Loe raamatut: «Eilandfluch»
Eilandfluch
Impressum
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Epilog
Reif für die Insel?
Die Autorin
Danksagungen
Eilandfluch
Das Grauen von La Gaiola
Marie Kastner
XOXO Verlag
Impressum
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96752-021-7
E-Book-ISBN: 978-3-96752-521-2
Copyright (2019) XOXO Verlag Umschlaggestaltung: Grit Richter
© Ulrich Guse, Art Fine Grafic Design, Orihuela (Costa)
© Fotos/Grafiken: Lizenz von www.dreamstime.com
Buchsatz: Alfons Th. Seeboth
Rechtlicher Hinweis:
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten rund um diesen Roman sind, abgesehen freilich von real existierenden Ortschaften, frei erfunden. Dasselbe gilt bezüglich der beschriebenen Vorgänge bei Behörden sowie anderen Institutionen oder Firmen. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Menschen sowie deren Vereinigungen sind von der Autorin nicht beabsichtigt und wären daher rein zufällig.
Selbstverständlich gilt letzteres nicht für ›Öffentliche Personen‹ aus der Politik.
Hergestellt in Bremen, Germany (EU)
XOXO Verlag
ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH
Gröpelinger Heerstr. 149
28237 Bremen
Gewidmet all jenen mutigen Menschen, die es wagen,
das Offensichtliche zu ignorieren und den Dingen tabulos auf den Grund zu gehen
auch wenn die Wahrheit manchmal schwer zu ertragen ist …
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Und ewig lockt das Eiland
Juni 2014
»Molto bene, mille grazie ea presto!«, bedankte sich Thorsten Sasse euphorisch. Er sprach passables Italienisch, seit er vor einigen Jahren einen Crashkurs an der Volkshochschule besucht und seine Kenntnisse seither durch mehrere Toskana-Urlaube aufpoliert hatte. Das schien sich jetzt, im Juni 2014, auszuzahlen.
Kaum hatte er auf das rote Hörersymbol am Display seines IPhones gedrückt, vollführte der semmelblonde Achtundzwanzigjährige ungestüme Bocksprünge, quer durch sein geräumiges Büro. Dieses lag im zehnten Stock eines Hochhauses im Frankfurter Finanzviertel. Hurra! Das dreiköpfige Investorenkonsortium stimmte der Finanzierung seines brandneuen Vorhabens zu, und soeben hatte ihn der Hauptgeldgeber aus Neapel angerufen, um die frohe Botschaft zu verkünden.
Das musste Mona unbedingt sofort erfahren! Mit zitternden Fingern rief er das Model an, konnte vor Freude kaum an sich halten. Es dauerte ihm heute viel zu lange, bis die Schöne mit den kroatischen Wurzeln sich endlich mit ihrem Namen meldete. Ihre Stimme klang verschlafen.
»Guten Morgen, mein Schatz! Du, ich muss dir unbedingt was erzählen«, frohlockte Thorsten ins Smartphone.
»Was kann es um diese Uhrzeit schon so Wichtiges geben? Ich bin nach der Modenschau erst gegen drei Uhr ins Bett gekommen«, beschwerte sich Mona.
Thorsten sah auf die Uhr. Himmel, erst 7.30 Uhr! Klar, dass sie sauer war. Er hatte gegen sein Versprechen verstoßen, nicht vor zehn anzurufen. Mona war erklärte Langschläferin, während er eher zu den frühen Vögeln zählte. Das lag allerdings nur zum Teil an ihren völlig unterschiedlichen Berufen, führte selbst am Wochenende gelegentlich zu kleineren Reibereien. Sie kam vor
Mittag nicht aus den Federn, während er um diese Uhrzeit für gewöhnlich bereits eine längere Joggingrunde hinter sich hatte.
»Nicht nörgeln, Liebling, ich mache es wieder gut. Wie wäre es mit einem Essen beim Italiener, heute Abend um acht?«, schlug er kleinlaut vor.
»Meinetwegen, geht klar. Aber jetzt bin ich schon mal aufgestanden. Warum rufst du überhaupt an?«, fragte sie in versöhnlichem Ton. Endlich. Auf diese Frage hatte er gehofft.
