Loe raamatut: «Das, was du suchst»
MARJOLEINE DE VOS
Das, was du suchst
Von der Sehnsucht nach dem Spazierengehen
Mit Fotografien von Anjo de Haan
Aus dem Niederländischen
von Christiane Burkhardt
Inhalt
Lies nur. Es hat uns gegeben.
The art of losing
Das echte Leben
Das Leben auf Erden
Ich bewahre nicht einen Halm
Dass es nichts zu verstehen gibt
Literaturverzeichnis und Nachweise
Verzeichnis der von Anjo de Haan fotografierten Orte
Platzangst
Hinter den Wiesen Weiden, und da dahinter
Deiche, Meer und Schweden. Wo geht’s hin?
Der Blick verliert sich und den Raum,
und findet weit und breit kein’ Ankunft.
Anders der Erpel, der plötzlich und unbändig
grün ins Sonnenlicht und dir ins Auge schwimmt.
Schau neben deinen Fuß, mahnt er, wo die Ranunkeln
blühn, die Luft im Graben blau gespiegelt.
Fühl die Wärme auf der Nase, sieh das frühe Blatt
vom Flieder. Du hast zu weit geschaut. Das, was du suchst, ist hier.
Lies nur. Es hat uns gegeben.
Es kann lange dauern, bis man weiß, was man sieht. Ja, es kann sogar lange dauern, bis man weiß, dass es überhaupt etwas zu sehen gibt. Man kann jahrelang mit dem Rad durch die Stadt fahren, durch die Veluwe wandern, am Strand entlang, über Wiesen oder die Heide laufen und beim Anblick eines Vogels nicht mehr denken als: Hallo, Vogel. Wenn der Frühling kommt, singen die Vögel lauter und früher. Ein aufmunterndes Geräusch, das man gerne hört.
Die Vögel. Welche? Keine Ahnung.
Wer von nichts weiß, sieht keinen Rotschenkel oder Zaunkönig, keinen Austernfischer oder Kiebitz, sondern bloß «Vögel» oder bestenfalls Möwen, Enten, Spatzen, Schwäne. Wenn einem niemand beigebracht hat, und wenn man selbst nie danach gefragt hat, welche Vögel es gibt, wie sie aussehen und wo sie leben, dann braucht man sie kaum wahrzunehmen.
Mit Landschaften verhält es sich genauso. Es dauert sehr lange, bis man sie richtig wahrnimmt. Menschen, die sich darüber beschweren, wie die Geschichte einer Landschaft ausgelöscht wird, beschweren sich oft bei tauben Ohren oder blinden Augen: Für den Nichteingeweihten, den Nichtkenner, gibt es in einer Landschaft sowieso nur sehr wenig zu sehen.
Natur in den Niederlanden, das bedeutet heute: ein umzäuntes Stück Land mit Weidevieh. Der Naturschutz ist ganz vernarrt in halboffene Landschaften und «Feuchtgebiete», in umgestürzte Bäume und Hirschkadaver, in das Hervorholen von Wasserläufen, in Schutzgebiete und Betretenverboten-Schilder. Zur Erholung in der Natur gibt es Radwege und Seen, in denen man im Sommer planschen kann. Am liebsten mit einem Grillfeuer am Ufer. Das ist Natur, da geht man hin, wenn man ins Freie geht.
Einer Kulturlandschaft kann niemand viel abgewinnen, es sei denn es gäbe etwas Spektakuläres darin zu bestaunen: Burgen, Schlösser, eine romantische Ruine, einen schönen Landsitz, einen Teegarten. Wo nichts dergleichen zu sehen ist, muss man auch nicht hin – was sollte man sich da schon anschauen? Die meisten von uns wissen gar nicht mehr, wie man eine Landschaft liest, und das liegt nicht nur an uns, sondern auch an den Landschaften.
