Ich, eine schlechte Mutter

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Ich, eine schlechte Mutter
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Marguerite Andersen

Ich, eine schlechte Mutter Bekenntnisse

Aus dem Französischen von

Patricia Klobusiczky

Marguerite Andersen

Ich, eine schlechte Mutter

Bekenntnisse

Nous remercions le Conseil des arts du Canada de son soutien.

We acknowledge the support of the Canada Council for the Arts.

Der Verlag dankt dem Canada Council for the Arts für die freundliche Unterstützung.


Die Originalausgabe erschien unter dem Titel La mauvaise mère. © 2013 Éditions Prise de parole, Subury

Erste Auflage

© 2020 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Patricia Klobusiczky

Lektorat: Christian Ruzicska

Korrektorat: Peter Natter

www.secession-verlag.com

Gestaltung und Satz: Julie Heumüller, Berlin

ISBN 978-3-906910-90-1

eISBN 978-3-906910-91-8

DANKSAGUNG

Mein Dank gilt meinen Freundinnen aus dem Norden: Johanne Melançon, die mich zu einer ungewöhnlicheren Schreibweise ermutigt hat, einer Schreibweise, die sich vielleicht für Tagebücher eignet; Sylvie Lessard, die mich als PR-Fachfrau stets unterstützt hat; und vor allem denise truax, Verlegerin der Éditions Prise de parole, die das Werk vertrauensvoll angenommen und mit allergrößter Sorgfalt zur Veröffentlichung gebracht hat.

Zu guter Letzt gilt mein Dank all jenen, die meine Launen und mein Schweigen ertrugen, während ich an diesem für mich recht schwierigen Text arbeitete.

Für Jean-Jacques Rousseau, einen der allerersten Schriftsteller, der eine Autobiografie verfasste,

Die Bekenntnisse.

Mein Text, in weiblicher Form verfasst, folgt mehr oder weniger seinem Beispiel.


INHALTSVERZEICHNIS

Danksagung

Warum

Beschlossene Sache

Ein natürliches Hindernis

Hochzeit

Schröpfglas und Pferdeblut

Pressen Sie, Madame!

Zwischenspiel

Einsiedlerin

Die Liebe

Der Riegel

In der Herberge ist noch Platz

Gleich und anders

»AD INFINITUM«

Im Schatten des zweihornigen Berges

Herausforderungen

Die Sickergrube

Die Abendbäder

Gewalt

»ICH SUCHE NICHT – ICH FINDE«

Die Türen tun sich auf

Bergsteigen

Und wieder ein Verbot

Die geschlagene Frau

Das Alter der Vernunft

Die Leere

Die Abreise

Sprung ohne Wiederkehr

Das Gesetz

Drohungen

Manchmal, abends, reden sie vielleicht miteinander

1955

Es irgendwie schaffen

Berlin

Mit ihnen allein

Schon wieder auswandern?

Kanada muss warten

Unter dem Blick des Sohnes

Meine lieben Gewohnheiten

Schlaf

Sexualität

Katastrophe

Kanada?

Gander, Mai 1958

Montreal

Mittellose Einwanderer

Der Pakt

Verblüffende Gepflogenheiten und Gesetze

Drei tolle Streiche …

Im Stich gelassen

Zerstreuungen

Groß ist meine Hingabe

Die Abenteurer

Eine Ohrfeige

Meine Mutter siecht dahin

Unterwegs

1961, Addis Abeba

Das glückliche Leben

Die abgehackte Hand

Die Nacht

1963 wieder das Gleiche

Kostbare Schere

Allein

Sommer 1963

Am späten Abend

Clowns

Martins Abenteuer

Viel zu viel!

Die unachtsame Mutter

Die Mutter des Soldaten

Der Aufbruch des Soldaten

Hätte hätte …

Die Rückkehr des Kriegers

Im engsten Kreis

Der Ausflug

Zink in Flin Flon

Die Rückkehr des Reisenden

Alles ist gut

Nie habe ich gedacht, dass wir uns nicht liebten

Eines Tages

 

Die Frauen meiner Söhne

Unbeholfen verberge ich meine Bitterkeit

Die schreibende Mutter

Von den Söhnen zur Tochter

Nicht alles ist gut

Das Unaussprechliche

Die Mauer des Schweigens

Von Mauer zu Mauer

Da sind noch die anderen Generationen

Über sich selbst schreiben

Ein törichtes Unterfangen?