»Ich bekomme die Kohle! Eine halbe Million Euro, das ist der Wahnsinn! Die Investoren sind von meiner Idee vollkommen überzeugt, und das sagt im Grunde schon alles. Daher kann ich gleich voll in die Werbung einsteigen, sobald die Plattform fertig programmiert ist.«
»Echt? Die finanzieren das tatsächlich?«, fragte Mona ungläubig. Thorsten spürte, wie sein Adrenalinspiegel sprunghaft anstieg. Seine äußerst attraktive Freundin gehörte zu jenen skeptischen, latent pessimistischen Menschen, für die das Glas immer halb leer ist. Ich hätte es wissen müssen, dachte er genervt.
Er vernahm, wie sie mit ihren Plüschpantoffeln in die Küche tappte. Das zugehörige Bild kam unwillkürlich aus seinen Erinnerungen hoch. Der offene, kniekurze Seidenkimono in Smaragdgrün, dessen Bindebänder lose herabhingen und über den Parkettboden schleiften, die schlanken Beine, das verwuschelte lange Haar, das sie sich im Gehen von den Augen strich … als eingefleischter Gewohnheitsmensch war Mona Horváth höchst berechenbar.
»Warte, gleich bin ich ganz Ohr. Ich lege mal schnell das Telefon weg«, gähnte die Fünfundzwanzigjährige. Im Hintergrund röchelte die Kaffeepad-Maschine, Tassen klapperten. Typisch, sie fischte ihren Pott wieder geradewegs aus der Spülmaschine. Mit Aufräumen und Ordnungssystemen hatte sie nicht viel am Hut; auch das war ein Grund für Störfeuer, die das Zusammensein mitunter trübten. Besonders galt das für Tage, an denen sie sich in seiner durchgestylten Wohnung trafen.
Äußerlich betrachtet, passten sie hervorragend zueinander. Er, der blonde, hochgewachsene Sohn eines wohlhabenden Investmentbankers, der praktisch mit dem goldenen Löffel im Mund geboren worden war – und sie, das erfolgreiche, rassige Dessous Model. Sie waren beide daran gewöhnt, dass man sich auf der Straße nach ihnen umdrehte, erst recht, wenn sie im Doppelpack auftraten.
Für ihn erbrachte die komplizierte Beziehung mit Mona sowieso einen zusätzlichen Mehrwert, den er ihr gegenüber aber besser nicht erwähnte. Er musste rein schon aus Prestigegründen eine tolle Frau an seiner Seite haben. Erfolgreiche Männer besaßen seit jeher die Schönsten der Schönen, dies war ein ungeschriebenes Gesetz. In der Welt der kühlen Kalkulation kannte er sich dank seines Vaters bestens aus. Ergo – Augen zu und durch.
Nach einer gefühlten Ewigkeit und ein paar Schlucken Kaffee schenkte ihm Mona ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Wie gesagt, die Herren Moretti, d’ Angelo und Battaglia haben einen Investment Case in meinem Vorhaben gesehen. Und glaube mir, die finanzieren beileibe nicht alles! Wenn diese Haie bereit sind, so viel Kapital in meine Firma zu stecken, wittern sie fette Gewinne. Sie haben nur eine einzige Bedingung gestellt: Ich soll zur Einführung eine groß angelegte Präsentation bieten und dazu möglichst viele potentielle Affiliate Marketing Kunden und Presseleute einladen.«
»Das freut mich für dich, Schatz. Aber ich habe immer noch nicht begriffen, wieso du dich nicht mit deinem bestens laufenden Vergleichsportal für Urlaubsreisen zufrieden gibst. Davon kannst du doch prima leben. Wie das neue Projekt funktionieren soll, müsstest du mir sowieso noch erklären. Und wieso hast du dir ausgerechnet drei Italiener ins Boot geholt, anstatt deinen alten Herrn nach dem Investment zu fragen? Wer garantiert dir, dass die Typen nicht der Mafia angehören?«
Thorsten konnte deutlich heraushören, dass sie das Interesse nur ihm zuliebe vorgab. In Wirklichkeit langweilte sie Geschäftliches. Womit er seinen aufwändigen Lebensstil verdiente, war ihr im Grunde egal. Sie verfügte über eigenes Einkommen.
»Wir reden heute Abend drüber, ja? Komm du erst einmal in die Gänge, frühstücke in aller Ruhe. Nur so viel noch: Battaglia hat mir einen Vorschlag für die Location der Präsentation unterbreitet. Da unser Portal europaweit aktiv sein soll, können wir diesen Event genauso gut in Italien durchziehen.
