Diagnostik von Sprach- und Kommunikationsstörungen im Kindesalter

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Diagnostik von Sprach- und Kommunikationsstörungen im Kindesalter
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utb 4946

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Dr. Markus Spreer ist Sprachheilpädagoge und lehrt als Juniorprofessor für Pädagogische Prävention von Entwicklungsbeeinträchtigungen und Frühförderung an der Universität Leipzig.


Hinweis

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 4946

ISBN 978-3-8252-4946-5

ISBN 978-3-8463-4946-5 (EPUB)

© 2018 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

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Printed in Germany

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Cover unter Verwendung eines Fotos von © iStock.com/calvindexter

Satz: ew print & medien service GmbH

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort

1 Diagnostisches Handeln im Entwicklungsbereich Sprache

1.1 Aufgaben und Ziele

1.1.1 Schwerpunkt: sprachheilpädagogische Diagnostik

1.1.2 Schwerpunkt: logopädische/ sprachtherapeutische Diagnostik

1.1.3 Zielstellung: Prävention

1.1.4 Zielstellung: Indikation eines Therapie-/Unterstützungsbedarfs und Grundlage der Interventionsplanung

1.1.5 Zielstellung: Verlaufskontrolle und Evaluation

1.2 Diagnostisches Handeln und professionelle Expertise

1.3 Notwendigkeit eines interdisziplinären Vorgehens

2 Diagnostisches Vorgehen

2.1 Der diagnostische Prozess im Kontext von Förder- und Therapieplanung

2.2 Diagnostik im Kontext schulischer, sprachheilpädagogischer Förderung

2.2.1 Spezifische Herausforderungen in der inklusiven Schule

2.2.2 Das sonderpädagogische Gutachten

2.3 Diagnostik in der sprachtherapeutischen Praxis

2.4 Ethische und rechtliche Aspekte

3 Diagnostische Methoden für die Erfassung sprachlicher Fähigkeiten

3.1 Grundlagen

3.1.1 Messung von Eigenschaften

3.1.2 Normorientierung – Normierung

3.1.3 Gütekriterien

3.2 Rahmenbedingungen bei der diagnostischen Arbeit mit Kindern

3.3 Befragung

3.4 Beobachtung

3.4.1 Formen der Beobachtung

3.4.2 Beobachtungsverfahren

3.5 Elizitationsverfahren

3.5.1 Standardisierte Testverfahren im Bereich Sprache

3.5.2 Informelle Verfahren

3.6 Spontansprachanalyse

3.6.1 Erhebung der Spontansprachprobe

3.6.2 Auswertungsmaterialien

4 Sprachentwicklungsdiagnostik

4.1 Klassifikationssysteme

4.2 Diagnostik Umschriebener Sprachentwicklungsstörungen (USES/SSES)

4.3 Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen im Rahmen von Primärbeeinträchtigungen

4.3.1 Entwicklungsorientierte Sprachdiagnostik bei Kindern mit Down-Syndrom

4.3.2 Sprachdiagnostik bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen

4.4 Diagnostik im Rahmen der Sprachstandserhebungen in der Kita

4.5 Verfahren zur Überprüfung der nonverbalen Intelligenz

4.6 Verfahren zur Überprüfung der phonologischen Informationsverarbeitung

4.7 Verfahren mit dem Schwerpunkt Elementarbereich (3 bis 6 Jahre)

4.8 Verfahren mit dem Schwerpunkt Primarbereich (ab 6 Jahren)

4.9 Entwicklungstests, die neben der Sprachentwicklung weitere Bereiche überprüfen

5 Früherfassung sprachlicher Fähigkeiten

5.1 Prinzipien des diagnostischen Vorgehens

5.2 Verfahren zur Früherkennung von Sprachentwicklungsstörungen

6 Diagnostik im Bereich Aussprache

6.1 Grundlagen zur Entwicklung der Aussprachefähigkeiten

6.2 Prinzipien des diagnostischen Vorgehens

6.2.1 Erhebung anamnestischer Daten

 

