Loe raamatut: «Die Wolfssymphonie»
Marius Daniel Popescu
bei Urs Engeler
Marius Daniel Popescu
Die Wolfssymphonie
Aus dem Französischen
übersetzt von Michèle Zoller
Er war fast fünfzig, die meisten seiner Haare waren weiß, er ist zwei Tage nach dem Unfall von uns gegangen. In diesen zwei Tagen lag er im Koma, im Spital, wo sie ihn am Kopf operierten. Die Chirurgen, die ihn operiert haben, meinten, er könnte es schaffen. Sie haben ihm einen Teil des Schädelknochens entnommen. Sie hatten von seiner Frau eine Unterschrift für diesen chirurgischen Eingriff verlangt. Seine Frau hat unterschrieben, dass sie in die Risiken der Operation einwillige. Sie waren seit zwei Jahren verheiratet. Sie wohnten in einem kleinen Haus, und mit ihnen ihre Tochter aus erster Ehe, ihre Mutter und auch ihre Großmutter. Er lebte mit diesen vier Frauen unter einem Dach. Ihre Tochter war achtzehn. Ihre Großmutter war achtzig. Er war Bauingenieur. Ihre Mutter war taubstumm. Sie war fast sechzig. Als er starb, arbeitete er auf einer Baustelle in der Provinz. Es war eine Baustelle, auf der er die Errichtung einer Industriekäserei leitete. Zu jener Zeit kam er immer erst Samstagabend nach Hause. Am Montag in der Früh kehrte er auf die Baustelle zurück. Gegen acht Uhr morgens. Am Montagmorgen arbeitete seine Frau jeweils nicht. Seine Frau führte ein Geschäft für Musikinstrumente. Sie verkaufte Violinen, Klaviere, Flöten und Schlagzeuge. Sie war jünger als er. Sie war zwölf Jahre jünger als er. Er übte den Beruf des Bauingenieurs seit ungefähr zehn Jahren aus. Es war sein zweiter Beruf. Sein erster Beruf war Sportlehrer. Er hatte Leichtathletik betrieben. Er hatte eine Ausbildung zum Sportlehrer gemacht. Als du geboren wurdest, hat er in einer Sonderschule Sportunterricht für Taubstumme gegeben. Er hat am Telefon von deiner Geburt erfahren. Es gab zu jener Zeit nicht viele Telefonapparate. Er hat die Nachricht deiner Geburt gegen neun Uhr abends erfahren, und er hat ein Taxi genommen, um ins Spital zu fahren. Du bist gern Taxi mit ihm gefahren. Wenn das Taxi von einer asphaltierten Straße auf eine gepflasterte Straße wechselte, gefiel dir, wie der Klang der Reifen auf dem Belag sich veränderte. Der Klang der Reifen auf den Pflastersteinen war wie eine Truppe von Reitern im Angriff. Du hast gerne Reiter gespielt, der die Feinde angreift. Er hat dem Taxifahrer ein stattliches Trinkgeld gegeben. Während der Fahrt hat er dem Taxifahrer wieder und wieder erzählt, dass er gerade Vater geworden sei. Er ist aus dem Taxi gestiegen und ist quer hinüber zur Neugeborenenabteilung gerannt, er hat drei Stufen auf einmal genommen, bis vor die Tür, dann hat er geklingelt. Der Portier der Entbindungsstation ist herausgekommen, um ihm zu sagen, dass er dich außerhalb der Besuchszeiten nicht sehen könne; der Portier der Entbindungsstation hat an ein großzügiges Trinkgeld gedacht, und er hat ihm gesagt, er solle doch am nächsten Tag nach zehn Uhr wiederkommen. Dein Vater hat dem Portier der Entbindungsstation eine reingehauen. Er hat ihm zwei Faustschläge verpasst. Zuerst hat er auf das rechte Auge gezielt, dann auf den Mund. Zwei Faustschläge mitten ins Gesicht des Entbindungsstationportiers. Dann ist er alleine ein Stockwerk hochgegangen. Er hat begonnen, sämtliche Türen aufzureißen und den Namen deiner Mutter zu rufen. Er hat alle aufgeweckt. Er hat euch schnell gefunden. Die Krankenschwestern und die Ärzte konnten ihn nicht daran hindern, euch um zehn Uhr abends zu besuchen. Er wusste, dass du zu früh geboren worden warst. Du bist mit sieben Monaten zur Welt gekommen, und als er das Zimmer betreten hat, in dem du mit deiner Mutter warst, hat er dich im Brutkasten liegen sehen, und er hat der Krankenschwester gesagt: «Holen Sie ihn raus!» Und die Krankenschwester hat dich sofort herausgeholt, und er hat dich in den Arm genommen und geküsst und gesagt, du hättest eine große Nase. Er hat deine Mutter geküsst. Er hat dich im Arm getragen und gestrahlt im Spitalzimmer. Du hast keine große Nase. Du hast seine