Loe raamatut: «Gesundmacher Herz», lehekülg 2

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Zum Weiterlesen und Vertiefen

Fuchs, Thomas: Die Mechanisierung des Herzens: Harvey und Descartes, Suhrkamp 1992

Høystad, Ole Martin: Kulturgeschichte des Herzens, Böhlau Verlag 2006

Sheldrake, R.: Der Wissenschaftswahn, O. W. Barth 2012

Kapitel 2
Das Herz –Vermittler in Sachen Gefühle!

Das reine Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.

Blaise Pascal

Selbstverständlich achten und hören wir auf das, was unser Herz uns mitzuteilen hat. Unser Herz „klopft bis zum Hals“, der Herzschlag „dröhnt in unseren Ohren“, das Herz „rast“ bisweilen und manchmal „stolpert“ es sogar und löst Angst aus. All das spüren wir und wir verstehen auch die darin liegende Botschaft.

Es sind aber nicht nur diese besonderen Situationen, in denen das Herz uns etwas über uns und unsere Befindlichkeit mitzuteilen hat – das Herz „spricht“ unablässig. Diese besondere Sprache ist jedoch nicht ohne Weiteres zu entschlüsseln. Interessanterweise sind wir – jedenfalls hier in der westlichen Welt – überhaupt erst in der Lage, die Sprache unseres Herzens zu verstehen, seit uns die moderne Informationstechnik dabei helfen kann. Und das liegt daran, dass die Auskünfte, die das Herz zu geben hat, in seinem Rhythmus verborgen sind.

Fühlt man den eigenen Puls, so wird man – im Normalfall – den Eindruck haben, als sei dieser vollkommen regelmäßig. Misst man ihn aber ganz genau aus, kann man feststellen, dass die Zeiträume zwischen den Herzschlägen doch unterschiedlich lang sind. Wobei sich diese Abweichungen lediglich im Millisekundenbereich bewegen, also nur mit sehr genauen Messinstrumenten überhaupt zu erfassen sind.

Moderne Messtechnik zusammen mit computergestützten Auswertungsverfahren bietet diese Möglichkeit. Schauen wir uns deshalb einmal genauer an, wie die „Kurve“ eigentlich aussieht, die Ergebnis eines Elektrokardiogramms (EKG) ist:


Diese Abbildung zeigt die unterschiedlichen Phasen des Herzschlags, wie sie durch ein EKG gemessen und aufgezeichnet werden. Die genaue zeitliche Dauer eines Herzschlags lässt sich am exaktesten durch den Abstand zwischen den scharfen Zacken (den sogenannten R-Zacken) ermitteln, die gleichsam den Höhepunkt eines jeden Herzschlags darstellen.

Mit dem Alltagsverstand betrachtet, könnte nun angenommen werden, dass ein möglichst gleicher Abstand zwischen den R-Zacken (eine exakt getaktete Herzfrequenz also) der Idealfall und jede Abweichung ein Übel sei. Tatsächlich jedoch ist der Zeitraum zwischen den R-Zacken immer unterschiedlich lang – und das ist auch gut so, wie wir später noch sehen werden.

Zunächst aber geht es darum, diese feinen Unterschiede in der Frequenz des Herzschlags so präzise wie möglich zu ermitteln – was dann etwa so aussehen könnte:


Da die Werte der Abweichungen sehr klein und deshalb für Berechnungen etwas umständlich zu handhaben sind, behilft man sich mit einem kleinen Trick: Die genaue Zeit zwischen einem und dem nächsten R-Zacken (zum Beispiel 0,811 Sekunden) wird umgerechnet auf die vertrautere Größe Herzschlag/Minute (das ergibt in diesem Fall = 74 Schläge/Minute).

Würde das Herz also beispielsweise immer genau mit der Frequenz des Abschnitts A in der obigen Abbildung schlagen (= 0,789 Sekunden), so ergäbe das einen regelmäßigen Puls von 76 Schlägen / Minute. Die Frequenz des Abschnitts B (0,769 Sekunden) entspräche hingegen einem Puls von 78 Schlägen/Minute und so weiter:


Und weil – wie oben zu sehen ist –, die Frequenzen des Herzschlags eben nicht gleichmäßig, sondern „variabel“ sind, wird dieses Phänomen „Herzfrequenz-Variabilität“5 genannt – ein Begriff, der in diesem Buch noch sehr häufig auftauchen wird.