6.2.2 Einschätzung der Spontansprache

6.2.3 Überprüfung der auditiven Wahrnehmungs- und Differenzierungsleistungen

6.2.4 Überprüfung der Aussprachefähigkeiten

6.2.5 Exkurs: Prosodie

6.3 Verfahren zur Überprüfung für den Bereich Phonetik/Phonologie

7 Diagnostik im Bereich Grammatik

7.1 Grundlagen zur Entwicklung grammatischer Fähigkeiten

7.2 Prinzipien des diagnostischen Vorgehens

7.3 Verfahren für die Erfassung rezeptiver Leistungen

7.4 Verfahren für die Erfassung produktiver Leistungen

8 Diagnostik im Bereich Wortschatz und Wortfindung

8.1 Grundlagen zur Entwicklung von Lexik und Semantik

8.2 Prinzipien des diagnostischen Vorgehens

8.2.1 Methodisches Vorgehen in der Diagnostik im Bereich Semantik-Lexikon

8.2.2 Methodisches Vorgehen in der Diagnostik von Wortfindungsstörungen

8.3 Verfahren zur Überprüfung des Wortschatzes und der Wortfindung

9 Diagnostik im Bereich Sprachverständnis

9.1 Grundlagen zur Entwicklung des Sprachverständnisses

9.2 Prinzipien des diagnostischen Vorgehens

9.3 Verfahren zur Überprüfung des Sprachverständnisses

10 Diagnostik im Bereich Pragmatik und Kommunikation

10.1 Grundlagen zur Entwicklung pragmatisch-kommunikativer Fähigkeiten

10.2 Prinzipien des diagnostischen Vorgehens

10.2.1 Besonderheiten der diagnostischen Arbeit mit Kindern, die (noch) keine Lautsprache verwenden

10.2.2 Besonderheiten der diagnostischen Arbeit mit Kindern, die mehrsprachig aufwachsen

10.3 Verfahren für den Altersbereich bis 3 Jahre

10.4 Verfahren für das Vorschul- und Schulalter

11 Diagnostik der Sprachentwicklung bei mehrsprachigen Kindern

11.1 Grundlagen zur Diagnostik bei mehrsprachigen Kindern

11.2 Prinzipien des diagnostischen Vorgehens

11.2.1 Erhebung der Sprachentwicklungsbiographie und des Sprachverhaltens in beiden Sprachen

11.2.2 Vorgehen auf den einzelnen sprachlichen Ebenen

11.2.3 Erhebung von Sprachverarbeitungsfähigkeiten und Sprachlernpotenzial

11.3 Verfahren zur Erfassung der sprachlichen Fähigkeiten im Deutschen

11.4 Verfahren zur Erfassung der sprachlichen Fähigkeiten in anderen Sprachen

11.5 Verfahren zur Erfassung der sprachlichen Fähigkeiten in beiden Sprachen des Kindes

11.6 Zusammenfassung und Implikationen der Diagnostik

12 Diagnostik weiterer Entwicklungsbereiche im Kontext der Beurteilung sprachlicher Fähigkeiten

12.1 Wahrnehmung

12.1.1 Auditive Wahrnehmung

12.1.2 Visuelle Wahrnehmung

12.1.3 Taktil-kinästhetische Wahrnehmung

12.2 Sozial-emotionales Verhalten

12.3 Kognition

12.4 Motorik

13 Diagnostik im Bereich Redefluss

13.1 Grundlegende Aspekte zur Erfassung von Redeflussauffälligkeiten

13.1.1 Stottern

13.1.2 Poltern

13.1.3 Redeflussstörungen vor dem Hintergrund der ICF

13.1.4 Differenzialdiagnostik von Stottern und Poltern

13.2 Vorgehensweisen im Bereich Stottern

13.2.1 Anamnese, Familien- und Entwicklungsgeschichte

13.2.2 Diagnostik von offenem Stottern

13.2.3 Diagnostik von verdecktem Stottern

13.2.4 Zusammenfassung zur Diagnostik von Stottern

13.3 Vorgehensweisen im Bereich Poltern

13.3.1 Anamnese, Familien- und Entwicklungsgeschichte

13.3.2 Screening auf Poltern

13.3.3 Diagnostik von Poltern

14 Diagnostik im Bereich Schriftsprache

14.1 Grundlagen zum Schriftspracherwerb

14.1.1 Ein Phasenmodell des Schriftspracherwerbs

14.1.2 Lese-Rechtschreibstörung

14.1.3 Phonologische Informationsverarbeitung und Schriftspracherwerb

14.2 Kriterien für die Diagnostik der Lese-Rechtschreibstörung

14.3 Verfahren zur Erfassung der phonologischen Informationsverarbeitung im Kindesalter