Gar nicht so leicht, dieses Über-sich-selbst-Schreiben

Aber was für ein Vergnügen

WARUM

– Aber nein, Marguerite, mach dir deswegen doch keine Sorgen. Warum soll es plötzlich heißen, wir hätten unter diesem … wie soll ich sagen … bewegten … Leben gelitten, das du uns beschert hast?

– Meinetwegen habt ihr in sechs Ländern gelebt, auf drei Kontinenten. Dir hat es ja gefallen …

– So haben wir was von der Welt gesehen.

– Seien wir doch ehrlich: Ab einem bestimmten Zeitpunkt habe ich euch im Stich gelassen. Zurückgelassen. Und ihr wart noch klein.

– Wir haben’s überlebt.

– Anderthalb Jahre. Ganze anderthalb Jahre waren wir getrennt.

– Stimmt. Aber du, eine schlechte Mutter?

– Michel, lass mich ausreden, damit ich es dir sage, es dir zeige, du wirst erkennen, dass ich recht habe, fall mir nicht ins Wort, ich habe das Bedürfnis, all meine Fehler zu bekennen, all das, was mir leidtut, genauer hinzusehen, durch dieses Nadelöhr muss ich durch, danach reden wir nie wieder darüber, versprochen. Ich weiß, ihr würdet gern glauben, dass das Leben immer heiter ist, die Kernfamilie, wie es so schön heißt, immer glücklich, die Kinder intelligent und gesund, die Welt beinahe vollkommen … und dass alle Mütter gute Mütter sind …

– Mach mal bitte halblang!

– Wie könnt ihr so was glauben, wenn ihr doch genau wisst, dass dem nicht immer so ist?

– Was willst du denn hören? Martin hat es unbeschadet überstanden, er macht keinen leidenden Eindruck, die Kleine auch nicht, und für mich gilt das Gleiche. Wir werfen dir nichts vor.

– Da habe ich ja Glück …

– Wir respektieren dich.

– Das weiß ich. Aber ich werfe mir meine Fehler vor.

– Jeder macht Fehler.

– Sicher. Aber die Fehler einer Mutter … Ab einem bestimmten Zeitpunkt habe ich euch allein gelassen.

– Hör mal, Mama … In deinem Alter …

– Eben. Bevor ich für immer die Augen schließe, wie es so schön heißt, muss ich …

– Was? Musst du dich quälen?

– Muss ich Bilanz ziehen, ehrlich, ganz ungeschönt.

– Wozu?

– Damit alles etwas klarer wird.

– Aber du hast uns doch nicht misshandelt!

– Bloß vernachlässigt, schikaniert, manchmal sogar ignoriert … Vor allem Martin …

– Warum?

– Er war schwieriger …

– Als ich? Wirklich?

– Ja. Aber das ist nicht weiter wichtig.

– Worum geht es eigentlich?

– Es beginnt mit Martin, 1945 gezeugt, ein Prachtfrühling in diesem Jahr, Hitler ist tot, der Krieg vorbei, die Welt jubelt, die Freiheit ist zum Greifen nah.

– Du immer mit deinen alten Geschichten …

– Diesmal halte ich mich nicht mit historischen Details auf. Es geht um mehr oder weniger klare Gefühle, um simpelste Fakten. Ausgewählt wird immer das Eindrücklichste. Als würde ich mir Notizen machen. Poesie und Prosa … Mit oder ohne Zeichensetzung …

– … eine Stilübung?

– Auf keinen Fall!

– Eine neue Methode der Selbstfolter?

– Auch nicht.

– Was dann?

– Eher eine Art von Suche … Wie all meine Bücher. Wie viele Bücher.

– Suche nach Transparenz1?

– Ein Tasten … Worte, die fehlen … Worte, die ungesagt blieben …

– Zögerst du noch?

– Hör zu, mein Sohn: Danke, aber jetzt geh nach Hause! Ich muss mich ransetzen. Allein!

1So, wie Jean Starobinski den Begriff geprägt hat, der in Rousseau: eine Welt von Widerständen (OA 1957) Rousseaus Suche nach Transparenz Etappe für Etappe nachverfolgt.