Die bei der Messung der Herzfrequenz-Variabilität entstehende Zahlenreihe (in unserem Beispiel also 76,78,80,74 usw.) kann nun in Form einer Kurve einfach dargestellt werden. Das Bild, das dabei entsteht, kann allerdings höchst unterschiedlich aussehen – und spiegelt direkt und gut verständlich wider, in welcher emotionalen Verfassung sich eine Versuchsperson oder ein Patient befindet.

Es kann deshalb gesagt werden: Die Herzfrequenz-Variabilität ist immer dann ein Signal für einen positiven Gemütszustand, wenn sich die Zeitabweichungen zwischen den R-Zacken eines EKG in einem annähernd regelmäßigen, sinusförmigen Rhythmus wiederholen.

Negative Gefühlszustände (wie Ärger) führen zu einer uneinheitlichen, unharmonischen, unrhythmischen und scharf gezackten Kurve.


Positive Gefühlszustände hingegen (wie Wertschätzung) zeigen einen eher regelmäßigharmonischen, gleichsam „schwingenden“ Verlauf.

Herzfrequenz-Variabilität und Geburtshilfe

In der Geburtshilfe ist die Herzfrequenz-Variabilität des ungeborenen Kindes ein wichtiges Indiz für seine Gesundheit. Eine Reduzierung der Herzfrequenz-Variabilität (also eine Tendenz hin zu einem exakt getakteten Herzschlag) bedeutet Gefahr für das Kind und führt unter Umständen zu der Entscheidung, die Entbindung sofort – zum Beispiel durch einen Kaiserschnitt – durchzuführen.

Dabei ist die Herzfrequenz-Variabilität beim ungeborenen Kind sehr viel ausgeprägter als später im Kindes- oder gar im Erwachsenenalter. Allgemein nimmt die Variabilität der Herzfrequenz mit jedem Lebensjahr weiter ab. Das erklärt auch, warum eine Abnahme der Herzfrequenz-Variabilität im Mutterleib als Anzeichen einer unmittelbaren Lebensgefahr für das Kind gesehen wird.

Die „Sprache des Herzens“ ist somit – der Informationstechnik sei Dank – zumindest ansatzweise entschlüsselt. Damit aber tatsächlich von einer Sprache die Rede sein kann, muss der Sprechende – in unserem Fall also das Herz – aus sich heraus etwas mitzuteilen haben, also über so etwas wie eine eigene „Intelligenz“ verfügen. Das allerdings widerspricht dem Bild, das wir traditionellerweise vom Herzen haben. Das Herz ist doch – so haben wir es alle gelernt – nur ein pumpender Muskel, der eine zwar beeindruckende Kraft- und Ausdauerleistung vollbringt, ansonsten aber eher „dumm“ ist. Gesteuert wird die Herztätigkeit, das erscheint uns immer noch selbstverständlich, allein durch das Gehirn.

Tatsächlich aber ist dem ganz und gar nicht so: Neurowissenschaftler wissen vielmehr schon seit einer ganzen Weile, dass das Herz ein eigenes unabhängiges Nervensystem aufweist, das große Ähnlichkeit mit dem Nervensystem des Gehirns hat. Das Herz besitzt – so wissen wir heute – mindestens 40 000 Nervenzellen (Neuronen). Das entspricht immerhin der Menge von Neuronen, über die auch verschiedene Funktionskerne des Gehirns (zum Beispiel der für das Riechen zuständige Hirnbereich) verfügen. Damit ist die Voraussetzung für einen „gleichberechtigten“ Informationsaustausch zwischen dem Nervensystem des Gehirns und dem des Herzens gegeben.

Wobei die Erkenntnis, dass es eine Verbindung zwischen den Nervensystemen des Gehirns und denen des Herzens gibt, ebenfalls nicht neu ist. Allerdings nahm man noch bis in die 1970er-Jahre hinein an, dass diese Verbindung nur deshalb gebraucht werde, damit das Herz die „Befehle“ des Gehirns verstehen und umsetzen könne.