Nase. Er ist nicht lange auf der Entbindungsstation geblieben. Er ist ungefähr eine Viertelstunde geblieben, dann ist er wieder hinunter- und hinausgegangen, vorbei am Entbindungsstationsportier, der sich von zwei Krankenschwestern verarzten ließ. Er ist seine Freunde suchen gegangen. Er hat etwa ein Dutzend seiner Freunde gefunden und hat sie ins beste Restaurant der Stadt eingeladen. Er hat ihnen die ganze Nacht hindurch Essen und Trinken spendiert. Er hat mit ihnen gegessen und getrunken. Er hat ihnen von dir und deiner Nase erzählt. Als ein Rosenverkäufer das Restaurant betreten hat, hat er ihn zu sich gewunken und ihm alle Blumen abgekauft. Frühmorgens ist er auf die Entbindungsstation zurückgekehrt. Er ist mit den Rosen im Arm aus dem Taxi gestiegen. Der Portier vom Vorabend hat ihm aufgemacht. Der Portier vom Vorabend hatte aufgesprungene Lippen, und ein Auge war von der Schwellung der Wange zugequollen. Der Portier vom Vorabend hat ihm die Tür zur Entbindungsstation aufgemacht, dein Vater ist ohne eine Wort hineingegangen, und der Portier hat hinter ihm die Tür wieder zugemacht und ist in seine kleine Portierloge zurückgekehrt. Dein Vater hat deiner Mutter alle Rosen gegeben. Körperlich siehst du ihm ähnlich. Sonst gleichst du niemandem aus der Familie. Einmal hat deine Mutter dir gesagt, du wärst ein Kind Gottes; sie habe kein Kind haben wollen. Sie arbeitete viel, und ihre Arbeit hielt sie außer Haus. Sie war Buchprüferin, und sie war ständig unterwegs. Sie prüfte die Buchhaltung verschiedener Unternehmen. Sie wollte keine Kinder haben. Als sie mit dir schwanger war, war es dein Vater, der das Kind haben wollte. Deine Mutter hat dir gesagt, sie habe deine Abtreibung bereits bezahlt gehabt. Jedes Mal, wenn sie ins Spital gefahren sei, um abzutreiben, sei er mitgegangen. Er habe sie begleitet, und auf dem Weg habe er sie jedes Mal überredet, wieder nach Hause zu fahren. Er hat sie dazu gebracht, auf dem Weg zur Abtreibung kehrtzumachen. Viermal hat er alles daran gesetzt, sie nicht abtreiben zu lassen. Das vierte Mal, als sie wieder ins Spital fahren wollte, hat er ihr gesagt, dass es unmöglich sei. Er hat ihr gesagt, dass niemand diese Abtreibung durchführen würde, dass es dafür zu spät sei. Du warst zu groß, im Bauch deiner Mutter. Niemand konnte dir mehr etwas anhaben. So hat sie dich behalten. Deine Mutter und dein Vater haben sich sehr geliebt. Sie haben dich sehr geliebt, von Anfang an. Diese Abtreibungsgeschichte war eine Geschichte Gottes. Deshalb hat deine Mutter dir gesagt, dass du ein Sohn Gottes seist. Sie wollte dir sagen, dass der Tod durch den Willen Gottes komme und nicht durch den Willen der Menschen. Dein Vater habe ihr den Willen Gottes vermittelt. So hat sie den Wunsch deines Vaters, das Kind zu behalten, interpretiert. Nun bist du hier. Du bist hier, mit mir. Wir reden. Wir schauen uns an. Wir haben uns viele Erinnerungen zu erzählen. Manchmal sprichst du wie ich. Sonst sprichst du wie niemand anderer. Ich bin nie jemandem begegnet, der so spricht wie du. Ich bin achtundneunzig Jahre alt, und während meines ganzen Lebens bin ich keinem begegnet, der so spricht wie du, verstehst du? Ich habe die beiden Weltkriege miterlebt. Ich war in beiden Weltkriegen Soldat. Dein Vater hat mich gerne vom Krieg erzählen hören. Er war ein Krieger, dein Vater. Er war ein Krieger, der diese Geschichte mit der Einheitspartei nie akzeptiert hat. In den Betriebsversammlungen hat er immer jemanden als Mitglied der Einheitspartei oder als Arschlecker der Einheitspartei beschimpft. Die Arschlecker der Einheitspartei waren Arschlecker der Einheitspartei, weil sie Mitglieder der Einheitspartei werden wollten. Dein Vater hat niemandem den Arsch geleckt. Dein Vater wollte nie der Einheitspartei beitreten. Als er gestorben ist, habe ich dir zwei Telegramme geschickt. Mit dem ersten Telegramm wollte ich dich vorwarnen. Ich wollte dich auf die schlechte Nachricht vorbereiten. Im zweiten Telegramm habe ich dir gesagt «Papa ist gestorben». Wegen der Post ist das