Das Agrarland außerhalb der Städte gibt oft nicht viel her: begradigte Parzellen, riesige Milchviehbetriebe, Maisfelder und Weidelgras. Den Rotschenkeln und Uferschnepfen, die ich einst entzückt bestimmen konnte, begegnet man heute nicht mehr. Die Feldlerche erhebt sich nicht länger jubelnd in die Lüfte. Wilde Wiesen bezaubern eher selten durch ihre bunte Blumenpracht, denn im Weidelgras gedeiht rein gar nichts mehr, an den Kanälen behaupten sich höchstens noch ein paar Brennnesseln und etwas Schilf. Auf keinem Feld steht noch ein Baum, Wallhecken sind so gut wie überall schon lange aus der Landschaft verschwunden.
Gut, da läuft man also, durch genau dieses Agrarland außerhalb der Stadt, irgendwo zwischen Leermens und Eenum in Groningen. Ich betrachte den riesigen Acker, der im Winter eine einzige große Schlammwüste ist, eine Schlammwüste mit ziemlich vielen verlorenen Zwiebeln, die der Bauer nicht retten konnte. In den Furchen steht Wasser, das im fahlen Morgen- oder Nachmittagslicht glitzert – herrlich!, denke ich zufrieden. Gern würde ich auch demjenigen, der diese Weißdornhecke am Wegrand gepflanzt hat, einen Zettel mit Dankesworten hinterlassen – sie sorgt dafür, dass das Kahle weniger kahl wirkt, schützt vor dem doch öfter mal auffrischenden Westwind, und manchmal tschilpen Spatzen darin. Tjielp tjielp tjielp. Den Dichter Jan Hanlo zu zitieren, fällt Spatzen äußerst leicht.
Hinter meinem Schal ist es schön warm, was haben wir für ein Glück, dass es Daunenjacken gibt, wie still es ist, bestimmt bauen sie hier schon bald wieder was Neues hin. Bin gespannt, was.
Manchmal denkt man beim Spazierengehen bloß einfache, einfältige Gedanken, und genau das macht das Spazierengehen so angenehm. Dass ausnahmsweise mal nichts Besonderes los ist, dass nur das da ist, was man sieht. Auch wenn das, was man sieht, häufig schnurgerade ist und verhältnismäßig unbelebt. Die Kanalufer haben fast schon scharfe Kanten, weil jemand den Graben mit einer großen Maschine ausgehoben hat. Die Mäuse lässt das unbeeindruckt, überall in der Uferwand entdecke ich kleine Löcher. So eine Maus erwischt man nicht so schnell.
Und schon eilen die Gedanken wieder fort von diesem Genörgel.
Auch wenn die meisten Menschen nicht als Erstes an Ackerland denken, wenn sie davon reden «raus in die Natur» zu gehen, fühle ich mich dennoch «in der Natur» in dieser mittlerweile etwas zu großflächigen Landschaft, in der gleichzeitig Kirchen, Dörfer und Baumgruppen kleinteilig verstreut sind, über der sich riesige Wolken türmen oder ein immens grauer Himmel hängt, und wo es nicht viel Verkehr gibt.