Im Golf von Neapel soll es eine kleine Insel geben, auf der eine alte Villa steht. Das wäre die passende Kulisse für Investoren, Firmenbosse und uns, man könnte sich dort fulminant in Szene setzen. Zumal in der Region Neapel alles, was auf dieser Insel geschieht, ganz automatisch von Interesse ist. Man munkelt dort, dass sie verflucht sein soll.«
»Eine verfluchte Insel im Mittelmeer als schräge Kulisse für deine Geschäfte? Na, wenn das mal keine Aufmerksamkeit erregt. Davon abgesehen … dieser außergewöhnliche Ort würde sich wahrscheinlich auch für eine Catwalk Show der neuesten Kollektion von Versace eignen, oder?«, lachte Mona.
Sie räusperte sich schuldbewusst. Sobald es um seine Entscheidungen ging, duldete ihr Freund keine Späße. Er konnte dann schnell ekelhaft werden.
»Gut, dann also bis heute Abend. Holst du mich ab?«
»Pünktlich wie immer, ich warte aber im Auto. Sonst würde ich auf der Suche nach einem freien Parkplatz vermutlich wieder eine halbe Stunde lang um den Block kurven müssen.«
Nachdem er das Gespräch nach ein paar Küsschen beendet hatte, googelte Thorsten Sasse sich auf der Suche nach besagter Insel kreuz und quer durch das Internet. Was er dabei zu sehen und lesen bekam, bestärkte ihn fest in der Annahme, dass Enzo Battaglia mit seinem Vorschlag einen Volltreffer gelandet hatte. Er musste diese pittoreske Doppelinsel einfach für seine Präsentation mieten!
*
Der feuerrote Jaguar xe samt Fahrer wartete, mit laufendem Motor und halb auf dem Gehweg stehend, vor dem Apartmenthaus, in dem Mona sich vor einem halben Jahr eine Eigentumswohnung gekauft hatte. Sie lag im obersten Stock eines Wohnund Geschäftshauses am Kleinen Hirschgraben.
Hier in Frankfurts Innenstadt war jeder verratzt, der sich keinen Tiefgaragenstellplatz mietete. Derjenige seiner Freundin war mit ihrem sonnengelben Mini Cooper belegt. Ansonsten standen rund um diesen Bereich nur Kurzzeitparkplätze und sündhaft teure Parkhäuser zur Verfügung. Viele der Gehsteigflächen waren zudem mit Sicherheitspollern gegen Befahren und Parken gesichert. Nur vor Ausfahrten oder neben Mülltonnen konnte man sich für kurze Zeit verbotswidrig hinstellen.
Genau das tat Sasse soeben, nervös auf die Zeitanzeige am Armaturenbrett schielend. Sie verspätete sich wieder, typisch!
Zehn Minuten später schwebte seine Freundin aus der Haustür. Ihr Outfit passte perfekt zur Wagenfarbe. Heute kombinierte sie ein knapp knielanges, in Taillenhöhe asymmetrisch drapiertes, feuerrotes Shiftkleid mit hauchdünnen schwarzen Feinstrümpfen, hohen Lacksandaletten und einem goldenen Handtäschchen im Clutch-Stil. Dazu trug sie, wie immer und überall, dezenten Goldschmuck. Das lange schwarze Haar hatte sie mit einem Lockenstab bearbeitet, es fiel ihr in sanften Wellen über die Schultern.
Ihm stockte bei diesem Anblick schier der Atem. Noch immer, obwohl sie bereits seit acht Monaten ein Paar waren.
Eilig begab sich Thorsten auf die Beifahrerseite, um ihr mit eleganten Bewegungen die Wagentür aufzuhalten. Mehrere Passanten gafften neugierig. Mona schmiegte sich gekonnt in die rot-schwarze Lederkomposition des Sitzes, zog ihre langen Beine ins Fahrzeuginnere – und schon röhrte der auf Hochglanz polierte Jaguar davon.