Ich habe mir immer gelobt nicht zu sterben ohne vollbracht zu haben, was ich Andern anrieth: eine aufrichtige Erforschung des eignen Wesens und eine aufmerksame Prüfung des eignen Daseins. George Sand2

2Geschichte meines Lebens, übersetzt von Claire Glümer. [A. d. Ü.]

BESCHLOSSENE SACHE

Herbst 1943. Berlin.

Ich bin acht, als Hitler die Macht ergreift, mein Vater seiner Ämter enthoben, fünfzehn, als der Zweite Weltkrieg erklärt wird. Ich schließe gerade die Oberstufe ab, habe vor, französische Sprache und Literatur zu studieren, als sich die Tore der Philologischen Fakultät schließen. Zum Kriegsdienst verdonnert, katalogisiere ich den lieben langen Tag unzählige Röntgenaufnahmen von Studentenlungen in einem Büro der Berliner Universität.

Das war nicht lustig.

Die Hauptstadt unterm Bombenhagel

Dreitausend Tote in zwei Nächten

vom 18. zum 19. und vom 22. zum 23. November 1943

Brände

Ruinen

Asche überall

am Boden

in der Lunge

Zerfetzte Körper, die man wegbringt

verscharrt

vergisst

schnell

ergreife ich die Flucht

setze den unvermeidlichen Kriegsdienst

im Kinderhort eines österreichischen Dorfes fort.


Frühling 1945. Schwarzenberg, Österreich.

Vorbei, der Krieg. Im Radio wird verkündet, der Führer sei tot. Gut so.

Heimkehren. Heimkehren nach Berlin.

Zu uns.

Drei Frauen, zwei Kinder: meine Mutter, meine Schwester Christa mit ihren beiden Kleinen, ich. Es soll Züge geben.

Vollgestopft mit heimkehrenden Frauen. Frauen, die von ihrem Unglück erzählen werden, ohne damit aufhören zu können, müde Kinder, ungeduldig, mangelernährt, lauthals brüllend.

WCs, deren Türen kaum schließen oder sogar weit offenstehen, stinkend nach abgestandenem Urin, Erbrochenem, billigem Desinfektionsmittel.

Sich durch Schweigen wappnen.

Nichts eindringen lassen.

Sich mit einem Platz im Gang begnügen, auf seinen Koffer setzen.

Mein Koffer, meine Mutter, meine Schwester, mein Neffe, meine Nichte.

Der Vater in Berlin.

Das Haus – steht noch.

Die Familie. Ein Leben, wie es sich gehört.

Wie es sich gehört?

Stehende Wendung, die neu bestimmt werden muss.

Denn nichts gehört sich mehr

nichts ist mehr wie früher.

Da gab es die Vernichtung von sechs Millionen Menschen, verdinglicht, ermordet, stets gegenwärtig, vor unseren grauen Gesichtern, unseren gesenkten Augen.

Die Scham.

Angst, deutsches Wort, denkt man dran, beißt man die Zähne zusammen.

Ich selbst bin feige. Ich bin zwanzig und will leben.

Ohne Angst, ohne Scham, ohne Hunger oder Durst.

Dem Elend den Rücken zukehren.

Warten.

Beim Warten

eine andere Sprache sprechen

lachen

mich lösen.

Mit dem französischen Geliebten in der schönen Wohnung leben, die von der Armee beschlagnahmt wurde.

Es wird noch andere Züge geben.


Der französische Geliebte erzählt von Tunis, wo er geboren wurde. Wohin er heimkehren wird.

Ob das eine Einladung ist? Nordafrika, die Ehe, ein Tor zur Freiheit?

Ich spüre, wie mir Flügel wachsen.

EIN NATÜRLICHES HINDERNIS

Oktober. Keine Regel. Kein einziger Tropfen Blut.

Übelkeit. Abends gehe ich auf einmal früh ins Bett.

Die Brüste schmerzen. Ich bin wohl schwanger.

Schwanger? Bin ich schwanger? Einfach so, aus heiterem Himmel?

Nackt vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer, nehme ich mich in Augenschein. Von vorne, von der Seite. Der Bauch ist etwas schlaff. Immer noch derselbe? Ja? Nein! Mein Leben ist anders. Ich bin anders. Mit einem Bauch befrachtet, der sich schwer anfühlt.