Auch hier im Hogeland in der Provinz Groningen, wo ich lebe und täglich spazieren gehe, hat die Zeit, dieser große Radiergummi, vieles verschwinden lassen. Auch hier wurden die Parzellen vergrößert und gewundene Wasserläufe begradigt, aber an zahlreichen Orten ist doch noch etwas übrig geblieben. Enorm große Höfe mit mächtigen Doppelscheunen. Mittelalterliche Kirchen, die manchmal sogar aus dem 12. Jahrhundert stammen, mehr als zweitausend Jahre alte Wierden (ein anderes Wort für Warften, die sich in Dorfnamen, die auf «-werd» enden, niedergeschlagen haben). Spuren von alten Straßen, einstigen Siedlungen, menschlichem Treiben, das sich vor Jahrhunderten abgespielt hat. Wenn man so will, ist natürlich ganz Groningen, ja ganz Nordholland eine Spur von einstiger Geschäftigkeit – hätte man nicht irgendwann einmal Deiche, Warften und Wierden angelegt, wäre dieses Land längst nicht schon so lange fruchtbares Siedlungsland und würde vollkommen anders aussehen. Wer nicht weiß, dass es so war, dass einst auf aufgeschütteten Hügeln Siedlungen entstanden, dass man den fruchtbaren Lehm nutzte und das Wasser nach Kräften zurückdrängte, der bemerkt auch nichts davon. Der fragt sich höchstens, warum die Wege so seltsam gewunden sind in einer solch weiten Landschaft ohne erkennbare Hindernisse, die einem geraden Verlauf entgegenstünden – ohne zu ahnen, dass diese Wege einst an gewundenen Wasserläufen entlang führten, ja dass viele Tümpel Überreste von Prielen sind, entstanden durch das einströmende Wasser, und dass die Eisbahnen im Dorf häufig die Folge abgetragener Wierden sind.
In Eenum und Leermens gibt es solche Eisbahnen, die ganz tief zu liegen scheinen, weil die Wierde so steil abgetragen wurde. Das sieht eigentlich ziemlich hübsch aus. Ganz besonders im Winter, wenn es friert und dort Schlittschuh gelaufen wird, aber auch in all den Monaten, in denen so eine Wiese hoffnungsfroh von glitzerndem Wasser bedeckt ist. Oder im Sommer, wenn neben der schönen alten Kirche Schafe weiden. Ich bin mir sicher, dass jemand mit meinem Erhaltungstrieb vehement gegen das Abtragen der Wierden gewesen wäre, als man damit zu Beginn des 20. Jahrhunderts anfing, weil das so ein fruchtbarer Boden war. Und ob ich dagegen gewesen wäre! Dabei sind die abgetragenen Wierden heute oft wunderschön anzusehen – diese spektakulären Höhenunterschiede hätte es hier ohne die Geldgier beziehungsweise Armut von damals nie gegeben.
Wer diese Landschaft flach nennt, schaut nicht richtig hin. Flach? Von wegen! Überall gibt es Deiche, abgetragene Wierden, noch bestehende Wierden, manche Äcker haben ihr sanftes Gefälle behalten, und Kirchen ragen weit über ihre Umgebung hinaus – was ist daran flach?
Aber wie gesagt: Sehen muss man lernen. So wie es für denjenigen, der nichts von der Geschichte weiß, die Eschflur um Drenthe nicht gibt, gibt es auch das mittelalterliche Groningen nicht für denjenigen, der nicht weiß, dass es so etwas wie ein mittelalterliches Groningen gegeben hat. Man muss erst lernen, diese Spuren zu lesen, sonst gibt es schlichtweg keine Spuren.
Auch für denjenigen, der davon weiß, ist es nicht immer leicht, selbst wenn Spuren nicht unbedingt so sehr im Verborgen liegen müssen. Zeerijp soll einst eine beeindruckende Obstwirtschaft gehabt haben, hat mir mal jemand erzählt. Zeerijp? Eine erstaunlich große Kirche, eine breite Dorfstraße und schon hat man den Ort wieder verlassen … Aber anscheinend floss dort die Marmelade in Strömen – na ja, zumindest in ihrer unverarbeiteten Obstform. Aber als ich das von dem Obst erst mal wusste und etwas genauer hinsah, wenn ich morgens den Mühlenweg nahm oder den Weg durchs angelegte Wäldchen, fiel mir plötzlich auf, dass die meisten Häuser Gärten von einer beachtlichen Tiefe besitzen, und dass dort bemerkenswert viele Obstbäume stehen. Überall Obstgärten, und zwischen den Bäumen häufig Beerensträucher, denn so gehört sich das. Auf einmal wurde der etwas langweilige Anblick, den das Dorf vielerorts bietet, ein ganzes Stück lebendiger. Weil ich begann, mehr wahrzunehmen. Es dauert immer eine Weile, bis man eine Landschaft tatsächlich wahrnimmt. Einmal irgendwo spazieren gehen ist keinmal irgendwo spazieren gehen: Man bekommt einen ungefähren Eindruck, weiß aber noch nicht, wo es sumpfig wird im Herbst, wo man einen schönen Ausblick hat, wo man abends kurz in der Sonne sitzen kann, oder aus welchem Winkel man am besten sieht, dass der Turm von Eenum lächerlich schief ist. Man muss ein bisschen mit der Landschaft verschmelzen, und das geht nur durch Wiederholung.