Die Fahrt endete auf dem Parkplatz eines Edel-Italieners, den Thorsten und Mona als Lieblingslokal auserkoren hatten. Pizza und Spaghetti Bolognese suchte man hier vergebens auf der Karte, handelte es sich doch um ein Spezialitäten-Restaurant der gehobenen Kategorie. Entsprechend exklusiv waren auch die Preise. Doch wer hierher ins Positano zum Essen kam, für den spielte Geld höchstens noch eine untergeordnete Rolle.
Kaum sah er seine Stammgäste auf das Gebäude zu kommen, wieselte Inhaber Mario Valluzzi zur Eingangstür, riss diese weit auf. Er geleitete die erlesenen Gäste stets höchstpersönlich zum besten Tisch, den er auch heute für sie reserviert hatte.
Hier, am Platz neben dem weißen Marmorbrunnen, hatten sie sich einst kennengelernt und verliebt. Und hier hatte Thorsten seiner Angebeteten wenige Tage später voller Stolz erzählt, dass er trotz seines jugendlichen Alters bereits mehr als vier Millionen Euro mit einer, durch massive Fernsehwerbung bekannten, Vergleichsplattform für Flüge und Urlaubsreisen sowie einigen lukrativen Investments verdient habe. Er wusste bis heute nicht, ob sein Reichtum der Hauptgrund dafür war, dass Mona ihm seither nicht mehr von der Pelle wich.
Valluzzi stellte eine reich verzierte Platte mit Antipasti, kleinen Töpfchen mit Dips und frischem Weißbrot auf die schneeweiße Tischdecke. Anschließend reichte er seinen Gästen schwungvoll die überdimensionierten, in edles grün-weiß-rotes Kalbsnappaleder gebundenen Speisekarten.
»Nicht nötig«, winkte Thorsten ab. »Ich nehme, wie meistens, deine göttliche Saltimbocca und eine Flasche Amarone. Was darf ich für dich ordern, mein Schatz?«
Mona hasste es eigentlich, wenn er voreilig bestellte und ihr gar keine Zeit gab, selbst in der Karte zu stöbern. Sie schluckte ihren Ärger jedoch hinunter, wollte nicht gleich zu Beginn des Abends Unstimmigkeiten heraufbeschwören.
»Saltimbocca klingt sehr gut! Und zum Wein hätte ich gerne noch ein Pellegrino«, sagte sie lächelnd.
»Sehr wohl, die Herrschaften. Zweimal Saltimbocca, kommt sofort.!«, dienerte der klein gewachsene Italiener routiniert und steuerte schnellen Schrittes die Küche an. Drei Minuten später schimmerte bereits der erlesene Rotwein in den Gläsern, nach dem Thorsten einen Schluck fachmännisch gekostet und diesen Jahrgang für gut befunden hatte.
Beide bedienten sich bei den Antipasti, dann erhob Thorsten sein Glas.
»Trinken wir auf eine erfolgreiche Zukunft, auf die nächsten Millionen!«, deklamierte er feierlich. Das Paar prostete sich zu, und Mona wollte endlich wissen:
»Worauf genau stoßen wir hier überhaupt an? Bislang sprichst du in Rätseln. Wozu also hast du den italienischen Investor an Land gezogen?«
»Die Investorengruppe«, berichtigte Sasse mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ich möchte ein neuartiges Portal programmieren und so gut wie möglich bewerben lassen, aber eines mit richtig aufwändigen Features und in mehreren Sprachen.«
»Noch eines? Aber wofür den ganzen Aufwand, du verdienst mit deinem Urlaubsportal doch nicht schlecht«, wunderte sich das Model und nippte vornehm am Weinkelch.
»Das ist im Moment noch richtig. Die Konkurrenz hat jedoch in den letzten Jahren auch nicht geschlafen. Neue Portale schießen wie die Pilze aus dem Boden. Der Kuchen namens Tourismusmarkt muss inzwischen in viele Stücke aufgeteilt werden. Es ist abzusehen, dass die Ära der schwarzen Zahlen irgendwann vorübergeht. Inzwischen gibt es gar schon Vergleichsportale, die Vergleichsportale vergleichen. Es wird nicht endlos so weitergehen wie bisher. Unsere Position als Marktführer wackelt.«
»Ich verstehe«, nickte Mona. »Und dein neues Projekt ist krisenfester?«
»Das will ich meinen, ja. Und um auf deine Frage von heute Vormittag zurück zu kommen: Ich rede seit dem Streit neulich noch immer nicht mit meinem Vater. Nähme ich jetzt von ihm Geld, müsste ich mir von diesem blasierten Egomanen wieder überall hineinreden lassen. Nein danke, darauf habe ich keine Lust. Lieber erhält ein Fremder die Zinsen.
