Loe raamatut: «Mit Baťa im Dschungel», lehekülg 2
JAN ANTONÍN
Ich überlege, wo ich anfangen soll. An welcher Stelle beginnt eine wirklich interessante Geschichte? Woran erkennt man, ob sie erzählenswert ist? Und ab welchem Punkt unterscheidet sie sich von einer ganz alltäglichen? Ich konnte das nie erkennen. Aber ich habe immer gerne geschrieben. Habe immerhin fast vierzig Manuskripte verfasst! Ich schrieb gern und viel, auch ein paar Romane sind dabei, die, nun ja, von mir selbst handeln. Was soll man machen, ich bin eben graphoman. Megaloman. Ein träumendes Kind. Das Schreiben hat mich immer gerettet, wenn ich nicht mehr aus noch ein wusste, wenn ich mich ohnmächtig fühlte, weil ich beinahe alles verloren hatte. Aber in meinen Texten steckt nicht, was ich wirklich sagen wollte. Es ist mir nicht gelungen, das Wesentliche zu berühren. Ich dachte immer, indem ich tagtäglich aufrichtig bemüht und fleißig schreibe, nachdenke, plane, arbeite und übe, dann würde mir das gelingen. Doch jetzt erkenne ich, dass es nicht gelungen ist. Damit meine ich nicht die künstlerische Qualität oder künstlerische Absicht, denn im Grunde ging es mir gar nie um Kunst – es ging mir um Wahrhaftigkeit! Um die ehrliche Schilderung meiner Erlebnisse, darum, meine Erfahrungen zu teilen. Etwas sollte nach meinem Tod von mir bleiben. Nun, ich weiß, das wünscht sich jeder, das ist nichts Besonderes. Aber ich war davon überzeugt, dass ich besonders war oder dass ich zumindest ein besonderes Leben hatte und alles festhalten musste, was mir begegnet war – das Glück und die Menschen, die mit mir gearbeitet, das Land verlassen, geträumt und meine Träume erfüllt hatten –, damit es nicht verloren ging. Am Lauf der Geschichte ließ sich nichts ändern, was geschehen war, war geschehen. Aber ich konnte meinen Blick auf die Dinge wiedergeben. Schildern, wie ich alles erlebt hatte – und nicht, wie später diese Verbrecher darüber schrieben, die eimerweise Dreck und Lügen über mir auskippten und mir alles stahlen. Und ich setzte um, was ich mir vorgenommen hatte, folgte meinen ganz persönlichen Plänen und Zielen. Ich wollte kein Schriftsteller sein, ich wollte nur ein Vorbild sein. Das mag unbescheiden klingen – na und? Ich pfeife auf Bescheidenheit, wenn sie nicht angebracht ist! Doch trotz all meinem Eifer habe ich mich nicht leichtgetan. Ich war nicht zufrieden. Und das nagte in mir. Das Bild, das ich entwarf und jeden Tag in die Maschine tippte oder jemandem diktierte, mit der Absicht, dass Tausende von Menschen es lesen würden, war irgendwie festgefahren. Es war kein Problem des Stils, immerhin waren meine Zeitungskolumnen und meine Reden deutlich besser als die von Tomi. Ich vermochte Menschen mitzureißen, sie für unsere Sache, unsere Ansichten zu begeistern. Doch wenn ich eine Geschichte zu schreiben begann und etwas Lehrreiches darin unterbringen wollte, geriet es hölzern. Als wären mir die Buchstaben in der Schreibmaschine erstarrt. Womöglich lag es daran, dass ich die Menschen, über die ich schrieb, nicht wirklich verstand. Ich konnte mir zwar einen Einblick in ihre Herzen und Leben verschaffen, aber was ich dort sah, darüber wollte ich gar nicht schreiben! Da war zu viel Belangloses, zu viel Angst und