14.4 Verfahren zur Erfassung der Lesefähigkeit im Kindesalter

14.5 Verfahren zur Erfassung der Rechtschreibfähigkeit im Kindesalter

15 Diagnostik im Bereich Unterstützte Kommunikation

15.1 Prinzipien des diagnostischen Vorgehens

15.2 Inventare und Verfahren in der UK-Diagnostik

16 Diagnostik kindlicher Stimmstörungen

16.1 Prinzipien diagnostischen Vorgehens

16.2 Interdisziplinäres Vorgehen

16.3 Methoden

16.3.1 Anamnese

16.3.2 Stimmdiagnostische Untersuchung

16.3.3 Weitere Bereiche

16.3.4 Fazit

17 Weitere Überprüfungsbereiche

17.1 Mutismus

17.2 Kindliche Aphasien

17.3 Kindliche Dysarthrie

17.4 Schluckstörungen

17.5 LKGS-Fehlbildungen

17.6 Myofunktionelle Störungen

17.7 Kindliche Sprechapraxie

Anhang

Tabellarische Übersicht der diagnostischen Verfahren

Erläuterungen zur Online-Datenbank

Literatur

Sachregister

Vorwort

Die Diagnostik im Bereich Sprache und Kommunikation weist eine hohe Komplexität auf, die durch die Interdependenz sozialer, kognitiver und linguistischer Funktionen entsteht. Im Sinne der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) muss der Diagnostiker in der Lage sein, nicht nur die Funktionsebene zu prüfen (wofür fundierte Kenntnisse über Sprache, Sprechen, Stimme, Schlucken und Kommunikation notwendig sind), sondern ebenso Aspekte der Aktivität/Partizipation sowie Umwelt- und personelle Faktoren einzubeziehen.

Die mit dieser Betrachtungsweise verfolgten Zielstellungen der Prävention, der Indikation eines Therapie-/Unterstützungsbedarfs, der differenzierten Interventionsplanung und/oder der Verlaufskontrolle und Evaluation führen zu ganz unterschiedlichen Fragestellungen, die in ein individuelles, hypothesengeleitetes Vorgehen münden. Für diesen diagnostischen Prozess stehen vielfältige methodische Vorgehensweisen und eine fast unüberschaubare Anzahl diagnostischer Verfahren unterschiedlicher Güte zur Verfügung.

 

Das vorliegende Lehrbuch hat das erklärte Ziel, Studierenden und Dozierenden der Sprachheilpädagogik, der Logopädie, der Sprachtherapie und sowie allen weiteren Berufsgruppen, die mit Kindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen arbeiten, einen umfassenden Überblick zu diesen Inhaltsbereichen und damit zur Diagnostik von Sprach- und Kommunikationsstörungen im Kindesalter zur Verfügung zu stellen. Hierbei werden nicht nur solche Einschränkungen mit einer hohen Prävalenzrate – die (Schrift-)Spracherwerbsstörungen – thematisiert, sondern ganz gezielt die Bandbreite möglicher sprachlicher Beeinträchtigungen unter dem Fokus „Diagnostik“ besprochen. Dabei werden immer wieder gezielt Bezüge zu anderen Entwicklungsbereichen hergestellt, da der Erwerb sprachlicher Kompetenzen nicht als isolierter Vorgang, sondern stets als Teil der kindlichen Gesamtentwicklung zu verstehen ist.

Ich freue mich, dass ich ausgewiesene Experten gewinnen konnte, die mit ihrer Expertise in den Bereichen Früherfassung, Schriftsprache, Mehrsprachigkeit, Redefluss und Stimme den jeweils aktuellen Erkenntnisstand einbringen.

Hervorzuheben ist die neu erstellte Datenbank, die parallel zur Buchpublikation online nutzbar ist. Sie bietet die Möglichkeit, für eine bestimmte Fragestellung potentiell einsetzbare diagnostische Verfahren gezielt zu ermitteln.

Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird in diesem Lehrbuch bei Personenbezeichnungen die männliche Form verwendet. Selbstverständlich sind damit beide Geschlechter und somit Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, Therapeutinnen und Therapeuten etc. gemeint. Beide Geschlechter sind jeweils mitzudenken.