Erst um 1975 herum stellten die Physiologen John und Beatrice Lacey fest, dass die Nervenverbindung zwischen Gehirn und Herz alles andere als eine Einbahnstraße ist.6 Es stimmt zwar, dass das Gehirn „Anordnungen“ an das Herz schickt. Die Laceys entdeckten aber, dass das Herz scheinbar auch so etwas wie einen eigenen Willen hat. Die Nervenzellen des Herzens (wenn man so will: das herzeigene Gehirn) senden also nicht nur Daten an das Gehirn, sondern sie beeinflussen es auch in durchaus entscheidender Weise:

Kommunikationswege Herz – Gehirn

Die aktuelle Forschung hat bisher vier Wege identifiziert, auf denen die Kommunikation zwischen Herz und Gehirn stattfindet:

1. Die neurale Kommunikation

Das Herz sendet seine Informationen über den Vagusnerv und die Nerven des Rückenmarks an das Gehirn (und umgekehrt).

2. Die biochemische Kommunikation

Auch die Hormone sind Informationsträger, über die Herz und Gehirn miteinander in Verbindung treten. Hormone sind ja nichts anderes als chemische Substanzen, die mit dem Blutstrom durch den Körper geschickt werden, um in bestimmten Organen gezielte Reaktionen auszulösen. Auch auf diesem Weg kann das Herz Informationen empfangen, „verstehen“ und weiterleiten. Das Herz vermag aber auch selbst Hormone zu bilden (zum Beispiel das Atriopeptin, das unter anderem daran beteiligt ist, den Blutdruck sowie den Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt des menschlichen Körpers im Gleichgewicht zu halten). Hier steht die Forschung allerdings noch ganz am Anfang.

3. Die biophysikalische Kommunikation

Das Herz treibt nicht nur das Blut durch die Blutgefäße des Körpers, jeder Herzschlag erzeugt auch eine Druckwelle im Blut, die sich viel schneller durch den Körper bewegt als das Blut selbst und die wir als Pulsschlag wahrnehmen können (die Aufgabe des Herzens als „treibende Pumpe“ ist allerdings infrage zu stellen, wie in Kapitel 13 gezeigt werden wird). An dieser Druckwelle kann der Rhythmus der Herzfrequenz-Variabilität gemessen (und dann analysiert) werden, sie kann aber in gleicher Weise auch Informationsträger für das Gehirn sein.

4. Die energetische Kommunikation

Das Herz erzeugt – wie andere Organe auch –, ein pulsierendes elektromagnetisches Feld, dessen Wellen (ähnlich wie bei einem Mobilfunknetz) Informationen transportieren können. Dieses elektromagnetische Feld ist das stärkste im menschlichen Körper (etwa 5000-mal stärker als das des Gehirns), und es kann mit entsprechend empfindlichen Messgeräten bis zu einem Umkreis von drei Metern gemessen werden. Die Forschung hierzu steht ebenfalls noch am Anfang, es gibt aber Hinweise darauf, dass sich die elektromagnetischen Felder von Herz und Gehirn gegenseitig beeinflussen. (Quelle: Childre/Martin: Die HerzIntelligenz®-Methode)

Nach John und Beatrice Lacey verhält es sich also so, dass Herz und Gehirn nahezu gleichberechtigt miteinander kommunizieren, und dass sich das Herz dabei durchaus nicht nur in der Rolle des Befehlsempfängers befindet. Einen klaren Hinweis darauf, dass das Herz oft seiner eigenen „Logik“ folgt und nicht nur den Befehlen „von oben“, brachte erstmals folgende Beobachtung:

Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass das Gehirn in bestimmten, zum Beispiel gefährlich erscheinenden oder besonders anstrengenden Situationen Erregungssignale an den Körper sendet, die dann unter anderem dazu führen, dass das Herz seinen Puls beschleunigt. Die Laceys konnten jedoch beobachten, dass gar nicht selten genau das Gegenteil geschieht: Das Herz verlangsamt unter Missachtung der Befehle des Gehirns seine Tätigkeit (wohingegen alle anderen Organe erwartungsgemäß mit Erregung reagieren)! Es scheint also tatsächlich so, als würde das Herz kritisch überprüfen, ob die vom Gehirn angeordnete Erhöhung des Herzschlags tatsächlich die situationsangemessene Reaktion ist.