Wo ist der geflügelte Traum von gestern hin?

Ich bin nicht mehr diejenige, die aufbricht. Ich bin Teil eines Wirs, die wir zusammen aufbrechen … wohin, wozu?

Ein Kind … Will ich es? Will es der Mann, der Geliebte?

Haben wir, und sei’s nur flüchtig, daran gedacht, bei der Liebe?

Haben wir auch nur darüber geredet?

Ist mir das wirklich passiert?

Ein Kind. Sollte ich mich nicht freuen?

Es gar nicht erwarten können? Es zu bekommen? Es zu sehen? Zu berühren? Ein Name … Ein Bild … Erika …

Entfernte Kusine. Familiengeheimnis. Sie soll sich eines Kindes entledigt haben. Mit Hilfe eines Arztes. Danach soll sie geweint haben, am Ostseestrand. Das Kind begraben …

Die Tränen im Sand …

Das Kind des Zufalls, ein Unfall, Schicksal.

Unerwartet.

Ein Arzt, ich brauche einen Arzt, brauche Gewissheit.

Er soll mir sagen, ob ich wirklich schwanger bin.

– Eindeutig, meine Dame.

Bin ich nicht zu jung für diese Bezeichnung? Ich erwarte, dass er mich berät, dieser Mann in Weiß. Dass er mir die Frage an den Augen abliest.

Schließlich sagt er zu mir, ja, in diesen schwierigen Zeiten könnte man vielleicht eine Abtreibung vornehmen …

Weil das aber gesetzeswidrig sei, müsste die Ausschabung ohne Narkose erfolgen …

– Und falls es dann zu Komplikationen kommt … Wären die Schmerzen unerträglich, verstehen Sie?

Sag mir, Arzt, würdest du das deiner Frau antun?

Meine Frage bringt ihn in Bedrängnis.

– Nein, auf keinen Fall, niemals!

Ich habe Angst vor dem Messer im Leib. In meinem, nicht dem des Kindes.

Ich stehe wieder auf. Ziehe den Schlüpfer wieder an. Meine Schuhe.

Was soll’s. Das Kind des Zufalls wird mein Kind werden.

Ich werde uns schon zu helfen wissen.

HOCHZEIT

Es ist Januar, das Meer aufgewühlt.

Das Schiff schaukelt, alles schwankt um mich herum, ich erbreche, links, rechts, in meiner Koje, auf meine Kleider, im Klo, über Bord, ich übergebe meinen Mageninhalt, alles, bis auf den letzten Tropfen, und dann fängt alles wieder von vorn an. Liegt es daran, dass ich schwanger oder dass ich seekrank bin, ist es Angst vor dem, was ich in Angriff nehme? So oder so werde ich niemals diese jämmerliche Überquerung eines grauen, wintrigen Mittelmeers vergessen.

Hätte es nicht blau sein müssen, dieses Meer? Glücklich, ich? Die Stadt.

Tunis.

Warum ist die Luft so unbewegt, so grau?

Wo ist denn die Sonne?

Der Geliebte hat beim Rathaus das standesamtliche Aufgebot bestellt. Auf dass es alle zur Kenntnis nehmen.

So will es der Brauch. Das Gesetz. Die Welt hat zehn Tage Zeit, um Widerspruch einzulegen. Die Welt? Wer hätte einen Grund, wer ein Wörtchen mitzureden, wer einen Rat zu erteilen? Niemand.

 

Ich bin die Fremde in der Fremde, ich werde Ja sagen, eine Urkunde unterschreiben, einen anderen Namen tragen.

Der Geliebte hat sich auch verändert. Er ist nicht mehr der stolze Eroberer, der fröhliche Befreier meines Landes, er ist wieder der gleiche Beamte wie in seinem Leben vor dem Krieg.

Muss ich ihn heiraten?

Just, als ich die paar Stufen zur Tür des Rathauses hinaufgehe, wird mir mein Irrtum bewusst.

Heiraten, ich?

Mein Leben Tag und Nacht mit einem anderen teilen?

Wegen eines Kindes?