zweite Telegramm zuerst eingetroffen. Das andere, in welchem ich dir sagte, dass es deinem Vater schlecht gehe, ist erst hinterher angekommen. Du hast mir gesagt, du wärst beim Angeln gewesen, im Fluss, mit deiner Angelrute. Deine Tante ist ans Flussufer gekommen, sie hat geweint, und sie hat dir zugerufen, dein Vater sei tot. Du hast die Schnur der Angelrute aus dem Wasser geholt, du hast den Haken in die Hand genommen, du hast den Regenwurm, der daran befestigt war, vom Haken losgemacht, du hast den Haken an der Angelrute befestigt, und du bist losmarschiert, im Wasser, auf das Flussufer zu, wo deine Tante weinte und sagte, dass dir ein Unglück widerfahren sei. Du hast gesagt, dass du in der einen Hand den Plastiksack mit den geangelten Fischen gehalten hast. Du hattest ungefähr zwei Kilogramm Fisch geangelt. Du bist durchs Wasser gegangen und hast die Angelrute über einer deiner Schultern getragen, und du hast an deinen Vater gedacht und das Wasser des Flusses angeschaut und deine Tante, die am Flussufer auf dich wartete, und du hast die Pappeln angeschaut, die am Flussufer wuchsen, wo deine Tante auf dich wartete, und du hast an deine Angelrute gedacht, die aus einem Schilfrohrhalm gemacht war. Es war warm. Du trugst Shorts, und in einer der Taschen dieser Shorts hattest du eine Wachsdose, in welcher du die Regenwürmer zum Fischen aufbewahrtest. Du hattest in deiner Hosentasche diese Blechbüchse mit dem Deckel voller Löcher, damit die Regenwürmer atmen konnten. In der anderen Hosentasche deiner Shorts hattest du eine Dose aus Plastik, eine Medikamentendose, und in dieser Dose bewahrtest du deine Reservehaken auf. Du hattest mehrere Reservehaken. Du trugst zu den Shorts einen Ledergürtel, und an diesem Gürtel hing in seinem Futteral dein Fischermesser. Dein Fischermesser, gemacht aus einem meiner Bajonette aus dem Zweiten Weltkrieg. Ich kann mich gut an den Tag erinnern, an dem ich dir dieses Bajonett gegeben habe. Du hast dich dem Flussufer genähert, und du hast deine Tante gesehen, die eine Schürze über ihrem Rock trug, und du hast gedacht, dass sie wohl gerade dabei war, das Essen zuzubereiten. Du hast an deinen Vater gedacht. Du hattest ihn vor zwei Monaten gesehen. Er hatte dir ein Fahrrad gekauft. Ein Rennrad zu deiner bestandenen Prüfung. Vor zwei Monaten hattet ihr, dein Vater und du, deinen Eintritt ins Gymnasium gefeiert. Du hattest dir ein Rennrad gewünscht. Er hatte dir dieses Rennrad gekauft. Das Wasser des Flusses war warm, du bist hinaus- und die Uferböschung hinaufgestiegen, wo deine Tante geweint und gesagt hat, «er war ein guter Mensch, dein Vater». Du hast den Plastiksack, in dem die Fische waren, genommen und ihn deiner Tante gegeben. Sie hat den Sack mit den Fischen genommen, und ihr habt euch auf den Heimweg gemacht, auf dem Weg, der dem Flussufer entlang führt. Ihr seid unter den Ästen der Weidenbäume und unter den Ästen der Pappeln gegangen. Dort, wo das Flussufer die Straße erreichte, habt ihr den Weg genommen, der zum Haus deiner Tante führt, und jedes Mal, wenn ihr jemandem begegnet seid, hat deine Tante ihnen die schlechte Nachricht verkündet, sie ist einen Augenblick stehen geblieben und hat gesagt, «sein Vater ist gerade gestorben». Du hast deine Tante angeschaut und die Leute, welche vom Tod deines Vaters erfuhren. Du warst barfuß. Bis zum Haus deiner Tante seid ihr mehreren Leuten begegnet, die in der Straße wohnten und die deinen Vater kannten und die vom Tod deines Vaters erfuhren. Du hast nichts gesagt. Du bist in den Hof des Hauses deiner Tante gegangen und hast die Dose mit den Regenwürmern hervorgeholt, du hast den Deckel weggeschraubt und hast die Regenwürmer auf die Erde beim Rosenstock gekippt, im Schatten, und du hast gesehen, wie die Regenwürmer angefangen haben, sich zu bewegen, und wie sie in der Rosenstockerde nach Löchern gesucht haben und in diese Löcher verschwunden sind, wo sie vor der Hitze geschützt waren. Du hast den Deckel wieder auf die Wachsdose geschraubt und hast die Blechdose wieder in die