Noch spektakulärer aber war die Entdeckung, dass das Herz nicht nur weisheitsvoll7 und sinnhaft mit den vom Gehirn ausgehenden Befehlen umgeht, sondern dass es auch seinerseits das Gehirn in seiner Aktivität zu beeinflussen vermag. Damit kam zum ersten Mal der Gedanke, dass eben nicht nur das Gehirn, sondern auch das Herz in der Lage sei, menschliches Verhalten wesentlich zu beeinflussen.

Ausgehend von den bahnbrechenden Beobachtungen und Erkenntnissen der Physiologen John und Beatrice Lacey haben seither zahlreiche weitere Wissenschaftler nachweisen können, dass das Herz – ablesbar an der Herzfrequenz-Variabilität – direkten Einfluss nimmt auf die Aktivitäten der Gehirnbereiche, in denen wir Erkenntnisse und Gefühle verarbeiten.

Konkret heißt das (unter anderem), dass das Verstehen der „Sprache des Herzens“ auch der Schlüssel ist für ein besseres Verständnis unserer Emotionen. Bereits seit Mitte der 1980er-Jahre weiß man, dass die auch heute noch verwendete, den sogenannten Intelligenztests zugrunde liegende Definition des Intelligenzbegriffs zumindest sehr einseitig ist. Howard Gardner, Professor für Neurologie an der Boston University, unterschied als Erster mehrere sehr verschiedene Formen von Intelligenz. Neben der logisch-mathematischen Intelligenz gibt es demnach auch eine räumliche, eine musikalische, eine körperbezogene sowie eine emotionale Intelligenz.

John Mayer, Psychologe an der Universität von Hampshire, erarbeitete in den späten 1980er-Jahren dann zusammen mit seinem Kollegen Peter Salovey (Yale University) eine Theorie der emotionalen Intelligenz – sie umfasst fünf Bereiche: (1) Das Kennen der eigenen Emotionen sowie (2) deren Kontrolle und dazu noch die Fähigkeiten zur (3) Selbstmotivation, zum (4) Erkennen der Emotionen anderer Menschen und schließlich zum (5) „Managen“ zwischenmenschlicher Beziehungen.

Und seit Mitte der 1990er-Jahre schließlich wissen wir aufgrund sorgfältiger Untersuchungen durch Daniel Goleman, Professor für Psychologie an der Harvard University, dass diese emotionale Intelligenz für ein erfolgreiches Leben wesentlich wichtiger ist als die allgemein immer noch so hoch geschätzte mathematisch-logische Intelligenz.

Diese Erkenntnisse zur emotionalen Intelligenz gehören nur am Rande zum Thema dieses Buches, aber sie unterstreichen doch, welche ganz praktische Bedeutung es haben kann, aus der Herzfrequenz-Variabilität direkte Rückschlüsse auf die emotionale Verfassung eines Menschen ziehen zu können. Bereits hier wird nämlich deutlich, dass die Herzfrequenz-Variabilität Ausgangspunkt neuer Therapiemöglichkeiten sein kann – was im weiteren Verlauf dieses Buchs noch detailliert dargestellt werden soll.

Das dabei zum Einsatz kommende Grundprinzip ist relativ einfach: Wenn wir lernen, mithilfe der Herzfrequenz-Variabilität auf unser Herz zu „hören“, dann können wir im Weiteren auch lernen, bewusster mit unseren Emotionen umzugehen.

Kommen wir noch einmal auf den Anfang dieses Kapitels zurück:

Wir hatten gesehen, dass eine „ungeordnete“ Herzfrequenz-Variabilität immer dann zu beobachten ist, wenn wir von negativen Emotionen (Zorn, Angst, Unsicherheit usw.) beherrscht werden. Umgekehrt „schwingt“ die Herzfrequenz-Variabilität ausgeglichen und harmonisch, wenn wir uns auch so fühlen (siehe Abbildungen). Das Sichtbarmachen der Herzfrequenz-Variabilität gibt also die Möglichkeit, unseren emotionalen „Haushalt“ zu kontrollieren und ihn – und genau darin liegt der mögliche therapeutische Effekt – auch zu trainieren.