Wehr dich, Marguerite, ruf Halt, erkläre, dass du nicht heiraten wirst! Nicht heute, nicht ihn, und wenn du noch so schwanger bist, nein, du willst nicht heiraten … Du bist stark, du wirst allein zurechtkommen … Sag dem Mann und seinen beiden Trauzeugen, wir müssen umkehren, irgendwo ein Gläschen trinken, hier, in dieser Bar an der Ecke, und in Ruhe über alles reden. Sonnenkerne knabbern …

Ich gehe durch die Tür.

Habe ich das Recht, dem Kind seinen Vater vorzuenthalten?

Ob diese Frage sentimental ist?

Wer wird mir Antwort geben?

Das Kind kann sich nicht äußern.

Wer versteht die Sprache von Faustschlägen oder Fußtritten gegen die Gebärmutterwand?

Ein paar Sekunden lang

fern von meiner Familie

von allen, die ich wirklich kenne

allein

schwanger

durch meine Natur und meine Taten gezwungen, ein Kind im Werden zu bergen

bin ich verwirrt.

Was würde der Standesbeamte mit seiner unverhofften Freistunde anfangen, in seinem trostlosen Büro, in das die Sekretärin vielleicht noch einen Strauß aus blauen, weißen und roten Anemonen stellen wird, um die Zeremonie aufzuheitern?

Und ich? Was würde ich tun?

Das Meer, Europa, Berlin …

Da wird mir schwindlig

ich weiß nicht wohin.

Ich würde gern laut verkünden, das Aufgebot gehöre annulliert, getilgt, vergessen

ich sei keine glückliche Verlobte, keine Frau, die man heiratet, keine Mutter, die bereit ist, ein Kind aufzuziehen.

Ich würde mich gern setzen, hier,

auf dieser grauen Bank

in diesem Flur

mich ganz und gar ausweinen.

Liege ich falsch, liege ich richtig?

Wer wird es mir sagen?

Die Wörter wirbeln in meinem Kopf:

Affentheater, Farce, Unsinn …

Ich betrete das Büro, in dem die Ehe geschlossen werden wird.

Der vermeintliche Ausgang führt in ein schwieriges Leben.

SCHRÖPFGLAS UND PFERDEBLUT

Sie hieß Clémentine. Eine Korsin, in Schwarz gekleidete Witwe, klein, stolz, Postangestellte, energisch und dünnhäutig.

Alt, wie mir schien.

Sie brachte ihren Sohn Jean und mich, die schwangere Schwiegertochter, in ihrer Wohnung in der Rue de Bretagne Nr. 43 unter, klein, beengt, mit abgenutzten Möbeln aus lackiertem Holz.

Morgens reicht mir Clémentine ein Glas Pferdeblut, gut für die werdende Mutter, sobald ich huste – nur ein ganz klein wenig, während dieses verregneten Frühlings –, bietet sie an, mich zu schröpfen. Um sie nicht zu kränken, lasse ich sie machen.

Sie hingegen macht sich über mein Verlangen nach heißen Bädern lustig:

– Also wirklich, Marguerite, Sie haben sich an Luxus und Verschwendung gewöhnt!

Ich mag es nicht, wenn man mich ein verzogenes Kind nennt.

Meine Eltern zählten niemals zu den Reichen.

Ich halte etwas Abstand. Bemühe mich, nicht zu viel Platz einzunehmen. Lächle höflich. Schweige.

Schweige auch dann, als die alte Frau mit einem lebenden, an den Beinen gefesselten Huhn vom Markt zurückkommt, Anstalten macht, dem sichtlich nervösen Vogel die Kehle durchzuschneiden, mich bittet, den Teller voller fein gehackter Zwiebeln zu halten, um das Blut aufzufangen:

– Das gibt einen feinen Braten!

Schweige immer noch, als Mutter und Sohn über das enthauptete Tier lachen, das in der engen Küche hin und her rennt.

– Fang’s doch ein, ruft mir der Sohn zu.

Ich lächle nicht mehr.

Nein! Nicht dass mir die Worte fehlten.

Ich habe Angst, das, was ich sagen möchte, herauszuschreien.

Durch das Meer von allem getrennt, was ich kenne,

fürchte ich die unbekannte Zukunft

den Mann, von dem jetzt

mein tägliches Leben abhängt

die alte Frau, über die er zu mir sagt,

sie könne in Rage geraten, »wenn es sie überkommt«.

Es – was soll das sein?

Das Kind wird in meine Ungewissheit hineingeboren werden.