Hosentasche gesteckt. Du bist um das Haus deines Onkels gegangen, bis zur Terrasse, du hast die Angelrute auf den Boden gelegt, hast dein Fischermesser vom Gürtel genommen und hast das Messer auf den Terrassentisch gelegt, dann hast du die Dose mit den Reservehaken und die Blechdose mit den Löchern im Deckel aus den Hosentaschen genommen und hast die beiden Dosen auf den Holztresen gelegt, welcher an der Absperrung zwischen Terrasse und Hühnerhof angebracht war. Du hast deiner Tante gesagt, dass du zu deiner Großmutter gehen würdest. Die Großmutter wohnte in derselben Straße. Sie wohnte zweihundert Meter weiter unten. Du wohntest bei deiner Großmutter, im selben Haus. Deine Großmutter hatte zwei Zimmer und eine große Diele, und du hattest zwei Zimmer für dich alleine. Du warst vierzehn Jahre alt. Du warst gerade vierzehn Jahre alt geworden. Du bist den Weg zwischen dem Haus deines Onkels und dem Haus deiner Großmutter alleine gegangen. Du hast an den Tod gedacht. Der Tod deines Papas war nicht der Tod. Dir ist bewusst geworden, dass der Tod von jemandem nicht dein Tod ist. Du hast verstanden, dass dein Vater nie mehr mit dir sprechen würde, und dass dies nicht bedeutete, dass dein Vater dich für immer verlassen hatte. Du hast den Hof des Hauses betreten, in dem du mit deiner Großmutter mütterlicherseits wohntest, und du hast deine Großmutter gesehen, wie sie dich bereits auf der Schwelle ihrer Sommerküche erwartete. Sie hat gesagt, «sei stark, wir alle enden unter der Erde, ob es uns passt oder nicht». Sie hat gesagt, «er ist jung gestorben, dein Vater», und sie hat dich gefragt, ob du dich waschen möchtest. Sie hat einen Holzschemel und ein Plastikbecken aus der Küche geholt und hat das Becken auf den Holzschemel gestellt, vor der Tür ihrer Küche, dann ist sie Wasser holen gegangen, am Brunnen im Hof vor dem Haus. Sie hat einen großen Kochtopf mit Wasser volllaufen lassen und hat diesen mit Wasser gefüllten Kochtopf auf eine heiße Platte des Herdes gestellt, dann hat sie die Seife geholt und auf den Holzschemel neben das Becken gelegt. Du bist auf der Türschwelle der Küche gesessen und hast die Kastanienbäume im Hof angeschaut und den Kirschbaum. Du hast nichts gedacht. Du hast deine gekreuzten Arme auf den Knien angeschaut, und du hast deine nackten Füße angeschaut, und du hast die Leute angeschaut, die auf der Straße vorbeigegangen sind und die du durch die Lücken des Holzzaunes hindurch hast erkennen können. Sie ist mit dem heißen Wasser gekommen und hat mehrere Liter heißes Wasser in das Becken geleert, dann ist sie mit dem kalten Wasser gekommen und hat das kalte Wasser zum heißen Wasser geleert und hat mit der Hand das Gemisch aus dem heißen und dem kalten Wasser geprüft, dann hat sie gesagt, «jetzt ist es gut, du kannst anfangen», dann ist sie in die Sommerküche zurückgegangen. Dein Vater war eine Art Rebell, der vor niemandem ein Blatt vor den Mund nahm. Du hast die Seife genommen, und vor dem Becken auf dem Holzschemel stehend hast du eine deiner Hände ins Wasser getaucht, hast mit deinem Handteller Wasser genommen, hast das Wasser auf deinen Arm rinnen lassen, auf deine Schultern, deinen Hals, deine Brust, und hast jede Stelle deines Körpers eingeseift. Du hattest deinen Vater nicht oft gesehen. Du hattest ihn nur wenige Monate im Jahr gesehen. Du hast das schmutzige Wasser von deinem Körper in das Plastikbecken tröpfeln sehen, du hast deine Haut gerieben und gesehen, wie sich eine graue Schaumschicht gebildet hat auf der Oberfläche des Wassers im Becken, und deine Großmutter hat dir von der Schwelle der Sommerküche aus zugeschaut. Als sie gesehen hat, dass du fertig warst, hat sie dir kaltes Wasser zum Abspülen gebracht, sie hat das kalte Wasser mit einem Eimer über dich geschüttet, und du hast die Rinnfäden des kalten Wassers in deinen Handflächen aufgefangen und hast kaltes Wasser auf deine Arme und deine Schultern und deinen Nacken laufen lassen, und da hast du zum ersten Mal geweint. Zum ersten Mal in deinem Leben, mit vierzehn, hast du geweint.