Leipzig, im Dezember 2017

Markus Spreer

1 Diagnostisches Handeln im Entwicklungsbereich Sprache

1.1 Aufgaben und Ziele

Die Diagnostik stellt ein zentrales Aufgabengebiet in den Anwendungsbereichen der Disziplinen Medizin, Psychologie und Pädagogik dar. So ist ein professionelles diagnostisches Handeln der Fachkräfte in den Arbeitsbereichen (frühkindliche) Bildung und medizinisch-therapeutische Intervention bereits in der Ausbildung grundzulegen und stetig qualitätssichernd zu erweitern und zu evaluieren. Dabei sind die diagnostischen Aufgaben vor dem Hintergrund möglicher Zielstellungen höchst different und sollen zunächst in ihrer möglichen Bandbreite beschrieben werden. Der Begriff Diagnostik bezieht sich auf den Vorgang der Zuordnung, Unterscheidung und Beurteilung, wobei der Prozess des „Durchschauens“ (‚dia‘) das Erkennen (‚gnosis‘) des dahinter Liegenden einbezieht“ (Grohnfeldt 2009, 17).

Diagnostik hat keinen Selbstzweck. Die mit ihr verfolgten Zielstellungen sind die Prävention (vgl. Kap. 1.1.3), die Indikation eines Therapie-/Unterstützungsbedarfs und die Grundlage der Interventionsplanung (vgl. Kap. 1.1.4) sowie die Verlaufskontrolle und Evaluation (vgl. Kap. 1.1.5).

Kany/Schöler (2009) konstatieren, dass sich diagnostische Fragen auf notwendige Informationen zum Entwicklungs- und Leistungsstand eines Kindes konzentrieren, u.a.:

Fragestellungen der Diagnostik

■ „ob sich das Kind altersgemäß entwickelt,

■ ob die Leistungs-, Persönlichkeits-, und sozioemotionale Entwicklung im Einklang verläuft (Synchronizität),

■ ob ein Verdacht auf eine Störung in einem Bereich besteht,

■ worauf Auffälligkeiten oder Schwächen zurückzuführen sind: Liegt es an eingeschränkten Entwicklungsbedingungen oder basaleren Beeinträchtigungen,

■ wie die Aussichten für die weitere Entwicklung sind (Prognose)“ (Kany/Schöler 2009, 72).

Als zentrale Aufgaben pädagogischer Diagnostik im Rahmen des Förderschwerpunkts Sprache formuliert von Knebel in Anlehnung an die Ausführungen von von Knebel/Schuck (2007, 476) die...

„Analyse des Erwerbs und Gebrauchs von Sprache durch einen Menschen unter den (mitunter erschwerenden) Bedingungen seiner selbst und seiner Lebenswelt unter der Zielsetzung einer Optimierung von Bildungs- und Erziehungsprozessen, die auf eine Erweiterung lebensweltlicher (nicht allein sprachlicher) Handlungsmöglichkeiten des Betroffenen ausgerichtet sind“ (von Knebel 2012, 524).

sprachheilpädagogische und sprachtherapeutische Diagnostik

Diese sprachheilpädagogische Diagnostik weist dabei eine hohe Schnittmenge mit der sprachtherapeutischen Diagnostik auf, da beide Felder Bezüge zu den Bereichen Linguistik, Soziologie und Psychologie aufweisen, die medizinischen und pädagogischen Anteile jedoch unterschiedlich stark akzentuiert sind (Berg 2007, 342).

Die zur Beschreibung der Fähigkeiten auf den einzelnen Sprachebenen konstruierten Verfahren bedienen in Konsequenz ihrer Zielstellung i.d.R. auch nur die Erfassung sprachlicher Fähigkeiten/Funktionen beim Kind. „Diese müssen gemäß der ICF (DIMDI 2005) durch die Analyse von Ressourcen und Beschränkungen in den Bereichen Kommunikation/soziale Interaktion (Aktivitäten), durch Beantwortung von Fragen zur Teilhabe/Partizipation sowie durch die Erfassung umwelt- und personenbezogener Faktoren ergänzt werden“ (Spreer 2016, 126).