Kleinmut, Habsucht und Blindheit. Dabei wollte ich so gerne über Helden schreiben, über starke Menschen, kleine und dennoch große Leute. Denn genau das benötigte damals unsere Nation und benötigt sie im Grunde immer noch! Positive Vorbilder, große Geister für ein kleines Volk! Vermutlich war es das, was sich in meinem Schreiben im Konflikt befand: die meist doch recht armselige Realität und die Sehnsucht nach etwas Besserem, einem höheren und sinnerfüllten Ideal. Kurz und gut, ich moralisierte etwas viel und bog die Menschen, über die ich schrieb, zu sehr nach meinen Zwecken zurecht. Jetzt, mit dem Abstand der Ewigkeit, sehe ich das deutlich, aber zu jener Zeit konnte ich das noch nicht. Ich wusste nicht, dass man, wenn man übers Leben schreibt, auch von den peinlichen, kleingeistigen und schmutzigen Dingen erzählen muss, andernfalls kommen nur hochtrabende moralische Traktate dabei heraus. Die wollte ich freilich nicht schreiben, und doch schlüpften sie mir immer aus der Maschine. Es heißt, am besten sei ich als Satiriker gewesen. Wahrhaftig eine Ironie des Schicksals: Ich hatte unserer Nation Optimismus und Zuversicht einflößen wollen, aber die besten Kritiken gab es zu meinen verbitterten Satiren, die der Verzweiflung entsprangen. Nachdem mein eigener Verlag beschlagnahmt worden war, wurden meine Texte in ausländischen Zeitschriften und Exilverlagen gedruckt. Zum Beispiel in London, wo man im Jahr 1953 Satiren und Aphorismen von mir für vier Shilling kaufen konnte. Irgendein ominöser Rezensent mit dem Kürzel J.J. schrieb dazu: »Der große Unternehmer erweist sich als nachdenklicher Mann, dem es nicht allein ums Geld ging, sondern um die Leistung, die Lebensaufgabe, die Erfüllung selbstgesteckter Ziele. Bat’a wurde gleich mehrmals der Boden unter den Füßen weggezogen, und wenn er dies mit Seelenruhe annahm, sich darüber erheben konnte und nicht seinen Glauben an eine vernunftbestimmte, humane Zukunft verlor, so zeugt dies von einer außerordentlichen Persönlichkeit. In seinen Satiren zeigt er sich eher als treuer Anhänger der Volksliedtradition denn als Verfechter der kunstvollen Satire, er lässt jedoch niemanden darüber im Zweifel, was er sagen möchte. Bat’a glaubt an den Menschen und an die freie Entfaltung von dessen Fähigkeiten und Kräften, in seinem schmalen Büchlein steckt viel bejahender Glaube an die Menschheit und ihre Mission. Die Lektüre verschafft uns einen Einblick in die geistige Werkstatt eines Unternehmers, der sich dem Schicksal und den Zeiten nicht ergab.«
Glaube ich immer noch und nach allem, was war, an die Menschheit und ihre Mission? An eine vernunftbestimmte, humane Zukunft? Ich würde gerne Nein sagen. Denn nur ein Verrückter könnte nach den Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe, noch an die Vernunft, die Gerechtigkeit und die Menschheit glauben, geschweige denn an eine vernünftige, humane Zukunft. Aber letztlich war ich immer ein Verrückter. Heute würde man sagen, ein »Freak«. Wie oft hat man mir das nicht vorgeworfen, wie oft haben nicht meine so rationalen Direktoren in den Fluren der Fabriken, über ihren Kaffeetassen oder geschliffenen Champagnerkelchen hinter vorgehaltener Hand über mich getuschelt oder sogar meine hehren Pläne verspottet.
