Radieschen von unten

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Radieschen von unten

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Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Die Autorin

Kommissar Maders erster Mordfall in Wernigerode

Kommissar Maders zweiter Mordfall in Wernigerode

Kommissar Maders dritter Mordfall in Wernigerode

Kommissar Maders vierter Mordfall in Wernigerode

Kommissar Maders fünfter Mordfall in Wernigerode

Radieschen von unten

Marie Kastner

XOXO Verlag

Hinweis

Sämtliche Personen und Begebenheiten rund um diese Geschichte sind frei erfunden. Dasselbe gilt bezüglich der beschriebenen Vorgänge in Behörden, Firmen und Organisationen.

Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Menschen abseits „öffentlicher Personen“, sowie deren Handlungen, sind von der Autorin nicht beabsichtigt und wären daher rein zufällig.

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-073-6

E-Book-ISBN: 978-3-96752-573-1

Copyright (2020) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung (Collage): Ulrich Guse,

Art Fine Grafic Design, Orihuela (Costa), Spanien

Fotos/Grafiken: Lizenz von www.dreamstime.com

Umschlagüberarbeitung durch XOXO-Veralg

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Für meinen Sohn Patrick

Kapitel 1

Ich bin dann mal weg

03. Mai 2019, Berufsschule Haldensleben

»Echt, Mann. Ich schiebe inzwischen einen krassen Hass auf die Alte. Wenn die so weitermacht, leg ich sie tatsächlich eines Tages um«, knurrte Paul Zielinski. Er hockte mit seiner selbstgedrehten Kippe lässig auf einem hüfthohen Sandsteinmäuerchen, welches das Gelände des Schulzentrums zur Zufahrtsstraße abgrenzte.

Sein Gegenüber Leon Brettschneider war indes noch voll und ganz mit dem Drehen seiner Zigarette beschäftigt. Er hob nach dem Zukleben des Papers kurz das Kinn und brummte zustimmend, während er angeekelt versuchte, die bitteren Tabakkrümel in seinem Mund auszuspucken.

Fertige Zigaretten konnten sich diese beiden jungen Kerle von ihrem bescheidenen Ausbildungssalär des ersten Lehrjahrs nicht leisten. Am Ende des Geldes auf dem Konto waren jeden Monat noch zahllose Verbindlichkeiten und Wünsche übrig.

»Nee, jetzt mal im Ernst. Die macht mir jeden Tag das Leben zur Hölle, und zwar wegen nix und wieder nix. Wahrscheinlich steckt sie mitten in den Wechseljahren und lässt ihren Frust an mir aus. Wenn bei den Weibern unter der Bettdecke nicht mehr viel läuft, werden sie zickig, sagt mein Vater immer.«

Mitschüler Leon, der in einem anderen Gärtnereibetrieb arbeitete und sich dort pudelwohl fühlte, hakte interessiert nach.

»Womit genau ärgert dich deine Ausbildungsleiterin denn?«

Paul schnippte seine aufgerauchte Kippe weg, obwohl er ganz genau wusste, dass sowas strengstens verboten war. Die Berufsbildenden Schulen Haldensleben legten großen Wert auf ein makelloses Image, warben auf ihrer Webseite stolz mit ›modernem Lernen in altehrwürdigen Mauern‹.

Tatsächlich konnte sich dieses Schulgelände sehen lassen. Man hatte den historischen Gebäuden eines alten Zisterzienserinnenklosters zweckmäßige, aber durchaus sehr ansehnliche Komplexe hinzugefügt. Sie gruppierten sich harmonisch um einen großzügigen, mit hellen Steinfliesen gepflasterten Platz, der von jungen Laubbäumen gesäumt war.

Doch für das Schöne in seiner unmittelbaren Umgebung hatte Paul grundsätzlich keinen Blick. Er lebte überwiegend in virtuellen Welten, tobte sich dort nächtelang aus.

»Ach, das Ganze lässt sich schwer beschreiben. Es sind eigentlich unzählige kleine Gemeinheiten. Sobald ich auf diese ätzende Tante treffe, gibt es Sticheleien, Kritik oder scheele Blicke. Was immer ich mache, ist schon von vornherein verkehrt oder unzureichend. Die kann mich nicht ausstehen, das ist offensichtlich.