In Oefeningen bij een beek («Übungen an einem Bach») beschreibt der Dichter C. O. Jellema, wie er an seinen Heimatort Beilen in Drenthe zurückkehrt. Er hat unendlich viele Erinnerungen an sein Elternhaus, an den Garten, von dem aus man im Nu über einen Fußweg in die von Wallhecken umgebenen Felder gelangte, an die Sandwege, an den sich dort windenden Bach. Natürlich ist ihm bewusst, dass das, was er dort vorfinden wird, nicht mehr das sein kann, was er in Erinnerung hat – aber dass es sich so dramatisch verändert konnte? Unvorstellbar. Das Kind, das er einst war, ist vollkommen ausgelöscht, schreibt er. Die Weiler weg, die Sandwege verschwunden, die Brombeeren, der Fußweg, der gewundene Bach – die ganze Welt, die ihm so innig vertraut war: einfach weg. «Und jetzt», so Jellema, «darf ungestraft an den Gleisen, für Zugreisende deutlich erkennbar und sozusagen als Wiedergutmachung für die Eintönigkeit der rechteckigen, durch tote Kanäle voneinander abgegrenzte Parzellen, ein Schild stehen, dessen Aufschrift es sogar noch schafft, die Zerstörung der uralten Kulturlandschaft zu leugnen: ‹Naturentwicklungsprojekt›.»
Was er sieht, ist eine absurde, unlesbar gemachte, seelenlose Landschaft, noch dazu eine mit einem angeberischen Schild, als ob sie jetzt, endlich, aufgewertet wäre.
Aber …, dachte ich, als ich seinen schönen Text las, in dem die Empörung, lange bevor sie beißend werden konnte, zu philosophischer Wehmut abgeschwächt wurde: … Würde jemand, der keinerlei Erinnerungen an diesen Ort hat, ebenfalls sehen, dass die Sandwege im Nichts verlaufen, dass die Kanäle zu gerade und die Felder zu groß sind – kurzum, dass hier etwas fehlt? Oder würde er, ohne etwas zu bemerken, daran vorbeilaufen, an einem der vielen unauffälligen Orte Hollands?
Letzteres dürfte wohl eher der Fall sein.
Vielleicht sollten wir in der Grundschule auch noch eine andere Form von Leseunterricht bekommen und zwar im Landschaftslesen. Oder vielleicht sollte jeder zuallererst ein Gedicht von Willem van Toorn auswendig lernen müssen, in dem er in der Landschaft Spuren menschlichen Lebens erkennt. Es lautet folgendermaßen:
Zwischen Wolken und Erde die Zeichen:
Das waren wir, sind wir. Sieh nur,
wir graben Land aus dem Wasser,
stapeln Steine zu Türmen,
unser Blick lässt keinen Ort in Ruh’.
Am ausgefransten Rand unseres Blickfelds
trifft das Auge noch auf Vergangenes:
der schiefe Zaun, die vergess’ne
Wanne im Heuschuppen, Münzgeld,
gehoben mit dem Schiffswrack,
der durchbrochene Brückenbogen.
Wir sind nur kurz hier, eine Unruhe,
in der Stille nach Sprache tastend,
ein Gesetz zum Zähmen der Angst.
Lies nur. Es hat uns gegeben.
Tasuta katkend on lõppenud.