Es gibt einen prägenden Moment, den ich nicht vergessen kann. Ich weiß selbst nicht, wie es genau kam, dass von damals an alles anders wurde. In der Folge konnte ich meinen eigenen Sturkopf nicht mehr ignorieren. Ich glaube, es war dieser Augenblick, als plötzlich mein Stiefbruder Tomi aus dem Gebüsch auftauchte, der mich dort beobachtet hatte, wie ich hinter den anderen Jungen herrannte, über meinem Kopf ein Seil schwingend, an das ich einen Stein gebunden hatte. Ich hatte damals meinen Arm gebrochen, der in einen schmutzigen Lumpen gebunden war, und die Jungs hatten mich deswegen verhöhnt. Mein Halbbruder Tomi war nach Hradiště gekommen, in unser ämliches Viertel Rybárny, um meine Mutter zu besuchen. Er wollte sie überreden, mich zu ihm nach Zlín ziehen zu lassen, zu ihm und seiner Frau Máňa, die auf vornehme Dame machte, damit ich dort die Bürgerschule besuchte. Meinetwegen war er in die mährische Provinz gekommen und hatte im Gebüsch versteckt beobachtet, wie ich mich gegen diese Jungen wehrte, wie ich ihnen mit dem Stein am Seil den Marsch blies. Ich selbst hatte diese Szene längst vergessen, aber er erinnerte mich später daran, und dabei klang aus seiner Stimme eine Anerkennung, die ich nicht mehr oft zu hören bekam. Ab dem Moment, als er mir das erzählt hatte, wollte ich ihn nie mehr enttäuschen, und erst recht nicht den kleinen Bengel, der einen Stein über seinem Kopf geschwungen hatte. Darüber hätte ich schreiben sollen, aber ich wusste nicht, wie. Und auf meinem Sterbebett kritzelte ich dann diese letzten Worte: Die Wahrheit wird zum Vorschein kommen wie Öl auf dem Wasser. Gleich darauf dachte ich: Aber wer interessiert sich schon für die Wahrheit?
Vielleicht sollte ich euch lieber eines meiner Gedichte vortragen. Sie waren nicht meine besten literarischen Erzeugnisse, trotzdem schrieb ich sie am liebsten. Sogar diesem Hasenfuß von Beneš schrieb ich eines zum Sechzigsten.
Zum Sechzigsten sei dem Heldenhaften,
das wünschen wir, Glück beschieden.
Er möge sein Werk der Weisheit vollenden,
dem Volk Freiheit schenken und Frieden.
Ich begreife nicht, welcher Teufel mich damals geritten hat! Offenbar glaubte ich vor dem Ende des Krieges, einem Staatsmann mit einer solch bewegten Geschichte dann doch gratulieren zu müssen, am besten mit einem schlappen Gedicht. Man möge diese Zeilen nicht nach dem Kriterium ihrer künstlerischen Bedeutung beurteilen, es war freilich nur ein typisches Gelegenheitsgedicht. Aber es war einfach so, dass mich das Verseschmieden jedes Mal in eine Hochstimmung versetzte. Mir wurde etliche Male gesagt, Schuster bleib bei deinem Leisten, aber auf solches Gerede habe ich nie etwas gegeben. Die Leute reden immer viel. Wenn ich Gedichte schrieb, konnte ich meine Flügel ausbreiten. Konnte mich aufschwingen und über das Meer zurück in die Heimat fliegen, wieder ein stolzer Patriot sein, auch Beneš war in meinen Gedichten ein Staatsmann, wie sie nur selten geboren. Nun ja, die Satire ist mir wohl wirklich am besten gelungen.