Weißt du, nach der Schule hatte ich erst einmal gar keinen Bock auf Ausbildung, wusste auch nicht recht, was ich werden wollte. Genaugenommen hätte ich am liebsten überhaupt keine Lehre gemacht, sondern neue PC-Games durchgespielt und Kommentare auf YouTube eingestellt. Wenn man irgendwann zu den Besten gehört und gute Sponsoren findet, lässt sich damit ein Riesenhaufen Kohle verdienen. Das weißt du ja bestimmt.

Du kannst gerne mal unter SkinnyAssPaul nachschauen, es gibt schon jede Menge Abonnenten, die ganz heiß auf aktuelle Videos von mir sind. Das Gamer-Business wäre sicher gut gelaufen und voll mein Ding gewesen, Mann. Und wenn man das schon perfekt beherrscht und sich in der Szene auskennt, wieso sollte man dazu noch was anderes lernen wollen?

Reine Zeitverschwendung, sag ich dir.

Aber nö, mein spießiger Vater bestand stur darauf, dass ich erst mal eine abgeschlossene Ausbildung in der Tasche haben müsste, bevor ich meine brotlosen Flausen durchziehe, wie er das Zocken nennt. Also überlegte ich halt widerwillig, was für mich überhaupt infrage kommen könnte. Sonst hätte mir Mister Unwissend wahrscheinlich sofort den Geldhahn zugedreht oder mir das Internet gekappt, was er schon mal getan hatte. Und womit hätte ich mir anschließend Games runterladen sollen, hä?

Okay, also musste irgendein Ausbildungsjob her.

Onkel Olli meinte dann, ich solle halt Gärtner lernen. Da wäre ich wenigstens nicht den ganzen Tag nur zwischen vier Wänden eingesperrt, sondern hätte viel im Freien zu tun. Mit Menschen müsste ich mich dabei relativ wenig abgeben, und Pflanzen würden schließlich schön brav die Fresse halten und mir nicht andauernd auf den Zeiger gehen.

Dieses Argument hatte mich schwerstens beeindruckt. Ich bin nun mal ein Einzelgänger, ertrage es nicht, wenn dauernd wer um mich rumschwirrt. Also bewarb ich mich, weil mir nichts Besseres einfiel, beim Gartencenter Findeisen in Wernigerode – und da stellte man mich prompt als Zierpflanzengärtner ein.

Wenn ich allerdings geahnt hätte, dass ich dort schon am Tag eins auf eine dermaßen nervige Schlampe treffe, hätte mich mein alter Herr kreuzweise am Arsch lecken können, und zwar mitsamt dieser verfickten Ausbildung«, zog Paul schnoddrig vom Leder.

Leon grinste insgeheim in sich hinein. Dieser Zielinski war der Inbegriff eines Gamers, jedenfalls soweit er, der er nicht zu jener eingeschworenen Szene zählte, das beurteilen konnte. Er taxierte ihn unauffällig aus den Augenwinkeln. SkinnyAssPaul … dieses Pseudonym war bestimmt mit einem Augenzwinkern zu verstehen. Neben ihm saß ja ein fettleibiger Kerl mit hängenden Schultern, unreiner Haut, gelblichen Zähnen und fettigem Haar.

Der Aufdruck seines einstmals schwarzen Band-T-Shirts war vom vielen Waschen kaum mehr erkennbar. Das Ding stammte offenbar noch aus den Anfangszeiten der Metalband Whitesnake. Es spannte ihm über den speckigen Hüften, war mittlerweile mindestens um zwei Nummern zu klein geworden.

Das einzig Neuwertige an Paul Zielinski waren seine sündhaft teuren Sneakers. Leon hatte ein Faible dafür, sah auf den ersten Blick, dass es sich um Sammlerstücke handelte. Die hatte er sich wohl von seinen üppigen YouTube-Einnahmen geleistet.

 

»Na ja … du musst eigentlich bloß durchhalten und so tun, als würdest du mitspielen, auch wenn dir nicht danach ist. Das erste Lehrjahr haben wir fast geschafft. Zwei Jahre noch, die sitzt du doch auf der linken Backe ab. Danach bist du frei, weil volljährig, und anschließend kannst du tun oder lassen, was immer du möchtest. Auch Spiele kommentieren«, meinte Leon achselzuckend.