Zum Weiterlesen und Vertlefen

Einen weiteren Zugang zur Physiologie des Fühlens zeigt:

Husemann, Armin: Der musikalische Bau des Menschen, Verlag Freies Geistesleben 2003

Kapitel 3
Harmonie und Balance – bestimmend für die vegetative Gesundheit

Das Herz ist die eigentliche Lebensmitte. Wir bezeichnen damit das leibliche Organ, an dessen Tätigkeit das leibliche Leben gebunden ist. Aber es ist ebenso geläufig, darunter das Innere der Seele zu verstehen, offenbar weil das Herz am stärksten an dem beteiligt ist, was im Inneren der Seele vorgeht, weil der Zusammenhang von Leib und Seele nirgends deutlicher zu spüren ist.

Edith Stein: Endliches und ewiges Sein, 1935

Im vorangegangenen Kapitel wurde nach einem Schlüssel zur „Sprache des Herzens“ gesucht. Wir haben gesehen, dass der Zeitabstand von Herzschlag zu Herzschlag (genauer: von R-Zacken zu R-Zacken) im Normalfall immer etwas ungleichmäßig ist, wobei die Unterschiede im Millisekundenbereich liegen. Wie fein diese Unterschiede aber auch sein mögen, so bieten sie mit entsprechender technischer Unterstützung doch die Möglichkeit, relativ einfach zu erkennen, ob sich eine Testperson in einer eher negativen oder eher positiven Gefühlslage befindet. Und: Je „schwingender“ sich dabei der Rhythmus der Herzfrequenz-Variabilität darstellt, desto besser ist dies für die Gesundheit (oder auch Gesundung!) des Menschen.

Bereits hier zeichnet sich also das Potenzial ab, das in der Möglichkeit liegt, die Herzfrequenz-Variabilität exakt erfassen und auswerten zu können. Die Medizin bekommt damit nicht nur neue Instrumente der Diagnostik in die Hand, sondern kann daraus auch Therapiemöglichkeiten ableiten, insbesondere für alle Krankheitsbilder, die ursächlich mit dem vegetativen Nervensystem zusammenhängen – wie Bluthochdruck oder Burn-out. Und es spricht heute bereits sehr viel dafür, dass das aus der Analyse der Herzfrequenz-Variabilität sich ergebende Diagnose- und Therapiepotenzial noch weit über diesen Anwendungsbereich hinausgeht – was im weiteren Verlauf des Buches noch gezeigt werden soll.

Der wichtigste Ansatzpunkt ist dabei die Erkenntnis, dass der Mensch (wie jedes Lebewesen) ein durch und durch rhythmisches System darstellt. Wobei sich die verschiedenen Rhythmen – je nach Gefühlslage und Gesundheitszustand –, als mehr oder weniger harmonisch oder chaotisch, starr oder auch gleichmäßig schwingend zeigen können.

Grundlage für diese neue Sicht auf das menschliche Herz und darüber hinaus auf den ganzen Menschen als rhythmisches Wesen ist die sogenannte Chronobiologie. Dieses noch vergleichsweise junge Forschungsgebiet befasst sich „mit der zeitlichen Organisation in Physiologie und Verhalten von Organismen. In dieser Organisation spielen Rhythmen, häufig von endogenen (inneren) biologischen Zeitgebern (Uhrsystemen) verursacht, eine große Rolle.“8

Allerdings muss bedacht werden, dass diese Forschung sich noch in einem sehr frühen Stadium ihrer Entwicklung befindet – vergleichbar vielleicht dem Stand der anatomischen Wissenschaft zu Zeiten Leonardo da Vincis. Es sind auf diesem Gebiet also noch sehr viele neue und weiterreichende Erkenntnisse zu erwarten. Und manches, was man heute bereits zu wissen glaubt, wird sich noch als falsch herausstellen.

In Deutschland begann die chronobiologische Forschung mit Prof. Dr. Gunther Hildebrandt, der später Direktor des Instituts für Arbeitsphysiologie und Rehabilitationsforschung der Universität Marburg wurde, und als einer der Väter der Chronobiologie weltweit gilt.

Hildebrandt hatte sich bereits in den 1950er-Jahren, er war damals noch als junger Mediziner in einer Kurklinik tätig, von seinen Patienten die Erlaubnis geben lassen, nachts in ihre Zimmer kommen zu dürfen, um bei ihnen im Schlaf stündlich die Puls- und auch Atemfrequenzen zu messen. Selbstverständlich war er noch weit von den heutigen Möglichkeiten der Messtechnik und der computergestützten Auswertung großer Datenmengen entfernt. Dennoch konnte er bereits mit solch einfachen Mitteln feststellen, dass Puls- und Atemfrequenz in einem ganz bestimmten rhythmischen Verhältnis (im Schlaf etwa 4:1) zueinanderstehen.