Aus privater Hand möchte ich lieber nicht zu viel Kapital in meiner Firma versenken. Wie du weißt, wohne ich im Moment noch zur Miete. Sobald ich das richtige Objekt gefunden habe, werde ich in eine Immobilie investieren. Da muss ich von heute auf morgen flüssig sein.«
»Das sehe ich alles ein. Aber du bist mir noch die Vorstellung deiner Idee schuldig. Also – um was für ein Portal handelt es sich diesmal?«
»Nur Geduld, mein Liebes. Jetzt essen wir erst einmal in Ruhe. Sieh mal, Mario kommt schon mit dampfenden Tellern aus der Küche. Nachher beim Dessert lasse ich die Katze aus dem Sack, versprochen«, grinste Sasse schelmisch. Seine Miene wurde jedoch gleich wieder ernst.
»Und vorsorglich noch etwas, Mona. Bitte nimm hier den Begriff Mafia nicht in den Mund, wenn du von den Investoren sprichst. Wir befinden uns gerade in einem italienischen Restaurant, und Mario stammt aus der Nähe von Neapel. Man kann nie wissen«, fügte er etwas leiser hinzu.
*
Das Hauptgericht mundete wieder mal vorzüglich, auch wenn die Portionen, auf Tellern mit extra breitem Rand angerichtet, ein bisschen mickrig dahergekommen waren. Zum Nachtisch gönnte sich Thorsten eine frisch zubereitete Tiramisu nach Art des Hauses, während Mona auf ihre Figur achten musste und lediglich einen Espresso mit Amarettini bestellte.
Zum Glück füllte sich das Restaurant nach 20 Uhr allmählich; ansonsten hätten sie den überaus gesprächigen Wirt vermutlich wieder endlos lange am Hals gehabt. Der extrovertierte Italiener liebte es über alles, seine Gäste zu unterhalten, und schoss dabei meistens weit über das Ziel hinaus. Man konnte sich dann kaum mehr privat unterhalten. Dies war der einzige Wermutstropfen an diesem wunderbaren Etablissement.
»Gut, dann will ich dich mal besser nicht länger auf die Folter spannen, sonst platzt du mir vor Neugier noch«, meinte Thorsten augenzwinkernd. »Ich werde eine innovative Plattform für Geschenke ins Leben rufen. Du kennst doch bestimmt diese Tische, die Brautpaare vor ihrer Hochzeit in Kaufhäusern aufstellen lassen, damit sich die bucklige Verwandtschaft dort in Ruhe Geschenke aussuchen kann?«
»Klar! Das ist so Brauch, damit niemand etwas doppelt kauft und das Hochzeitspaar keinen Ramsch geschenkt bekommt, den es hinterher gar nicht gebrauchen kann.«
»Richtig, und dieses Prinzip habe ich übernommen. Aber bei meiner Idee geht es darum, eine Geschenkeauswahl für sämtliche Eventualitäten zusammenzustellen, also für Geburtstage, Weihnachten, Ostern, Nikolaus, Jubiläen, Valentinstage … alle denkbaren Geschenkanlässe eben.«
»Sowas gibt es im Netz doch bestimmt schon«, gab Mona emotionslos zu bedenken.
»Nicht in der effektiven Form, wie es mir vorschwebt. Natürlich habe ich das vorher eingehend eruiert«, entgegnete Thorsten scharf. Er fühlte sich ein bisschen beleidigt. Trotzdem referierte er weiter, schon weil er ihren Einwurf keinesfalls auf sich sitzen lassen konnte.
»Pass auf, es funktioniert folgendermaßen: Jemand legt sein persönliches Profil mitsamt seinem Foto an. Und schon kann es losgehen. In die dafür vorgesehenen Felder der wishlist fügt er Fotos oder Icons der Dinge ein, die er gerne in nächster Zukunft haben möchte. Es stehen eine Menge hübscher Grafiken zur Verfügung, die Wünsche symbolisieren – also bunte Bildchen von einem Geldschein, einem Smartphone, einer Uhr und so weiter. Per drag and drop kann man sie leicht in seine persönliche Wunschliste ziehen. Das bekommen selbst Kinder locker hin, und die sind eine überaus wichtige Zielgruppe.