DOLORES
(Enkelin Jan Antonín Bat’as, Tochter von Ludmila Bat’ová und Ljubodrag Arambašić)
Babonky
So nannten wir sie, die kleinen gelben Klößchen aus Eiern und Mehl. Großmutter Maja tat sie in die Suppe, in die Rinderbrühe, die von unseren weißen Kühen stammte. Jeder durfte sich nur zwei nehmen, das war Großmutters Regel. Nur zwei Babonky. Wir rangelten um sie, an unserem Kindertisch im Wintergarten, wo die Kinder bis zehn Jahre aßen. Das wiederum war eine Regel von Großvater. Wenn wir am Kindertisch gelernt hatten, uns anständig zu benehmen, uns nicht mehr um die Babonky rauften und auf der Geburtstagstorte zehn Kerzen ausgeblasen hatten, dann durften wir feierlich in die Welt der Erwachsenen hinüberwechseln und an ihrem Tisch im richtigen Esszimmer sitzen. Ich wollte aber nie vom Wintergarten weg. Ich liebte die verglaste Terrasse und den Pingpongtisch, an dem ich immer alle Cousins und manchmal auch Großvater besiegte. Ich raufte mich gerne mit den Jungen um die Babonky und hatte gar nicht das Bedürfnis, mich anständig zu benehmen, das Besteck richtig zu halten, zu wissen, mit welchem Löffel man die Torte isst, und darauf zu achten, dass meine Bluse keine Soßenspritzer abbekam. Außerdem beobachtete ich die Erwachsenen gern vom Wintergarten aus und malte mir aus, worüber sie gerade sprachen. Ich konnte sie genau sehen – Großvater, zu seiner Linken Großmutter Maja, die am Tischende saß, rechts davon Onkel Jan, dann Onkel Nelson, Tante Edita, Tante Jena, die wir aus unerfindlichen Gründen Hana nannten, meine Mama Ludmila, die auch Lidka genannt wurde, dann ein serbischer Schnauzbart – mein Onkel Dragoslav – und mein geliebter Papa Ljubodrag. Nicht nur die Gerüche der Speisen vermischten sich dort miteinander, auch die Sprachen. Serbisch mit Tschechisch und Portugiesisch, mährische Kraftausdrücke mit Juristenenglisch, elegantes Literaturfranzösisch mit Papas serbischen Anekdoten oder den deutschjüdischen Witzen aus Wien, wo er Jura studiert hatte. Als mich anständiges Benehmen dann nicht mehr abschreckte und ich im Esszimmer meinen Platz neben Onkel Jan eingenommen hatte, trat ich trotzdem noch manchmal heimlich unter dem Tisch meinen Cousin Ljubo oder den langen Streber Æika, der mich immer verpetzte. Es war alles so ebenmäßig damals, all diese Tage und Ferien und Weihnachten in Batatuba. Das Klackern von Jan Antoníns Schreibmaschine, Großmutter, die in der Küche zugange war, Großvaters mächtige Pranke, die uns niemals schlug. Einmal reiße ich vor dem Apotheker Mario aus, ich habe Fieber und er ist extra aus Piracaia gekommen, um mir eine Spritze zu geben, aber weil ich weiß, dass es wehtut, kraxele ich lieber hoch in eine Fichte hinauf, und er klettert mir hinterher und Mama schreit: »Sobald du runterkommst, verhau ich dich, dass du dich umsehen wirst!« Und ich klettere hinunter, bekomme die Spritze und auch die Prügel.
Es sind Zeiten, die ich nicht vergessen kann. Die ich überall suche, mit mir herumtrage und doch nirgends finden kann. Manchmal glaube ich sie in der Heimat zu entdecken, die nicht meine Heimat ist, in Zlín, wo ich mich nicht in jedem Schaufenster, jeder Straße und jedem Backstein der puppenhaften Häuser selbst wiedererkenne. Bilder aus der Kindheit. Du schüttelst das Kaleidoskop, und jedes Mal sind da immer wieder neue geschliffene Glaskristalle eines tschechischen Glücks. So oft habe ich mir gesagt, ich sollte diese Zeiten aus meinem Kopf bekommen, weil ich sonst nicht meine eigenen perfekten, schönen, ebenmäßigen und harmonischen Zeiten finden kann, an die sich wiederum meine Töchter erinnern werden. Aber es geht nicht. Alles ist verloschen, hat sich aufgelöst und ist verschwunden, und ich bin die Einzige, die noch die guten alten Zeiten heraufbeschwören kann. Denn ich bin die Einzige, die noch fließend Tschechisch spricht. Es ist, als hörte ich die alte Gerbecová und die alte Hrušt’áková sagen: »Es hängt alles an der Sprache, Mädel«, ein Ausspruch, den ich nie persönlich von ihnen gehört habe, der zu Hause aber immer zitiert wurde. Der lange Streber Æika lebt schon nicht mehr, und Ljubo oder Rodolfo wissen von damals allenfalls noch, was für Streiche sie ausgeheckt und wie sie sich einmal an der Weihnachtsschokolade überfressen haben. Sonst ist diese Zeit für sie passé. Ihre Mütter, Tanten und Onkel sind entweder tot oder haben die tschechische Sprache verloren wie etwas, was gleichzeitig mit der Fabrik in Batatuba verschwunden ist, mit Großvaters und Onkel Jans Tod, etwas Schönes, aber zu weit Entferntes, jetzt eher Unbrauchbares, Veraltetes, wie die Babonky, von denen man nur zwei haben durfte, und mehr kriegte man eben nicht.