Diese pragmatische Antwort schien Paul nicht zu gefallen. Er sah Leon verächtlich an, ächzte missbilligend.

»Auf gar keinen Fall, du spinnst wohl. So lange tue ich mir das garantiert nicht mehr an. Ich bin doch längst am Überlegen, wie ich meinen baldigen Abgang möglichst spektakulär in Szene setzen könnte. Ganz ungeschoren soll mir diese Schönhoff nämlich keinesfalls davonkommen, never ever.

Hey, kennst du eigentlich den Ego-Shooter ›Battlefield 5‹? Wie gerne würde ich auch körperlich in diesem Game rumlaufen und dort plötzlich auf die Gärtnerfotze treffen. Es wäre mir ein echtes Vergnügen, sie durch die Gegend zu jagen und am Ende grausam zu killen. Ich würde natürlich aufpassen müssen, dass mir hierbei kein Mitspieler mit einem ›Medi-Pack‹ in die Quere kommt und sie damit womöglich wieder heilt. Na ja, obwohl … dann könnte ich ihr gleich nochmal mit Schmackes die Birne wegblasen. Und anschließend ab auf den Komposthaufen mit ihr.«

Sein Nebenmann schien leicht verunsichert zu sein. Das amüsierte ihn. Er tätschelte dem Weichei mitleidig die Schulter.

»Keine Sorge, ich werde sie schon nicht kaltmachen. Aber der nette Gedanke, Dünger aus den Überresten der blöden Kuh herzustellen, ist einfach verführerisch. Unsere Begonien würden sich bestimmt freuen. Wie steht es denn mit dir, hast du in deiner Fantasie noch nie jemanden genüsslich getötet?«

»Nein«, gestand Leon wahrheitsgemäß.

Inzwischen war auch sein Glimmstängel bis zum Filter aufgeraucht. Er drückte die Kippe mit größter Sorgfalt am Mäuerchen aus und versenkte sie in seiner Jackentasche, um sie später in einer Mülltonne zu entsorgen.

Paul beobachtete ihn kopfschüttelnd dabei. Wie konnte man nur so einen kranken Ordnungsfimmel haben.

Leon war zwar im Innersten völlig anders als Zielinski gestrickt, umgab sich aber trotzdem oft und gerne mit Typen seines Kalibers. Der Kontakt zu zwielichtigen Gestalten wertete sein langweiliges Dasein ein wenig auf, es verlieh ihm Würze. Er brauchte den Nervenkitzel, auch wenn er von Paul und anderen Kumpels, mit denen er in seiner Freizeit abhing, meist nicht für voll genommen wurde. Er galt als klassischer Mitläufer, der sich im Schutz einer vermeintlich starken Gruppe wohlfühlte.

Seine Eltern hatten ihm einen falschen Vornamen gegeben. Er war überhaupt kein mutiger Löwe, eher schon wie eine wehrlose Antilope. Leon wollte jedoch kein Opfer mehr sein, so wie früher in der Grundschule. Deshalb verbarg er sein wahres Wesen nach außen hin, kaschierte es mit aufgesetzter Coolness.

Eigentlich hasste er selbergedrehte Zigaretten wie die Pest. Daheim dampfte er ausschließlich elektronisch.

Die Pause war nun zu Ende, und die ungleichen Gärtner-Azubis kehrten murrend in den Klassenraum zurück.

*

06. Mai 2019, Revierkommissariat Wernigerode

Die zierliche Brünette vor Ronny Weichelts Schreibtisch wirkte hibbelig. Sie gehörte offenbar zu jenen Menschen, welche, wenn sie meinten, unbedingt etwas loswerden zu müssen, schnell ungeduldig wurden. Er nahm den Blick vom Computermonitor.

»Na, dann schießen Sie mal los, Frau Bilcher. Wer wird vermisst und seit wann genau?«

»Meine Chefin Lara Schönhoff. Zuletzt haben wir sie vergangenen Montag an ihrem Arbeitsplatz gesehen. Wir arbeiten beim Gärtnereibetrieb Findeisen. Sie hat seither weder Urlaub eingetragen, noch ist sie krankgemeldet. Bei ihr daheim macht niemand auf. Ich erreiche sie nicht übers Festnetz und auch nicht über die Handynummer. Ihre Mails beantwortet sie ebenfalls nicht.«

PHM Weichelt machte sich Notizen, wirkte erstaunt.