Angenommen, der User möchte zwar ein Smartphone, aber nicht irgendeines. Der wählt dann eben nicht das Symbol einer allgemeinen Produktgruppe aus, sondern setzt ein Foto von der Webseite des Herstellers in das Feld, also zum Beispiel ein IPhone 6 S in der gewünschten Farbe.
Unter dieses Feld könnte man ergänzend einen Text schreiben und bei ausgefallenen Wünschen angeben, in welchem Shop man das Objekt seiner Begierde gesehen hat. Selbstverständlich können auf diese Weise auch Erlebnisgeschenke, Reisen, eine Stunde von Vaters Zeit am Wochenende und ähnlich Konkretes gewünscht werden.«
»Das klingt interessant. Und den Link zu meinem persönlichem Profil sende ich dann an potentielle Schenker, also Freunde, Verwandte und Arbeitskollegen?«
»Du hast es erfasst. Sobald einer der Schenker ein Symbol für sich fest reserviert und den entsprechenden Artikel über einen Link online gekauft hat, verschwindet es wie von Zauberhand aus der Wunschliste.«
»Aber sind die billigen Sachen dann nicht zuerst weg, und die teureren Wünsche bleiben auf ewig unerfüllt?«
»Das wäre sicher tatsächlich so – wenn wir keine Crowdfunding-Option eingebaut hätten. Es können sich bei uns mehrere Schenker zusammentun und in ein kostspieliges Gemeinschaftsgeschenk investieren.
Wir propagieren diese Lösung natürlich besonders, was unsere Affiliate-Unternehmen mit entsprechend aggressiv platzierten Lockangeboten forcieren werden. Verknüpfung ist alles. Dazu gibt es sogar zinsgünstige Finanzierungsangebote, damit sich Oma den Gebrauchtwagen für ihren Enkel auch dann leisten kann, wenn der Rest der Familie beim Crowdfunding nicht mitspielen sollte.«
»Und du verdienst über Vermittlungsprozente, die wiederum die Affiliate-Nehmer an dich abdrücken?«
»In der Hauptsache ja. Dazu kann man am Rand der Webseite noch Werbeflächen für gutes Geld vermieten. Am Ende profitieren alle davon. Der Onlinehandel, Kreditinstitute, wir natürlich und auch der Beschenkte, der endlich keine doppelten oder unpassenden Präsente mehr bekommt. Stattdessen hat er eher eine Chance auf Geschenke aus dem Hochpreissegment. Du siehst also – wir revolutionieren das Schenken. Dieser Satz wird auch zu unserem Slogan werden«, erklärte Thorsten voller Stolz.
»Niemand muss sich künftig mehr in die überfüllte Innenstadt quälen und sich den Kopf darüber zerbrechen, was er seinen Liebsten in diesem Jahr zu Weihnachten kaufen soll. Geht alles wie von selbst, mit ein paar Klicks.«
»Ist ja gut und schön … aber es könnte der Vorwurf kommen, dass ihr damit den Einzelhandel schädigt. Außerdem führen die Links doch sicher nur zu bestimmten Online-Shops, oder?«
»Klar. Für den Anfang ist es wichtig, dass wir mit Shops verlinkt sind, die so ziemlich alles im Angebot haben. Ich muss dir sicher nicht sagen, welche das sind. Auch für Erlebnisgeschenke, Textilien oder Technik gibt es Marktführer, und an die treten wir selbstverständlich als erstes heran.
Die namhaften Kaufhausketten verkaufen mittlerweile selber schon über Onlineshops, also wäre das alles kein Problem. Und selbst wenn jemand in die kleine Boutique in der Fußgängerzone geht und dort einkauft – der kann dann immer noch den Kassenzettel einscannen und so beweisen, dass er das Geschenk zu Recht aus der Liste nimmt. Allerdings geschieht das in diesem Fall natürlich manuell.«
»Aha … und ganz nebenbei erhaltet ihr jede Menge Daten über das Konsumverhalten der Leute, nicht wahr?«
»Korrekt. Sobald nämlich jemand die Seite über unsere App auf Smartphone oder Tablet aufruft, kommen dazu noch die jeweiligen Standortdaten. Aber keine Sorge, so etwas stört die Leute inzwischen schon gar nicht mehr. Das macht schließlich jeder«, beschwichtigte Thorsten.