Damit hatte Gunter Hildebrandt etwas entdeckt, was in der Folge für die gesamte Chronobiologie bestimmend sein sollte. Denn dass sämtliche Vorgänge im menschlichen Körper rhythmisch durchorganisiert sind, diese Erkenntnis war schon damals nicht neu:

– Einatmen und Ausatmen

– Schlafen und Wachen

– Nahrungsaufnahme, Verdauung und Ausscheidung

– Regelblutung und Eisprung

All das sind Rhythmen, die lange bekannt sind. Wirklich neu hingegen war die Erkenntnis Hildebrandts, dass wohl die meisten oder sogar alle diese Rhythmen (zumindest bei einem gesunden Menschen) in einem bestimmten Verhältnis zueinanderstehen, gleichsam miteinander gekoppelt sind. Hildebrandt war also der erste Wissenschaftler, der die diesen Rhythmen innewohnende Ordnung entdeckt und beschrieben hat.9

Zum Verständnis dieser Ordnung hilft es, sich klarzumachen, dass die verschiedenen Rhythmen drei körperlichen Bereichen zugeordnet werden können:

– Der Kopf ist der Sitz der Hauptsinne sowie des zentralen Nervensystems,

– im Brustkorb befinden sich die (rhythmisch besonders intensiv spürbaren) Organe Herz und Lunge,

– im „unteren Menschen“ mit Bauch und Beinen ist die Bewegungs- und Stoffwechselorganisation beheimatet.

© fotolia-corellio / [M] Fricke

Dabei ist es so, dass die Nerven nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip funktionieren. Ein Nerv kennt also – wie ein Computer auch – nur zwei „Zustände“, zwischen denen er im Millisekundenabstand wechseln kann: aktiv oder inaktiv, ein oder aus.

Die Rhythmen der Atmung oder auch des Herzschlags verlaufen demgegenüber in Wellenform – an- und abschwellend im Sekunden- oder Minutenbereich.

Und die Rhythmen schließlich, die die Stoffwechselprozesse oder den Monatszyklus der Frau bestimmen, spielen sich in Tages-, Wochen- oder Monatszeiträumen ab – und sind darüber hinaus auch noch sehr komplex aufgebaut mit vielgestaltigen Wechselwirkungen.

Auch Krankheitsverläufe sind in der Regel rhythmisch gegliedert. So ist seit Langem bekannt, dass im Fall einer Lungenentzündung die Körpertemperatur morgens unter Umständen ganz normal sein kann, während sie jeden Abend auf hohe Temperaturen ansteigt. Dieses Wissen erlaubt es dem Arzt nun umgekehrt, aus einem typischen Rhythmus der Temperaturkurve die Diagnose Lungenentzündung abzuleiten oder zu bestätigen. Ein besonders deutlicher Fall ist auch der charakteristisch-rhythmische Verlauf einer Malariaerkrankung, bei der sich die Fieberschübe alle zwei oder drei Tage wiederholen.

Aus welcher Perspektive wir den Menschen also auch betrachten, er stellt sich dar als ein höchst komplexes, rhythmisches „System“. Dieses Gesamtsystem darf man sich alles in allem durchaus vorstellen wie ein sehr großes, kompliziertes Mobile, bei dem sich zahlreiche Elemente in einem labilen Gleichgewicht befinden. Wird auch nur eines dieser Elemente bewegt, so hat dies Auswirkungen auf den Zustand aller anderen Elemente, die ebenfalls in mehr oder weniger kräftige Schwingungen versetzt werden. Diese Schwingungen werden dann kontinuierlich schwächer, bis sich erneut ein Gleichgewicht eingestellt hat. In dieser zugleich geordneten und schwingenden Weise sind – beim gesunden Menschen – alle Rhythmen im Körper untereinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig.

Das Bild vom Mobile macht auch deutlich, dass es bei organischen Rhythmen nicht etwa um einen maschinenartig starren, exakten Takt geht, sondern um ein flexibles Ein- und Ausschwingen – stets mit dem Ziel, Steuerungsprozesse harmonisch ablaufen zu lassen und ein umfassendes Gleichgewicht zu erreichen.