»Sie sind also ihre Arbeitskollegin. Aber hat diese Frau Schönhoff gar keine Angehörigen, denen sie fehlt? Es kommt zwar gelegentlich schon mal vor, dass Kollegen, Nachbarn oder Freunde das Verschwinden einer Person melden. Zuerst fällt es jedoch üblicherweise den Familienangehörigen auf, wenn ein Mensch tagelang ohne ersichtlichen Grund abgängig ist. Haben Sie im privaten Umfeld Ihrer Chefin bereits Nachforschungen angestellt?«

»Lara hat kein privates Umfeld mehr. Sie lebt allein.«

»Also keinen Partner und keine Kinder?«

»Nein. Nur einen Exmann. Und diesen arroganten Vollidioten rufe ich bestimmt nicht an. Außerdem dürfte er wohl kaum wissen, wo sie ist. Die beiden haben sich nicht im Guten getrennt.«

»Verstehe. Sonstige Verwandtschaft?«

»Die gibt es wohl, aber dazu kenne ich leider keine Namen. Lara hat mir ab und zu wilde Geschichten erzählt. Sie ist mit allen heillos zerstritten, und das seit Jahren. Ich weiß von einer jüngeren Schwester, von Onkels und Tanten. Ihre Mutter lebt auch noch, in Bremen, glaube ich. Doch die ist dement.«

Der Polizeiobermeister kratzte sich seufzend am Hinterkopf.

»Nicht sehr ergiebig, was? Schön, dann geben Sie mir bitte die Personalien. Mal sehen, was wir herausfinden. Geburtsdatum?«

Einige Minuten lang fragte Weichelt alles an Personalien ab, was er wissen musste. Dann wurde es auf einmal anstrengend.

»Also, das alte Passfoto aus den Unterlagen Ihres Personalbüros reichen Sie mir bitte nach, wie besprochen. Aber wir müssten natürlich auch wissen, wie sie heutzutage aussieht. Könnten Sie mir bitte eine möglichst genaue Personenbeschreibung geben?«

»Ja natürlich, also … durchschnittlich, würde ich sagen.«

»Durchschnittlich … was bitte wäre denn durchschnittlich? Diese vage Beschreibung kann ich wohl kaum in die Vermisstenanzeige eintragen. Sie haben mit Ihrer Kollegin jahrelang beim Findeisen zusammengearbeitet, da müsste das doch etwas genauer gehen«, grinste der Beamte süffisant.

Die Frau dachte angestrengt nach, zuckte die Achseln.

»Es ist aber so, wie ich sagte. Lara, die eigentlich Larissa heißt, ist weder groß noch klein, nicht besonders dick, aber auch nicht schlank. Ihr Gesicht … wie soll ich es Ihnen am besten klarmachen … hat absolut nichts Außergewöhnliches oder Attraktives an sich. Lara ist weder nennenswert hübsch noch auffallend hässlich. Gewöhnlich halt.

Ihre Haarfarbe wäre fast noch schwieriger zu beschreiben. Ein stumpfes Asch-Hellbraun vielleicht, oder meinetwegen auch dunkelblond. Was weiß denn ich, irgendeine undefinierbare Straßenköter-Farbe. Sie trägt ihr Haar … «

»Nein, lassen Sie mich bitte raten. Halblang, also auch durchschnittlich? Nicht lockig und nicht glatt?«, stöhnte Weichelt und änderte nebenbei den Vornamen der Vermissten im System von Lara auf Larissa.

»Genau«, nickte die Gärtnerin.

»Augenfarbe?«

»Keinen blassen Schimmer, sorry.«

»Nochmals zum Mitschreiben. Es handelt sich somit um eine mittelgroße Person, weiblich, die vom Gesicht her unscheinbar aussieht und bräunliches, halblanges Haar hat.«

»Jetzt haben Sie es endlich kapiert. Das ist Larissa Schönhoff«, entgegnete sie überheblich.

Der Polizist überging die Unverschämtheit einfach, blieb sachlich. Das war definitiv der schnellste Weg, diese nervige Frau vor seinem Schreibtisch wieder loszuwerden.