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Sie kommt in das Zimmer und geht auf die Babytragetasche zu, legt ihre linke Hand unter den Nacken des Kindes, das auf seiner rechten Seite liegt, schiebt die rechte Hand unter die Taille des Babys und hebt es aus seinem Nestchen an ihre Brust; geht ein paar Schritte im Zimmer, so, mit dem Kind an ihrem Körper, bleibt vor dem Bett stehen, legt das kleine Mädchen auf das Laken, auf die linke Seite, legt sich ebenfalls hin, auf die rechte Seite, ganz nah am Säugling, macht den Büstenhalter weg, um zu stillen, massiert einige Sekunden lang mit ihren Fingern ihre rechte Brust und führt, als die Kleine nach der Milch zu verlangen beginnt, die Brustwarze an ihren Mund.
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Aus dieser leeren Konservenbüchse kannst du etwas machen, du kannst sie mit Ölfarben bemalen, du kannst sie innen farbig ausmalen, du kannst sie als Behälter für deine Füllfederhalter und deine Bleistifte benutzen, du kannst ein paar deiner Hemdknöpfe darauf kleben, du kannst sie ins Wasser tauchen. Ich habe einmal auf einem Jahrmarkt leere Konservenbüchsen gesehen, die auf einer Theke zu einer Pyramide aufgetürmt waren. Die Leute machten sich einen Spaß daraus, sie mit Stoffbällen zu bewerfen und die Büchsen zu Fall zu bringen. Das kannst du spielen. Du kannst Löcher in diese Büchse machen, mit einem Nagel und einem Hammer. Du kannst sie auf deinen Rechner stellen, und ich würde von Zeit zu Zeit eine Rose mitbringen und sie hineinstellen.
Gestern Abend war diese Konservenbüchse noch voll. Es waren Bohnen darin. Du hast die Büchse oben aus dem Schrank geholt. Du hast die rechte Schranktür aufgemacht und hast, mit deiner rechten Hand, das Papier, das die Teeblätter bedeckte, herausgenommen; du hast es auf den Tisch gelegt und dich dabei etwas dem Küchenfenster zugewandt; du hast die Teeblätter genommen; du hast sie, eins ums andere, auf die sauberen Teller im Gestell gelegt; die Büchse stand ganz hinten im Schrank, und du hast sie mit deiner rechten Hand herausgenommen; du hast einen Schritt zur Seite gemacht, zum Herd hin, hast die Büchse auf die kleine Herdplatte gestellt und hast auf demselben Stuhl Platz genommen, auf dem du auch jetzt sitzt. Du kannst aus ihr dein Trinkglas machen.
Du kannst ein Spielzeug machen, für das Kind. Du stehst auf, gehst zwischen dem Tisch und dem Kühlschrank vorbei. Du machst zwei Schritte, bis zur Schwelle. Du trittst in den Eingangsraum, gehst durch den Eingangsraum zur Tür, legst die rechte Hand auf den Türknauf, drehst den Knauf um seine Achse und öffnest die Tür. Du gehst in deine Werkstatt, um deine Feilen zu holen, deine Zangen, deine Scheren, deine Lineale und deine Anreißer.