»Na, dann auf ein gutes Gelingen! Meine Liste bekommt ihr sicher als erste. Du weißt ja, welchen Blödsinn mir meine Mutter immer zum Geburtstag schickt. Sie meint es ja nur gut, aber ich brauche nun mal keinen selbst gestrickten Wärmflaschenüberzug, auch wenn sie dafür Wolle in meinen Lieblingsfarben verwendet hat … «
Thorsten verdrehte amüsiert die Augen.
»Und selbst sowas könnte man sich wünschen. Einfach das Symbol mit Stricknadeln und Wolle auswählen, drunter schreiben Wärmflaschenbezug, und dazu die Maße vermerken.«
»Um Himmels willen, bloß nicht!«, kicherte Mona. Sie erhob ihr Glas, um Thorsten zuzuprosten und den Rest auszutrinken. Doch ehe sie sich versah, nahte Mario Valluzzi schon von hinten und schenkte ihr ungefragt nach.
»Wäre doch schade um die gute Tropfen, eh?«, scherzte er in seinem gebrochenen Deutsch.
Thorsten fiel siedend heiß etwas ein.
»Komm, setze dich einen Moment zu uns, wenn es geht«, lud er den Restaurantbesitzer zu Monas Erstaunen ein. Normalerweise ließ ihr Freund, möglichst gleich nach dem Aufessen, die Rechnung kommen; mit dem Verweis, wieder an die Arbeit zu müssen – um einem längeren Plausch zu entgehen.
Mario strahlte über beide Ohren, gab dem Kellner ein Zeichen, seinen Part mit zu übernehmen, und platzierte sein knochiges Hinterteil flugs auf einem der freien Stühle.
»Und wie geht es meine gute Freund?«
»Molto bene, wie ihr Italiener das so schön ausdrückt. Du … ich hätte da mal eine Frage an dich. Du kommst doch aus der Gegend um Neapel, wenn ich nicht irre?«
»Si, aus Positano, was auch Name von meine Laden hier ist«, nickte Mario eifrig.
»Prima. In diesem Fall müsste dir doch die Insel La Gaiola etwas sagen?«
Marios Miene gefror zu Eis. Er wirkte geradezu erschrocken.
»Nix du aussprechen Name von verflucht Insel. Nix wissen, was kann passieren. Warum du fragst?«
»Oh, ich möchte hinfahren. Wir denken darüber nach, demnächst dort auf der Insel eine geschäftliche Präsentation zu veranstalten«, entgegnete Thorsten ungerührt.
»Nein nein, kannst du nix. Nix auf diese Insel. Dort alles kaputt, alles schlecht«, protestierte der Italiener und sah dermaßen unglücklich drein, als habe man ihm angedroht, ihn gegen seinen Willen nach La Gaiola zu deportieren.
»Mir ist bewusst, dass die alte Villa momentan nicht im besten Zustand ist. Das macht ja gerade ihren Reiz aus. Sie gehört seit Jahren der Region Kampanien, weil nach gewissen Vorkommnissen niemand mehr dort leben wollte. Weißt du Näheres darüber?«
Mario schüttelte mit Vehemenz seinen runden Schädel. Seine Lippen wirkten blutleer und verkniffen.
»Ach komm schon, jetzt lass mich nicht betteln! Ich sehe dir doch an, dass du die alten Geschichten kennst. Erzähle mir eine davon, und ich werde mir nochmals überlegen, ob ich dort tatsächlich hinfahren möchte«, behauptete Sasse hinterlistig.
Der Restaurantinhaber bekreuzigte sich hastig, warf flehentliche Blicke zur abgehängten Decke.
»Mamma mia! Hoffentlich nix wirkt Fluch, wenn nur darüber sprechen, über große Unglück von Grappone«, merkte er kleinlaut an.
1978
Ein Fall von schädlichem Hochmut
»In 1970-ern gab mehrere Geschäftsleute in Neapel, die waren schwerreich. Einer davon ist gewesen Gianpascale Grappone. Haben alle gehabt eitle Wettbewerb, du weißt schon … wer von uns hat schnellste Auto, tolle Frau, die schönste Haus … jeder wollte gefeiert sein als heimlich König von bella Napoli.