»Beim Hereinkommen hatten Sie den Verdacht geäußert, dass Ihre Kollegin sogar ermordet worden sein könnte. Wie kommen Sie darauf, gibt es konkrete Hinweise auf Feinde oder Motive?«

Ihr selbstbewusstes Lächeln erstarb. Sie betrachtete ihre Fingernägel, deren braunschwarze Trauerränder ihren Beruf verrieten. Vermutlich war sie direkt von der Arbeit hergekommen.

Gegen das tägliche Wühlen in feuchter Erde sind Wasser und Seife wahrscheinlich machtlos, sinnierte Weichelt.

»Feinde … wenn Sie damit Leute meinen, die Lara nicht ausstehen können, sie womöglich sogar hassen, müsste ich Ihnen eine Liste anfertigen. Eigentlich mochte sie niemand leiden, im Betrieb schon gar nicht – niemand außer mir. Privat ist sie auch überall angeeckt, was mich aber keineswegs wundert.

Ich bin scheinbar die Einzige, die sich jemals die Mühe gemacht hat, hinter ihre beinharte Fassade zu schauen, um den wirklichen Menschen dahinter zu erkennen. Und der ist gar nicht so übel.

Larissa hat eine ausgesprochen schwierige Kindheit durchlitten, mir einiges Schlimme anvertraut, nachdem wir uns angefreundet hatten. Es ist deshalb meines Erachtens kein Wunder, dass sie mit der Zeit so unnahbar geworden ist, von jedem Menschen erstmal nur Schlechtes denkt und ihn dementsprechend behandelt.

Außerdem entwickelte sie im Laufe der Zeit einen krankhaften Ehrgeiz, wurde immer ärger zur sturen Perfektionistin. Die überzogen hohen Ansprüche, die sie an sich selbst stellt, überträgt sie leider auch auf andere Leute.

Damit macht sie besonders unseren Azubis das Leben schwer. Kein Berichtsheft ist ihr akkurat genug geführt. Die Jungs und Mädels arbeiten ihr entweder zu lahmarschig – oder zu ungenau. Selbst an deren T-Shirts kritisiert sie herum, dabei geht es sie gar nichts an, was einer unter der Latzhose trägt.«

»Na schön, dann fahnden wir nach einem menschlichen Ekelpaket, so wie Sie Ihre Kollegin darstellen. Aber ich muss Sie das jetzt nochmal fragen: Gab es konkrete Hinweise, dass ihr jemand ans Leder wollte, hat sie irgendwas darüber erzählt?«

»Von einer Morddrohung weiß ich nichts. Aber ihrem Exmann Gerald würde ich einiges Üble zutrauen. Er hatte bereits vor ihr bei Findeisen gearbeitet. Der Chef stellte Lara damals bloß ihm zuliebe ein. Als die Ehe nach ein paar Jahren in die Brüche ging, schied Gerald aus und machte sich als Landschaftsgärtner selbständig, während sie uns weiterhin erhalten blieb. Dummerweise macht er uns seitdem Konkurrenz. Gerald hat zwar einen miesen Charakter, ist jedoch ein super kreativer Gärtner. Er fehlt bei uns an allen Ecken und Enden.

Wir waren vor knapp zwei Jahren dennoch froh über sein Ausscheiden, weil die beiden Streithammel sich sonst höchstwahrscheinlich bald gegenseitig umgebracht hätten. Und wer möchte schon irgendwann eine Leiche, der eine Hacke im Kopf steckt, im Gewächshaus finden? Der ›Rosenkrieg‹ war bei denen buchstäblich zu nehmen.«

Weichelt beendete seine Notizen, nahm den Blick vom Monitor und wandte sich ihr zu.

»Dann werden wir wohl als erstes bei Gerald Schönhoff nachfragen müssen. Vielen Dank, dass Sie hergekommen sind, Frau Bilcher. Wir melden uns, sobald es etwas Neues gibt. Oder falls weitere Fragen auftauchen sollten.«

Jeanette Bilcher machte indes keine Anstalten, zu gehen.

»Ja … und wie lange kann sowas dauern? Es ist so viel Arbeit liegengeblieben, dass ich mich schier zerteilen könnte. Der Azubi hängt mangels Aufgabenzuteilung nur faul herum und daddelt auf dem Smartphone. Der kann halt noch nicht alles, benötigt für jeden Dreck Anleitung und Aufsicht.