ICF als Bezugssystem

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat bereits 2001 die „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF) verabschiedet, die in einer deutschen Version unter dem Titel „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ verfügbar ist (DIMDI 2005).

Ressourcenorientierung

Die ICF als ressourcenorientiertes, individuums- und alltagsbezogenes Klassifikationssystem vereint in sich sämtliche Aspekte funktionaler Gesundheit (Grötzbach/Iven 2009). Es basiert auf einem bio-psycho-sozialen Modell von Gesundheit und Krankheit und bietet eine umfassende Beschreibung der jeweiligen Situation eines Kindes. Nicht nur die Funktionsebene (Körperfunktionen und -strukturen), sondern auch Rahmenbedingungen in Form von Umweltfaktoren werden explizit in die Zusammenstellung einbezogen (vgl. Abb. 1).


Abb. 1: Wechselwirkungen der verschiedenen Komponenten von Gesundheit der ICF (WHO, DIMDI 2005)

ICF-CY

ICF-CY berücksichtigt Bedingungen kindlicher Lebenswelten

Um auch die Aspekte kindlicher Lebenswelten, der Entwicklungsdynamik sowie der Erziehungs- und Bildungseinflüsse bei Kindern ausreichend berücksichtigen zu können, hat eine internationale Expertengruppe der WHO die „International Classification of Functioning, Disability and Health, Children and Youth Version ICF-CY“ (Hollenweger/Kraus de Camargo 2012) veröffentlicht (Grötzbach/Iven 2009). Diese findet Anwendung bei Kindern ab der Geburt bis hin zum Erwachsenenalter, greift die Entwicklungsprozesse sowie die Lern- und Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen auf, formuliert dabei entwicklungsspezifische Kontextfaktoren und beachtet vor allem die im Kindes- und Jugendalter typischen Aspekte der Partizipation (Grötzbach/Iven 2009).

Die ICF und die ICF-CY sollen dabei nicht als neues, differenziertes Klassifikationssystem verstanden werden, sondern dienen dazu, einen anderen Blick auf die vorliegenden Störungen und festgestellten Einschränkungen/Behinderungen zu ermöglichen. Die Ausführungen der folgenden Kapitel zu einzelnen sprachlichen Beeinträchtigungen versuchen diese Sichtweise der ICF bereits zu berücksichtigen. Dies beginnt bei jeder Anamnese, in welcher der Diagnostiker beispielsweise auch nach den Auswirkungen eingeschränkter sprachlicher Fähigkeiten auf alltägliche Bedingungen fragt und subjektiv gefühlte Einschränkungen, neben der objektiv feststellbaren Störung, mit aufnimmt (Grötzbach/Iven 2009).

Die folgenden Kap. 1.1.1 und 1.1.2 fokussieren die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in den Aufgabenstellungen von sprachheilpädagogischer und logopädischer/sprachtherapeutischer Diagnostik.

1.1.1 Schwerpunkt: sprachheilpädagogische Diagnostik

Diagnostik ist grundlegender Bestandteil der Arbeit von Lehrkräften in Schulen. Unterschiedlich ist allerdings, welche Formen von Diagnostik hierbei zum Einsatz kommen. Die Lernfortschrittsdiagnostik beispielsweise wird von allen Lehrkräften durchgeführt und ist von einer Lernleistungs- und allgemeinen Entwicklungsdiagnostik abzugrenzen, die auch eine Kind-Umfeld-Analyse beinhaltet und i.d.R. von Sonderpädagogen durchgeführt wird. Eine spezifische Sprachdiagnostik wird dann wiederum von Sprachheilpädagogen realisiert (Sonderpädagogen mit einer spezifischen Ausbildung im Bereich Sprache und Kommunikation). Für einen Überblick über die Diagnostik schulischer Lern- und Leistungsschwierigkeiten sei auf Kany/Schöler (2009) verwiesen.