Und das gilt selbstverständlich auch für die Herzfrequenz-Variabilität. In Kapitel 2 wurde bereits kurz erwähnt, dass ein exakt getakteter Puls (ein Puls also, der überhaupt keine Herzfrequenz-Variabilität aufweist), alles andere als ideal wäre. Das wussten sogar schon chinesische Ärzte vor mehr als 2000 Jahren, als sie sinngemäß die folgende medizinische Regel formulierten:

Ist der Puls so regelmäßig wie der Specht im Wald klopft, oder wie die Regentropfen, die vom Dachrand fallen, dann stirbt der Patient innerhalb von drei Tagen.

In unserer modernen Medizin hingegen geriet man in dieser Frage zunächst auf einen Irrweg. Vorherrschend war die Vorstellung, dass das menschliche Herz tunlichst so regelmäßig und exakt arbeiten sollte wie etwa ein Motor. Die in den 1970er-Jahren – mit der Entwicklung einer entsprechend genauen Messtechnik – mögliche Entdeckung der Herzfrequenz-Variabilität löste deshalb unter Internisten zunächst eher Beunruhigung aus. Insbesondere bei jungen Menschen, die entwicklungsbedingt eine ausgeprägtere Herzfrequenz-Variabilität aufweisen, wurde diese Unregelmäßigkeit sogar als eine ärztlich zu behandelnde Störung angesehen – man verschrieb den Betroffenen Betablocker um ihren „Puls zu stabilisieren“ …

Dahinter stand die Idee der sogenannten Homöostase, die angehenden Ärzten übrigens bis heute im Studium nahegebracht wird. Diese Vorstellung geht davon aus, dass der menschliche Körper eine Art System sei, das nach dem „Hochfahren“ irgendeines Faktors (zum Beispiel des Blutdrucks) diesen einfach und direkt wieder auf den ursprünglichen Stand herunterregelt.

Diese – in unserer technisch orientierten Zeit ja naheliegende – Idee eines sich gleichsam mechanisch regulierenden Systems erscheint heute im Licht der Chronobiologie jedoch als überholt. Die sich allmählich durchsetzende neue Grundidee ist, dass der menschliche Körper eben nicht versucht, irgendeinen starren Idealzustand beizubehalten und diesen nach jeder Störung umgehend wieder herbeizuregulieren. Der Körper ist vielmehr in hohem Maße „schwingungsfähig“ – und er muss es auch sein.

Noch weit wichtiger aber ist die – im Bild des Mobiles anschaulich gemachte – Erkenntnis, dass alle Lebensprozesse und Lebensrhythmen voneinander abhängen und sich gegenseitig beeinflussen. Bezogen auf das Thema Puls, heißt das beispielsweise: Eine Anstrengung oder eine aufregende Situation führt selbstverständlich zu einem plötzlich und kräftig erhöhten Puls und einem damit ebenfalls steigenden Blutdruck. Der Körper reagiert darauf aber nun nicht damit, allein den Faktor „Blutdruck“ wieder zurückzuregeln. Die Chronobiologie weist vielmehr nach, dass sich der Blutdruck nach einer Belastung zunächst in die Gegenrichtung reguliert und dann wieder zurückschwingt. Was sich, mit abnehmender Intensität, mehrfach wiederholt, bis der „Normalzustand“ wieder erreicht ist.

Und das gilt auch nicht nur für einen Faktor (etwa den Puls), sondern für das komplette, vielgestaltige Mobile aller Lebensprozesse und -rhythmen. Wird irgendwo in diesem System auch nur ein einziger Faktor aus dem Gleichgewicht gebracht, kommt das Ganze in Unruhe und muss sich wieder neu „einschwingen“ oder einpendeln.

Heute sind bereits sehr viele dieser Rhythmen in verschiedensten Studien untersucht und gemessen worden. Diese Messergebnisse zeigen eine große Bandbreite. Schaut man sich aber die jeweils am häufigsten vorkommenden Frequenzen an, dann zeigt sich doch etwas Verblüffendes: Alle gemessenen Rhythmen haben eine starke Tendenz, sich in einem bestimmten Verhältnis zueinander einzupegeln – und zwar in einem ganzzahligen Verhältnis.