Wir brauchen die Lara dringend. Solange kein Mensch weiß, ob, beziehungsweise wann sie zurück in den Betrieb kommt, wird natürlich niemand Neues eingestellt. Diesen Dauerstress packe ich nicht mehr lange«, jammerte die Brünette.

»Das kann ich Ihnen nicht beantworten, schon gar nicht jetzt gleich. Wir müssen uns erstmal ein eigenes Bild machen, herausfinden, ob sie wirklich vermisst wird. Womöglich hatte sie einen Unfall und liegt im Krankenhaus. Oder jemand aus der Familie weiß eben doch, wo Lara sich momentan aufhält. Wir werden das alles nachprüfen«, beschied ihr der Polizist.

Sie trollte sich augenrollend, und Weichelt sah allmählich klar, was der wahre Grund für ihr Auftauchen gewesen sein mochte. Bilchers zur Schau gestellte Sorge um die wenig nette Kollegin hielt sich in Wirklichkeit in engen Grenzen. Vermutlich durfte sie einfach nicht freinehmen, solange die Schönhoff unentschuldigt fehlte, weil sie sie vertreten musste.

Unglaublich, diese verlogene Augenwischerei. Dass die meisten Leute sich aber auch edelmütiger darstellen müssen als sie es tatsächlich sind, dachte der Beamte angewidert.

Das war das Allererste gewesen, woran er sich im Polizeidienst hatte gewöhnen müssen. Man wurde während der Erfüllung seiner Pflichten unablässig angelogen.

 

*

08. Mai 2019, Kanareninsel La Palma, Playa de Nogales

Der Fußweg zu diesem einsamen, von Felsen und Klippen eingerahmten Strandabschnitt im Ostteil der Insel war vergleichsweise beschwerlich gewesen.

Um hierher zu gelangen, musste man in der Ortschaft Puntallana parken und fünfzehn Minuten einem Pfad durch die Wildnis folgen. Der atemberaubende Blick aufs azurblaue Meer, der sich Urlauberin Marit jetzt beim Hinabsteigen einer Steintreppe darbot, entschädigte sie doppelt und dreifach dafür. Ihre nette Pensionswirtin hatte Recht behalten, das Panorama war einzigartig.

Marit hatte auf dem Hinflug viel über La Palma gelesen.

Diese Insel war wegen ihrer Steilküsten bislang vom Massentourismus verschont geblieben und wurde in erster Linie von Naturfreunden, Surfprofis und Individualisten besucht. Sie galt mit ihren ausgedehnten Lorbeer- und Kieferwäldern als waldreichste der sieben kanarischen Inseln und war, genau wie der Rest dieses Archipels, vulkanischen Ursprungs. Die zerstörerische Naturgewalt hatte sich in diesem Fall auch schöpferisch betätigt.

Nur an einigen wenigen Stellen schien es überhaupt möglich zu sein, im Atlantik schwimmen zu gehen. Sandstrände waren Mangelware. Dieser Umstand hatte die Insel vor den sonnenhungrigen Urlauberhorden bewahrt. Hier gab es keinen quirligen Teutonengrill und keine lauten Strandbars.

Umso schöner, dass sie nun einen der Sandstrände gefunden hatte, auch wenn er nicht besonders breit war. Außer einer Handvoll junger Surfer und einem schwer verliebten Pärchen, das sich auf seiner überbreiten Strandmatte sonnte, war niemand da.

Herrlich … auf besoffene, grölende Ballermann-Touristen mit Eimern voller Alkohol konnte sie wirklich verzichten.

Während sie sich ein Plätzchen zum Chillen auf dem feuchten schwarzen Sand suchte, musste sie unwillkürlich an Bernd denken, der jetzt im verregneten Wernigerode Dienst schob. Selber schuld, sie hatte ihn mehrmals gefragt, ob er mitkommen wolle. Aber nee, der Herr hatte angeblich Wichtigeres zu tun, vieles zu regeln. Jedenfalls hatte er ihr seine Absage mit haargenau diesen Worten verkauft und sie damit, wenn auch wahrscheinlich unabsichtlich, vor den Kopf gestoßen.

Nach allem, was kurz zuvor gewesen ist … wieso klebt Bernd ständig in der problembehafteten Vergangenheit fest, anstatt nach vorne zu schauen?

Was könnte denn wichtiger als ein gemeinsamer, wohlverdienter Urlaub sein … Marit kannte leider die Antwort.