In meinem Wohnzimmer hängt ein Gemälde, das so groß ist, dass es eigentlich nicht wirklich hierher passt, sondern besser in einem Museum hängen würde. Aber mit diesem Bild verbinde ich nun mal alles, was ich nie vergessen möchte. Nur meine Mutter Ludmila und ich sind darauf zu sehen, ihr einziges Kind Dolores. So ein großes Gemälde, das sich gut in einem Schloss ausnehmen würde, klingt ein wenig nach adligen Damen und Königinnen, die Porträts von sich malen lassen, doch wir wären damals gar nie auf die Idee gekommen, uns malen zu lassen, vor allem nicht in so einem Format, wenn Mama in ihrer Liebenswürdigkeit nicht diesem alten Ungarn hätte helfen wollen. Ich weiß nicht einmal, wer er eigentlich war. Aber ihn umgab so eine künstlerische, europäische Aura, als habe er in seinem nach Terpentin riechenden Koffer nicht nur Farben und Pinsel mit ins Exil genommen, sondern die ganze Melancholie der Flucht, diese zynische Intelligenz der Gescheiterten, die jenseits des Ozeans keinen Neuanfang mehr hinbekamen. Jemand hatte Mama erzählt, er sei ein großer ungarischer Künstler, ein Emigrant wie wir, und würde Geld brauchen. Es hieß, er habe in Budapest auf der Akademie gelehrt und Gott und die Welt porträtiert, sei dann aber wie unsere Familie vor den Deutschen geflohen. Ich hatte mir einen temperamentvollen Bohémien mit Malerkittel und Barett vorgestellt, doch zur Tür hereingeschlurft kam ein knochiger, braungebrannter Schlaks in einem zottigen Pullover mit mottenzerfressenen Ärmeln, und statt eines Baretts leuchtete im dunklen Zimmer nur seine spiegelglatte, gefleckte Glatze, auf der ein spärlicher Rest grauer Kraushaare wuchs. Er stellte sich als Stevan Kis vor, allerdings hatte ich immer das Gefühl, dass das nicht sein echter Name war. Manchmal trug er eine dicke Brille, dann wieder lief er ohne sie herum oder suchte nach ihr, während er ungarische Flüche ausstieß. Er grüßte nie richtig, sondern brummte nur irgendetwas. Mama und ich setzten uns gehorsam auf die Stühle, die er für uns arrangiert hatte, ich auf den höheren, Mutter auf den niedrigeren. Hinterher tat mir jedes Mal der Rücken weh, trotzdem gefiel es mir, von dem kauzigen Kerl gemalt zu werden. Mir gefiel, wie er die Augen zusammendrückte, leise etwas vor sich hinmurmelte, den Mund spitzte. Manchmal fertigte er nur ein paar Skizzen von uns an, aber er wollte uns nie etwas zeigen. Ungefähr einen Monat lang gingen wir zweimal wöchentlich zu ihm. Vorher wusch ich mir jedes Mal meinen Bubikopf mit Kamillenshampoo, drehte mir die Haarspitzen ein, legte die Perlenkette um und zog mir das rosa Chiffonkleid an, an dem ich noch eine Brosche befestigte. Außerdem trug ich einen Ring mit einem Aquamarin, einem Diamanten und Platin an der Hand, den Mama mir zum fünfzehnten Geburtstag gekauft hatte. Ich kam mir wunderschön vor, aber heute erkenne ich peinlich berührt, was für einen leeren Gesichtsausdruck ich hatte, finde auf dem Bild statt eines verträumten Blicks nur große Augen, die nichts anderes als sich selbst sehen. Dafür hat Mama in ihrem schwarzen Dior-Kleid mit der Diamantspange, die sie von Großmutter zur Hochzeit bekommen hatte, etwas von einer