Ein Beispiel dafür wurde schon erwähnt: In der entspannten Tiefschlafphase (etwa zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens) kommen bei einem gesunden Menschen ziemlich genau vier Pulsschläge auf einen Atemzug (siehe dazu auch Kapitel 4). An diesem Phänomen wird auch deutlich, dass das rhythmische System des Menschen einerseits sehr flexibel auf von außen kommende Anforderungen reagiert (zum Beispiel bei starker Leistungsanforderung durch erhöhten Puls und schnellere Atmung), andererseits aber bei vollkommener Ruhe in ein überindividuelles Gleichgewicht zurückfindet. Eine solche Tendenz zu einer Art natürlichem Gleichgewicht ist inzwischen vielfach bestätigt.

So stehen rhythmische Funktionen wie Lidschlag, Schlucken, Saugen oder Magenperistaltik ebenso wie das fortlaufende Steigen und Fallen des Blutdrucks in einer nachgewiesenen Abhängigkeit vom Herz- und Atemrhythmus. Das gilt aber nicht nur für unwillkürlich ablaufende Körperfunktionen: Auch rhythmische Tätigkeiten wie Gehen, Radfahren und Joggen sind mit dem Herz-/Atemrhythmus gekoppelt – die Synchronisation oder Kopplung von Rhythmen funktioniert also auch bei bewusst durchgeführten Tätigkeiten.

Inzwischen bestätigen zahlreiche empirische Untersuchungen somit das, was schon zu Beginn dieses Kapitels gesagt wurde: Der Mensch ist – wie jeder andere Organismus auch – ein durch und durch rhythmisches Wesen.

Und ein entscheidender Impulsgeber ist dabei das Herz. Wie das funktioniert, lässt sich an einer höchst spannenden Entdeckung aus dem 17. Jahrhundert sehr gut illustrieren:

Christian Huygens (1629 – 1695), ein holländischer Mathematiker und Physiker mit großem Interesse an Mechanik, hat unter anderem die erste Pendeluhr konstruiert, zum Patent angemeldet und im Laufe seines Lebens auch eine stattliche Sammlung solcher Uhren zusammengetragen. Eines Tages dann stellte er zu seiner Überraschung fest, dass sich die Pendel aller in einem Raum befindlichen Uhren synchron bewegten, also immer gleichzeitig in die gleiche Richtung ausschlugen. Das erschien Huygens sehr unwahrscheinlich und er brachte diesen synchronen Rhythmus durcheinander, indem er alle Uhren kurz anhielt und zu verschiedenen Zeitpunkten wieder in Gang setzte. So oft er dies aber aber auch tat, es dauerte nie sehr lange, bis alle Uhren ihre Rhythmen wieder einander angeglichen hatten.

Damit hatte Huygens – auch wenn er es selbst noch nicht erklären konnte – ein in der Natur überall zu beobachtendes Phänomen entdeckt: die Frequenzkopplung. Und heute wissen wir, dass es immer der stärkste Impulsgeber (also zum Beispiel das größte Pendel) in einem rhythmischen System ist, auf den hin sich alle anderen Rhythmen synchronisieren.

Im menschlichen Körper nun sind Herz und Lunge die kräftigsten Impulsgeber, die deshalb auch in der Lage sind, andere rhythmische Systeme zu beeinflussen, sie in ihren Rhythmus „hineinzuziehen“. Da der Mensch keine Maschine ist, funktioniert diese Synchronisation – anders als bei einer Sammlung von Pendeluhren – allerdings nicht automatisch und auch nicht in jedem Fall. Umfangreiche Untersuchungen mit vielen Versuchspersonen haben aber gezeigt, dass das Herz seine synchronisierende, harmonisierende Funktion immer dann zur Wirkung bringen kann, wenn auch die Gefühlslage des Menschen ausgeglichen und harmonisch ist.

Es kann also heute mit Fug und Recht behauptet werden, dass das Herz als zentraler „Dirigent“ der rhythmischen Ordnung im Menschen wirkt. Und da praktisch alle körperlichen Vorgänge im Menschen rhythmisch durchgegliedert sind, hat das Herz, zusammen mit der Atmung, die zentrale integrierende und koordinierende Funktion im menschlichen Organismus. Und gleichzeitig ist das Herz – wie in den folgenden Kapiteln noch zu zeigen sein wird – das zentrale Organ für die gefühlsmäßige Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt.

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