Du kannst ein Blechschiff machen. Ein kleines Segelschiff, mit zwei oder drei Masten; ein Schiff mit drei Decks. Du wirst auch die Seemänner machen, ebenfalls aus Blech; einen alten Frachter, mit Kaffeesäcken im Schiffsbauch, und Gewürzen und Weinfässern und Reis und Baumwolle; du kannst Seide hineintun, alte Jagdgewehre, Olivenölfässchen und Eichenholzplanken. Das Kind wird zufrieden sein. Ich habe ihr vorhin zugeschaut. Sie hat mit der Zahnpastatube gespielt; sie hat den Deckel abschrauben wollen, sie hat die Tube in der linken Hand gehalten und mit der anderen den Deckel abschrauben wollen.
Die Kette des Ankers kannst du aus Büroklammern machen. Die Segel werden Papiertaschentücher sein. Auf einem der Decks werden die Matrosen in den Kabinen von ihrem Leben erzählen. Du kannst ihnen eine große Schiffskantine machen. Mit einem langen Tisch, auf dem Kerzen stehen. Du kannst für den Kapitän eine Mütze machen. Er wird einen Bart haben und ein bisschen dick sein. Er wird zwei Pistolen am Gürtel tragen. Die Leutnants werden ihm treu ergeben sein, und du kannst deiner Tochter zeigen, wie sie über ihre Landkarten gebeugt diskutieren.
Die, die du da hast, ist eine große Konservenbüchse. Es gibt kleinere. Es gibt solche mit Tomaten im Saft. Es gibt Büchsen mit Spargeln und solche mit Champignons drin. Es sollten noch ein paar Thonkonserven da sein. Und Büchsen mit Ananas und ganzen Birnen. Irgendwo haben wir auch noch ein paar Büchsen Sardellen hingestellt. Aus ihnen kannst du Rettungsboote machen, gleich mehrere. Das Mädchen wird den Deckel der Zahnpastatube abschrauben und ihn auf diesem Blechschiff mitreisen lassen; zusammen werden sie alle Meere und alle Ozeane befahren.
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Deine Großmutter hat aufgehört, kaltes Wasser in deine Handflächen zu gießen. Sie ist neben dir gestanden, auf der anderen Seite des Beckens, das mit Schmutzwasser gefüllt war, sie hat den Eimer mit dem kalten Wasser in der Hand gehalten und sich nicht gerührt. Du hast einen Moment lang geweint. Du hast deine Tränen ins Becken fallen sehen, hast deine Tränen ins Wasser tropfen und sich mit dem Schmutzwasser vermischen sehen. Du hast zu deiner Großmutter gesagt, «gieß!», und sie hat den Eimer mit dem kalten Wasser über deinen Kopf gehoben und hat kaltes Wasser auf den unteren Teil deines Rückens geleert. Bevor er der Mann deiner Mutter geworden ist, war dein Vater der Mann einer Tochter eines orthodoxen Priesters. Das war seine erste Ehe. Sie waren ein Jahr lang verheiratet, dann haben sie sich scheiden lassen. Dein Vater liebte die Frauen. Er war kein Schürzenjäger. Er liebte die Frauen einfach. Deine Mutter liebte er so, als würde sie alle Frauen verkörpern. Er polierte deiner Mutter die Schuhe, er bekochte sie oft mit gutem Essen, er machte ihr jeden Tag Geschenke und führte sie häufig auf Feste zum Tanzen aus. Deine Mutter liebte deinen Vater sehr. Sie liebte es nicht, dass dein Vater die Schönheit anderer Frauen sah, und sie liebte es nicht, dass dein Vater die Leute liebte. Dein Vater liebte die Leute. Er liebte die Leute, und er liebte auch die Leute, die der Einheitspartei angehörten. Dein Vater war unbezähmbar, und er liebte die Leute. Da bist du ihm ähnlich. Ansonsten bist du ein Original. Du bist eigen und niemandem ähnlich. Deine Großmutter ist in die Küche zurückgegangen und ist mit einem sauberen Tuch in den Händen wiedergekommen. Du hast das Tuch genommen und hast deinen Körper abgetrocknet, bis zum Gürtel deiner kurzen Hosen. Sie hat das Becken genommen und ist das Schmutzwasser in den Vorhof ausschütten gegangen. Sie ist wieder zu dir zurückgekommen und hat das Becken auf den Boden gestellt, neben den Schemel. Sie hat gesagt, dass du dich hinsetzen sollst, und hat kaltes Wasser ins Becken geleert. Sie hat den Besen aus der Küche geholt, ihn vor dir auf den Boden gelegt und gesagt, «jetzt putz deine Füße». Du hast deine Füße ins Wasser des Beckens getaucht und hast angefangen, sie einzuseifen. Du hast deine Füße gewaschen, deine Waden, deine Knie, deine Beine, bis auf die Höhe deiner Shorts. Du hast deine Füße auf den Besen am Boden gestellt und hast mit dem Tuch die Tropfen weggewischt, die noch auf deinen Beinen waren, auf deinen Fersen, auf deinen Knien, auf deinen Fußsohlen. Deine Großmutter hat dir deine besten Schuhe gebracht. Sie hat dir ein sauberes und gebügeltes Hemd gebracht. Sie hat dir eine frische Unterhose und eine Hose gebracht. Sie hat gefragt: «Hast du heute etwas gefangen?» Du hast ja gesagt, und sie hat gesagt, dass sie diesen Fisch für dich zubereiten werde, wenn du vom Begräbnis deines Vater zurück sein würdest, und sie hat gesagt, dass sie diesen Fisch im Kühlschrank deiner Tante aufbewahren werde. Sie hat gesagt: «Zieh deine Shorts aus, zieh deine Unterhose aus, leg sie auf den Boden, putz deinen Po und deinen Piepmatz!»