Die Exfrau in spe und seine Kinder aus erster Ehe. Verflucht noch mal. Wehe, du warst verheiratet und hast Kinder in die Welt gesetzt. Dann hast du nie wieder deine Ruhe, wirst emotional an der langen Leine festgehalten und darfst dich finanziell bis auf die Unterhosen ausziehen lassen.

Bernd sollte Familie und Ex-Partnerin langsam mal ein paar Grenzen setzen, anstatt sich dauernd herumschubsen zu lassen. So taff wie er sonst ist, hier lässt er sich zu viel gefallen, dachte sie ironisch.

Sie stellte ihren Rucksack ab und setzte sich, so weit wie möglich von dem händchenhaltenden Paar entfernt, auf ihr Handtuch und starrte in die Wellen, beobachtete angetan, wie sie sich aufbäumten, schäumend brachen und gegen die Felsen tosten.

Ihr Blick blieb bald an einem gut gebauten Mann hängen, der mit seinem kunterbunten Surfboard am Meeressaum stand und sich anschickte, sich todesmutig in die hohen Wellengebirge zu stürzen. Seine Begleiter feuerten ihn an, waren ebenfalls voll bei der Sache.

Marit beobachtete, wie die Wassertropfen auf seinen braungebrannten Schultern im Sonnenschein funkelten, so als wären es Diamanten. Die dunkle Haut bildete einen faszinierenden Kontrast zum weißblonden Haar, das er nackenlang trug. Die Oberarme waren aufwändig mit Maori-Tattoos verziert.

Wie alt mochte er sein? Fünfundzwanzig vielleicht? Der Optik nach stammte er nicht von hier, eher schon aus Dänemark oder Schweden. Allerdings schien seine Bräune derart gleichmäßig zu sein, dass ein Wohnsitz auf der Insel nahelag. All das schoss der deutschen Kriminalpolizistin, bei der genaue Beobachtung samt nachfolgender Analyse des Gesehenen zum normalen Alltagsablauf gehörte, binnen Sekunden durch den Kopf.

Mit einer geradezu graziösen Bewegung legte sich der ansehnliche Nordmann auf das Board, beförderte es mit kräftigen Zügen seiner muskulösen Arme aufs Meer hinaus.

Wusste der Geier, wie er es hinkriegte, sich auf dem schwankenden Brett gekonnt aufzurichten und dabei nicht einmal unbeholfen auszusehen. Der mutmaßliche Skandinavier surfte also bestimmt schon sein halbes Leben, ihm schienen selbst haushohe Wellen keine Angst mehr einzujagen.

Nun kam so ein Mega-Brecher auf ihn zu, drohte ihn und sein Board zu verschlingen. Einen Moment verlor Marit ihn aus den Augen, dann sah sie ihn anmutig im Wellentunnel dahingleiten. Ein wunderschöner Anblick, der Marit vollkommen fesselte. Das glänzende Wasser war fast durchsichtig, wirkte wie flüssiges blaugrünes Glas. Gischt schäumte weiß.

Dann war der Augenblick urplötzlich vorüber, die Welle fiel in sich zusammen, und der attraktive Surfer kam wenig später nass, aber glücklich, in Strandnähe wieder zum Vorschein.

Zwei symmetrische Reihen blendend weißer Zähne zeugten davon, dass er aus purer Lebensfreude mit der Sonne um die Wette strahlte. Sie beneidete ihn ein bisschen.

Vermutlich steckte er voller Adrenalin. Marit bezweifelte, dass ihr der Surfsport denselben Spaß bereiten könnte, auch wenn sie sportlich und absolut kein ängstlicher Mensch war. Seine Kumpels gaben ihm High Five, gönnten ihm den Erfolg.

Er sah plötzlich in ihre Richtung, lächelte immer noch. Ob es ihn störte, dass sie ihn so unverhohlen anschaute?

Sie hielt den rechten Daumen nach oben, tat dann so, als würde sie ihm lautlos Beifall klatschen.

Diese Geste schien ihn zu freuen. Er steuerte direkt auf sie zu. Während er in ihre Richtung schlenderte und immer näherkam, registrierte sie, dass sie sich bezüglich seines Alters anscheinend getäuscht hatte. In sein markantes Gesicht hatten sich um Augen und Mundpartie doch schon unzählige Lachfältchen eingegraben. Jetzt schätzte sie ihn eher auf Dreißig oder noch älter, doch das machte ihn für sie gleich noch interessanter.

