Schutzbehauptungen von Betrieben interpretieren, die sich nicht verändern oder keine Ausbildungsplätze mehr anbieten wollen. Trotzdem ist der Unmut so intensiv geworden, dass sich die Bildungspolitik damit auseinandersetzen und sich fragen muss, was denn zu tun ist. Einfach mehr Drill von der obligatorischen Schule verlangen, damit sie diese Mängel behebt? Dies greift wahrscheinlich zu kurz. Sollen die Betriebe ihre Anforderungen nach Ausbildungsreife strikt durchsetzen und deshalb Ausbildungsplätze aufgrund fehlender Qualifikationen der Bewerberinnen und Bewerber streichen? Dies wiederum wäre für die Nachwuchs- und Fachkräftesicherung fatal.

 

Sicher ist, dass die stete Kritik an der fehlenden Ausbildungsreife der Jugendlichen in Zeiten des Lehrlingsmangels keine günstige Wirkung auf die Attraktivität der Berufsbildung hat. Weil die Akademisierung einerseits (immer mehr wollen in eine Fachmittelschule, etwas mehr ans Gymnasium) und die Demographie (sinkende Geburtenzahlen) für die nächste Zeit keine Trendwende prognostizieren, wird sich das duale System verändern müssen und sich den Realschülern, aber auch den Jugendlichen im Übergangssystem, verstärkt öffnen müssen – einer Klientel, die bisher eher gemieden wurde. Es braucht eine Überwindung des Tunnelblicks auf die anforderungshöchste Bildungsstufe. Damit einhergehend muss ein selbstkritischer Blick auf die Bildungsverordnungen geworfen werden und geprüft werden, inwiefern schulische Anforderungen unnötig hoch angesetzt werden. Manche Bildungsinhalte könnten wahrscheinlich auch erst in der Höheren Berufsbildung vermittelt werden.