Mitten im Hof hast du dich ausgezogen und hast, im Becken stehend, den Rest deines Körpers gewaschen, du bist aus dem Becken gestiegen, du hast dich ein letztes Mal abgetrocknet, und du bist mit den sauberen Kleidern in der Hand zurück in die Sommerküche gegangen, du bist hineingegangen, um dich anzuziehen. Der Postbote hat an der Tür nach deiner Großmutter gerufen. Er hat gesagt, es sei noch ein Eiltelegramm gekommen. Es war das zweite Telegramm. Es war das erste Telegramm. Die Großmutter hat den Postboten gebeten, ihr dieses Eiltelegramm an Ort und Stelle vorzulesen. Sie hatte ihre Brille nicht dabei. Sie hat den Postboten lesen hören: «Dein Vater ist bei einem Autounfall schwer verletzt worden», da hat sie sich gesagt, dass er gar nicht tot sei, dein Vater. Sie hat sich gesagt, dass er vielleicht nur schwer verletzt sei. Sie hat sich vom Postboten verabschiedet und ist zu dir in die Sommerküche gegangen. Du hast ein bisschen Quark und ein Stück Brot gegessen. Sie hat die Tür zur Sommerküche aufgemacht, hat ein Huhn verscheucht, das sich auf einen Stuhl setzen wollte, und hat gesagt, «lies dieses Telegramm, da steht, dass er nicht tot ist, dein Vater!» Du hast das Telegramm gelesen, du hast die Augen deiner Großmutter angeschaut, sie waren voller Tränen, sie weinte, du hast sie einen Moment lang so angeschaut, ihr seid einen Moment lang dagestanden und habt euch angeschaut, ohne etwas zu sagen, dann hast du gesagt, «er ist tot, du weißt genau, dass er tot ist, voilà!»
Sie hat dich in die Arme genommen. Du warst damals gleich groß wie sie. Sie hat dich an sich gedrückt, sie hat dir einen Kuss gegeben und hat von irgendwo drei Geldscheine hervorgeholt, sie hat diese Geldscheine in deine Hand gelegt und hat gesagt: «Ab zur Beerdigung!»
Wenn er dich besuchen kam, kam er oft mit dem Taxi. Er mietete das Taxi für den ganzen Tag. Das Taxi hielt vor dem Haus, er stieg aus, er sagte zum Fahrer, er solle ein paar Minuten warten. Er betrat den Hof, er rief nach dir, und wenn du aus dem Haus kamst, sagte er, du sollst dich anziehen und mit ihm mitkommen. Er hatte immer ein Geschenk für die Großmutter dabei. Er wechselte draußen im Hof ein paar Worte mit ihr, dann sagte er, «bist du bereit?», und du kamst heraus, gabst deiner Großmutter einen Kuss und gingst mit ihm mit, hinein ins Taxi. Sobald ihr drin wart, beide auf der Rückbank, gab er dem Fahrer die Richtung bekannt: «In die Hauptstadt!», und der Wagen ist losgefahren.