Nun passte er perfekt ins Beuteschema.

»He, du brauchst doch nicht alleine hier am Rand herumzusitzen. Wenn du Lust hast, könntest du dich gerne zu uns gesellen. Der Strand wird nachher bei Flut ohnehin ziemlich schmal, da ist Zusammenrücken angesagt. Wird denen da drüben sicherlich gar nicht gefallen«, grinste er und zeigte auf das junge Pärchen, das gerade mächtig am Fummeln war.

Ein Deutscher, wer hätte das gedacht. Die sind wirklich allgegenwärtig, selbst am entlegensten Strand trifft man Landsleute.

»Falls die Youngsters noch einen Rest Schamgefühl besitzen, gehen sie eh gleich ins Hotel zurück. Die haben heute noch viel vor, möchte ich wetten«, grinste Marit verschmitzt.

Kaum hatte sie die Worte fertig ausgesprochen, rollte der junge Mann auch schon hektisch die Strandmatte zusammen. Das Mädchen rückte ihren, im Eifer des Gefechts verrutschten, Bikini zurecht.

Nur Minuten später stieg das heiß verliebte Pärchen händchenhaltend die Steintreppe hinauf und verschwand endgültig aus dem Blickfeld.

»Beneidenswert«, seufzte der Surfer. Marit schloss daraus, dass er im Augenblick solo war, so schwer dieser Schluss angesichts seines Aussehens auch fallen mochte. Oder er wollte ihr diesen Eindruck absichtlich, aus taktischen Gründen, vermitteln – beispielsweise, weil er sie attraktiv fand. Einem Draufgänger wie ihm mussten die Frauen eigentlich scharenweise zu Füßen liegen.

Egal. Sie befand sich in Urlaub, ergo in einer Ausnahmesituation, und da konnte man die Aufmerksamkeit eines tollen Mannes schon mal ungetrübt genießen. Sie war de facto immer noch solo, weil Bernd ewig brauchte, Julia endgültig den Laufpass zu geben. Außerdem … was auf La Palma geschah, würde auf La Palma bleiben. Scheißegal, wie viele Mädels der Typ womöglich gerade in der Mache hatte.

Sie nickte, wenn auch leicht zeitverzögert, und stand behände auf, um ihm zu den vier anderen Jungs zu folgen.

Er musterte sie neugierig von der Seite.

»Verrätst du mir bitte noch deinen Vornamen? Ich muss dich meinen Freunden ja irgendwie vorstellen«, sagte seine angenehme Stimme auf dem Weg dahin.

»Marit aus Wernigerode, ich mache hier Urlaub. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Björn aus Barlovento.«

»Soso, du wohnst hier auf der Insel. Aber woher stammst du ursprünglich? Skandinavien?«

»Das glauben viele. Ich bin aber auf Teneriffa geboren, ergo ein waschechter Spanier. Meine Eltern sind in den Achtzigerjahren von Kiel auf die Kanaren ausgewandert und haben ein altes Haus hergerichtet. Dort durfte ich behütet, aber doch frei aufwachsen.

Vor einer Weile habe ich mir mein eigenes Apartment gekauft. Die Immobilienkrise machte es möglich. Bis vor kurzem waren die Objekte auf der Insel traumhaft günstig zu haben.«

»Ah so, deswegen hast du auf dem Surfbrett einiges drauf. Du bist damit großgeworden. Ähnlich wie deutsche Kinder, die allerdings bei der Wohnortwahl ihrer Eltern nicht dasselbe Glück hatten, mit dem Skateboard«, lachte Marit.

»Genaugenommen habe ich mit dem Surfen erst vor ein paar Jahren angefangen, bin wohl ein Naturtalent. Mangels zahlungskräftiger Kundschaft gibt es auf dieser wunderbaren Insel nämlich noch keine einzige Surfschule. Eigentlich ist sowas kaum zu glauben, oder? Ich gedenke das aber demnächst zu ändern, werde Klasse statt Masse anbieten. Verstehst du das Konzept? Wenige, jedoch wohlhabende Kunden, die eine exklusive Rundumbetreuung genießen sollen«, plauderte der Weißkopfspanier.