1978 jeder der Signori hat Grappone beneidet, weil der konnte kaufen sein eigene Insel mit alte Villa auf eine Hälfte. Die musste aber werden … wie sagt man … wieder schön gemacht … ?«
»Renoviert, meinst du wahrscheinlich«, half Thorsten weiter.
»Genau. Das hat gekostet viele Lire, nie wurde fertig. Zu gleicher Zeit sein Geschäfte liefen auf einmal nix mehr gut, kamen Rechnungen viele. Nix lang gedauert, dann war Geschäft total kaputt, Konto leer und der Grappone hat Schulden nix bezahlen können. Musste in Gefängnis einfahren. Stolze Mann in Knast, stell dir vor, was für eine Katastrophe für Ehre von famiglia!
Aber Unglück war noch nix zu Ende. Genau an Tag, wo La Gaiola ist versteigert worden, kam Ehefrau von Grappone bei schwere Autounfall ums Leben.
Insel hat sich so geholt beide, ist bis zu heutige Tag verflucht«, erzählte Mario. Er wirkte dabei nervös, fast wie jemand, der ein Geheimnis ausplaudert und dabei von niemandem überrascht werden möchte. Mehrfach hatte er sich beim Sprechen über die Schulter geschaut, den Kopf eingezogen.
Thorsten Sasse amüsierte sich insgeheim köstlich. Wie dieses sonst so gesprächige und temperamentvolle Kerlchen auf einmal in sich zusammensank, vor Furcht transpirierte und sogar vergessen hatte, ihm noch einen Likör aufzuschwatzen … sein Interesse, diese Insel mit eigenen Augen zu sehen und temporär zu mieten, stieg soeben ins Unermessliche.
»Lass gut sein, Mario. Wir haben genug gehört. Du kannst uns jetzt gerne die Rechnung fertigmachen lassen. Weißt ja Bescheid
– Zeit ist Geld. Nicht, dass es uns am Ende noch wie diesem Grappone ergeht, nicht wahr?«
»Nix machen Scherze damit«, maulte Valluzzi, bevor er aufstand und sich hastig in Richtung seines Kellners bewegte.
Mona war sprachlos.
»Krass!«, war das einzige, was ihr dazu noch einfiel.
*
Vier Personen saßen am Konferenztisch der Liegenschaftsbehörde. Für den Bereich Posillipo war die sogenannte Metropolitanstadt Neapel als Vollzugsbehörde der Regione Campania zuständig, und dieser wiederum gehörten eine Reihe von Immobilien und Grundstücken – unter anderem auch die Insel La Gaiola samt historischer Villa.
Bei einem der Anwesenden handelte es sich um Enzo Battaglia, Sasses Hauptinvestor. Soeben hatte er dem behördlichen Gremium wortreich die Gründe vorgetragen, wieso sein deutscher Geschäftspartner die verwaiste Insel unbedingt für ein paar Tage mieten wollte. Die abweisenden Mienen der drei übrigen Herren ließen jedoch den Schluss zu, dass er sich vergeblich um einen Konsens bemühte.
Der Dienststellenleiter straffte seinen Rücken.
»Grundsätzlich spräche selbstverständlich nichts dagegen, ein Grundstück der Region Kampanien temporär an Privatleute zu vermieten. Wir können in Zeiten der Eurokrise jede Einnahme gebrauchen, keine Frage. Aber nicht dieses Objekt, das geht auf gar keinen Fall. Wir haben, seit das Eigentum auf uns übergegangen ist, ohnehin schon alle Hände voll zu tun, leichtsinnige Touristen von dort fernzuhalten.
Das Betreten der Insel birgt Gefahren, und die haben nichts mit dem angeblichen Fluch zu tun. Immer wieder klettern Leute auf den Felsen herum, balancieren über den schmalen Steg zwischen den beiden Inselhälften, wagen sich trotz Hochwassergefahr in die Grotten oder treiben sich marodierend in der verfallenen Villa herum. Es gibt auf der Insel jede Menge Unfallgefahren, schon weil inzwischen alles verrottet und baufällig ist.
Ich prophezeie Ihnen daher eines, Battaglia. Keine Versicherung weit und breit würde für diesen Event je einstehen wollen. Suchen Sie sich bitte ein anderes Objekt.«