Du hast an diese Reisen mit deinem Vater gedacht, und du wolltest Autostopp machen bis zur Stadt, in der seine Frau sein Begräbnis vorbereitete. Du bist zu Fuß die Straße entlanggegangen, und deine Kameraden aus der Schule und aus dem Viertel haben wie immer, wenn man sich auf der Straße begegnete, gefragt, «wohin gehst du?», und du hast geantwortet, «ich gehe an die Beerdigung meines Vaters!» Sie haben dich angeschaut, ohne etwas zu sagen, sie haben diese Worte gehört und haben sich verabschiedet, und du hast dich verabschiedet und bist weiter die Straße entlanggegangen, du hast den Leuten guten Tag gesagt, und sie haben dir guten Tag gesagt, und von Zeit zu Zeit, wenn du auf ihre Fragen geantwortet hast, hast du gesagt, «ich gehe an die Beerdigung meines Vaters!», «ich gehe an die Beerdigung meines Vaters!» Es gab eine bestimmte Stelle, an der die Leute Autostopp machten, um in die Stadt zu kommen, in der dein Vater lebte. Du bist dorthin gegangen und hast dich hingestellt, wie alle anderen, am Straßenrand. Du hast nicht lange warten müssen. Du bist in ein Auto gestiegen, du und noch zwei andere Personen, zwei Frauen, die wie du Autostopp gemacht haben. Ihr habt im Auto miteinander zu reden begonnen. Du hast ihnen gesagt, dass du an die Beerdigung deines Vaters gehst. Du hast dich an eine der Reisen erinnert, in die Hauptstadt, mit deinem Vater. Er hatte ein Zimmer in einem Grand Hotel reserviert. Ihr seid eine Woche lang in diesem Luxushotel geblieben. Jeden Morgen habt ihr das Frühstück aufs Zimmer bestellt. Nach dem Frühstück seid ihr in die Stadt aufgebrochen, und er hat dir Geschenke gekauft. Er hat dir einen Tennisschläger und einen Fotoapparat und mehrere Filme gekauft. Schwarzweißfilme, um Fotos zu machen. Er hat dir zwei Anzüge und mehrere Hemden gekauft, und ihr habt immer in verschiedenen Restaurants gegessen. Er wollte dir einige Orte auf dieser Welt zeigen. Er brachte dich an sehr unterschiedliche Orte. Du bist in diesem Auto gesessen, das dich in die Stadt brachte, in der dein Vater beerdigt werden würde, und du hast dich an eine der Reisen erinnert, die du mit ihm gemacht hattest. Wenn er dich abholte, hatte er viel Geld. Er gab mit dir alles Geld aus, das er dabei hatte. Wenn ihr wieder nach Hause kamt, hatte er kein Geld mehr. Wenn er dich mit dem Taxi abholte, gab er dem Taxifahrer Geld, er bezahlte dem Taxifahrer das Hotel und das Essen. Er sagte dem Fahrer, «das ist für Sie, aber Sie kommen nicht mit uns mit!» Er machte mit dem Taxifahrer Treffpunkte aus, und er zeigte dir die Stadt durch die Fensterscheibe des Taxis. Er hat dir Tennisbälle gekauft. Er hat dich in den Zirkus geführt und in einen großen Park der Hauptstadt, und in diesem Park hatte es einen großen See, auf dem er mit dir Boot gefahren ist und dir das Rudern beigebracht hat. Von deinem Vater hast du gelernt, wie man die Ruder hält und wie man rudert. Dein Vater mochte die Polizisten nicht. Er hatte dir mehr als einmal erklärt, dass die Polizisten keine echten Polizisten seien, weil sie die Einheitspartei verteidigten. Da die Einheitspartei nicht von Bedeutung war, waren die Polizisten, welche die Einheitspartei verteidigten, ebenfalls ohne jede Bedeutung. Jedes Mal, wenn er einen Polizisten sah, sagte dein Vater, «schau ihn an, den da, er hat keine Ahnung, dass er nur eine Marionette ist!» Du hast den Polizisten in Blau angeschaut, und du hast gesehen, du hast verstanden, dass dieses Polizistenblau eine Marionette war. Du hast Fragen gestellt, dir selbst, in deinem Kopf, über die Marionetten. Dir ist bewusst geworden, dass es menschliche Marionetten gibt. Du hast deinen Vater angeschaut, wie er andere angeschaut hat. Dir ist bewusst geworden, dass dein Vater, auch er, zu einer menschlichen Marionette wurde. Du bist an das Begräbnis deines Vaters gefahren, und du hast dich daran erinnert, dass du mit ihm warst, als du dir zum ersten Mal die Frage gestellt hast: «Werde auch ich eine Art menschliche Marionette sein?!»