vornehmen Aristokratin. Was für einen wunderschönen Anblick sie bot! Und auf diesem Bild wird es immer so bleiben. Wenn wir zu unseren Sitzungen bei dem Maler aufbrachen, hatte ich jedes Mal Sorge, jemand könnte uns unterwegs überfallen und uns all diese Kostbarkeiten rauben. Das passierte aber erst zwanzig Jahre später, als in unser Haus eingebrochen wurde und die Diebe die Brosche und den Ring mitnahmen. Ich fand es aber nicht so schlimm, denn im Wohnzimmer hing immer noch das Bild, auf dem die Schmuckstücke zu sehen sind. Und Mama sieht immer noch so schön damit aus. Während der Porträtsitzungen fühlte ich mich in meinem rosa Kleid und mit den perlenfarben lackierten Nägeln wie das Dornröschen aus dem tschechischen Märchenbuch. Vielleicht war ich es auch, und der Ungar war in Wahrheit die gekränkte böse Fee, die mir eine Rose reichte, an deren Dorn ich mich stach, denn ich bin bis heute nicht aus der Sehnsucht nach dieser Zeit aufgewacht. Mama trug über dem Kleid ein schwarzes Samtcape und hatte ihr kastanienbraunes Haar aus der Stirn gekämmt, was ihr ein stolzes und majestätisches Aussehen gab. Ihre blauen Katzenaugen schauen mich noch immer unverwandt an.
Allerdings sah es damals so aus, als sollte dieses Bild niemals uns gehören. Der ungarische Maler wurde und wurde nicht damit fertig. Zuerst ließ er nicht von sich hören, dann behauptete er, die Farben müssten erst noch richtig fest werden, dann meinte er, er sei nicht zufrieden und wolle das ganze Bild noch einmal neu malen. Und schließlich erklärte er, er werde uns das Bild nicht geben, weil es sein Meisterwerk sei. Mama hatte ihn allerdings auch schon meisterlich im Voraus bezahlt, weshalb das Bild ihr zustand. Er weigerte sich jedoch hartnäckig und erklärte, er könne nicht auf sein Meisterwerk verzichten, dieses Gemälde besitze für ihn einen unschätzbaren Wert, das Geld könne er freilich auch nicht zurückzahlen, weil er es nicht mehr habe. Mama hatte nicht das Herz, mit ihm zu streiten, weshalb sie lieber meinen Onkel Dragoslav zu ihm schickte, diesen hochgewachsenen, gebildeten Serben und ehemaligen Partisanen, der mit seiner tiefen Stimme sehr langsam, sehr widerwillig und sehr eindringlich sprach. Niemand würde sich wünschen, ihm ins Gehege zu kommen. Ich weiß nicht, was mein serbischer Onkel damals zu Stevan Kis sagte. Aber vielleicht waren seine wuchtige Gestalt und seine mächtigen Schaufelhände Argumente genug, um den armen Ungarn zu überreden, ihm das Bild herauszugeben. Als es dann schließlich in unserem großen Haus in São Paulo hing, sah es so aus, als hätte die Wand, an der es befestigt war, nur darauf gewartet. Obwohl der Bildhintergrund und der schwere, goldgesäumte Rahmen dunkel waren, begann der ganze Salon zu leuchten. Heute habe ich ein etwas schlechtes Gewissen wegen der Sache und denke, ich sollte die Geschichte des alten Ungarn kennen, dem wir womöglich mit Gewalt das Bild abgenommen hatten, das uns gehörte. Kann einem überhaupt ein Gemälde gehören, darf man sich ein Meisterwerk aneignen, von dem sich der Künstler nicht trennen will? Hätten wir ihm das Bild überlassen sollen? Sollte Mamas Liebenswürdigkeit Grenzen gehabt haben?