Sprache als Teil der Gesamtentwicklung

Eine Zusammenstellung von Inhalten einer sprachheilpädagogischen Diagnostik liefert Berg (2007, 69), wobei beachtet werden muss, mit welcher Zielstellung diagnostisch gearbeitet wird, da dies natürlich Auswirkung auf die Zusammenstellung der entsprechend relevanten Aspekte hat. Im Mittelpunkt stehen die sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten, wobei hier auf die Sprach- und Kommunikationsfähigkeit als umfassendere Kompetenz abgehoben wird. Ein singuläres Betrachten einer einzelnen Sprachebene würde deren verschränkte Entwicklung negieren. Für ein umfassendes Bild der Fähigkeiten des Kindes ist auf das Multiperformanzprinzip zu achten, die Überprüfung sowohl der Sprachproduktion (Modalitäten Kodieren, Rekonstruieren) als auch des Sprachverständnisses (Modalität Dekodieren) und der Reflexion (Berg 2007, 69). Dabei sind die sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten nicht losgelöst von der Gesamtentwicklung des Kindes zu betrachten. Vielmehr sind diese verwoben mit den Entwicklungsbereichen Motorik, Sensorik, Kognition, sozial-emotionale Entwicklung (vgl. hierzu auch Kap. 12). Diese Entwicklungsprozesse eines jeden Kindes sind eingebettet in den Kontext der Bildungs- und Erziehungsprozesse, der Kompetenzentwicklung, der Sozialisation und der Individuation – in den jeweiligen familiären, institutionellen (Schule, Kita) und gesellschaftlichen Kontexten (Berg 2007). Dieser Kontext wird im Sinne der ICF ebenfalls als Inhalt in die diagnostische Arbeit einbezogen, beispielsweise wenn es zu ermitteln gilt, wie ein mehrsprachig aufwachsendes Kind mit welchen Kommunikationspartnern in der Familie in welchen Sprachen spricht und wie sich der Kontakt zur Zweitsprache Deutsch im Alltag gestaltet.

1.1.2 Schwerpunkt: logopädische/sprachtherapeutische Diagnostik

„Aus der Indikation zur Sprachtherapie allein sind weder das individuelle funktionelle Bedingungsgefüge noch entsprechende Therapieschwerpunkte und -ziele ableitbar. Hierzu bedarf es einer Feindiagnostik, die meist vom Sprachtherapeuten vorgenommen wird […]“ (Glück 2013a, 115).

In § 34 der Heilmittelrichtlinien heißt es: „Vor der Erstverordnung einer Stimm-, Sprech- und/oder Sprachtherapie ist eine Eingangsdiagnostik notwendig“ (GBA 2011b). In der Leitlinie zur Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen ist festgehalten, dass in interdisziplinären Praxis-Teams, beispielsweise in Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ), phoniatrisch und pädaudiologischen oder kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken und anderen auf Sprachentwicklungsdiagnostik spezialisierten Einrichtungen die diagnostischen Aufgaben auf Ärzte, Psychologen und Sprachtherapeuten/Logopäden verteilt sind (AWMF 2011, 46).

„Vier-Augen-Diagnostik“

In der Leitlinie heißt es weiter, dass es „erstrebenswert ist“, dass für die „Sprachentwicklungsdiagnostik außerhalb solcher interdisziplinärer Einrichtungen Kooperationen zwischen ärztlichen, psychologischen und sprachtherapeutischen/ logopädischen Praxen erfolgen“, die eine „ähnliche Aufgabenverteilung“ ermöglichen (AWMF 2011, 46). Explizit verwiesen wird dabei auf die „Vier-Augen-Diagnostik“ (Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2007). Glück empfiehlt diesbezüglich, den Rahmen für eine regelhafte kooperative Diagnostik zu schaffen, beispielsweise „durch eine Verordnung zur Befundung“ (Glück 2013a, 117) und somit vielfach improvisierte Prozesse strukturell zu sichern.

Bei vorliegender Indikation für eine Sprachtherapie wird ein weiterer diagnostischer Schritt notwendig (Glück 2013a):

„Mit einer detaillierten Beschreibung der sprachlichen Fähigkeiten werden die Ergebnisse der Klassifikationsdiagnostik bestätigt oder modifiziert, wird eine Datenbaseline zur Beurteilung von Veränderungen gewonnen, werden therapeutische Feinziele abgeleitet und die Verfahren für die spätere evaluative Diagnostik festgelegt“ (Glück 2013a, 111).

Glück formuliert weiter, dass die in der Statusdiagnostik gewonnenen Informationen therapiebegleitend ergänzt werden. So gilt es, die Ziele und die dafür eingesetzten Methoden im therapeutischen Prozess an die sich verändernden Lernvoraussetzungen anzupassen (Glück 2013a). In Zwischenschritten können so Entwicklungsfortschritte erfasst und die Angemessenheit der gewählten Ziele und eingesetzten Methoden beurteilt werden. Auch die evaluative Abschlussdiagnostik zum (vorläufigen) Abschluss einer Therapie kann wiederum durch den Sprachtherapeuten oder vom Arzt durchgeführt werden (Glück 2013a, 117).

Schrey-Dern (2006) formuliert als Zielstellung logopädischer Diagnostik folgende Aspekte:

■ „Erfassen des Sprach- und Sprechverhaltens des Kindes

■ Erfassen begleitender (nichtsprachlicher) Fähigkeiten bzw. Störungen

■ Erkennen von Abweichungen von der Norm (z.B. hinsichtlich des Sprachentwicklungsverlaufs)

■ Entwickeln von Hypothesen über Bedingungsfaktoren für die Störung

■ Einschätzen von Behandlungsbedürftigkeit

■ Ableiten von Beratungs- und Therapieschwerpunkten

■ Beurteilen der Effektivität von Therapiemaßnahmen“ (Schrey-Dern 2006, 21)

Dabei werden unterschiedliche Aufgaben im Bereich der sprachtherapeutischen Diagnostik sichtbar: Die Erfassung der (nicht-)sprachlichen Fähigkeiten eines Kindes (als Grundlage für eine entsprechende Interventionsplanung), die sich daraus ergebende Indikation eines Therapie-/Unterstützungsbedarfs und die Evaluation von durchgeführten Therapiemaßnahmen.

1.1.3 Zielstellung: Prävention

Die Aufgabenbereiche Diagnostik und Prävention (und Evaluation) stehen in einer engen Wechselbeziehung, wobei die Diagnostik eine wesentliche Voraussetzung für präventive Maßnahmen darstellt (Grohnfeldt 2009). Terminologisch muss man an dieser Stelle allerdings deutlich die verschiedenen Formen der Prävention mit ihren jeweiligen Zielstellungen unterscheiden (Caplan 1964). Erst so wird deutlich, dass die Prävention auch ein zentrales Ziel diagnostischen Handelns im Bereich Sprache darstellt. In Anlehnung an Caplan (1964) unterscheidet man Maßnahmen der primären, sekundären und tertiären Prävention, die im Folgenden skizziert werden. Die Unterscheidung zwischen den einzelnen Formen kann im Zweifelsfall schwierig sein, da die Abgrenzung nicht immer trennscharf vorgenommen werden kann, Übergänge zwischen den Formen können als fließend angenommen werden.

Universelle, primäre Prävention: Unter diesem Terminus werden Maßnahmen subsummiert, die alle Kinder erreichen. Hier ließen sich beispielsweise die sogenannten U-Untersuchungen U1 bis U11 zuordnen, bei denen in regelmäßigen Abständen vom Kinderarzt der Entwicklungsstand in allen relevanten Bereichen überprüft wird.

Sekundäre Prävention: Diese Form der Prävention nimmt eine formierte Teilpopulation in den Blick, die als Risikogruppe gilt, beispielsweise für die Ausbildung einer sprachlichen Beeinträchtigung. So ist es angezeigt, um etwa für die Risikogruppe der „late talkers“ entsprechende Unterstützungsmaßnahmen vorzuhalten. Dafür ist es allerdings notwendig, die Gruppe an Kindern entsprechend diagnostisch zu erfassen (z.B. mit dem SBE-2-KT oder dem ELFRA).

Tertiäre Prävention: Die tertiäre Prävention beinhaltet spezifische Unterstützungsangebote bei manifesten Störungen, u. a. auch zur Vermeidung von Begleit- und Folgestörungen. Für den Bereich der Diagnostik lassen sich Überprüfungen im Sinne der Evaluation von Therapiemaßnahmen genauso zu diesem Bereich zählen wie die Erfassung möglicher Einschränkungen in anderen Entwicklungsbereichen. Diese können aus einer primär sprachlichen Beeinträchtigung erwachsen, bzw. können Einschränkungen auf einer sprachlichen Ebene (z.B. Lexik-Semantik) in der Folge auch zu Einschränkungen auf einer anderen Ebene führen (z.B. Kommunikation-Pragmatik).

In Abgrenzung zu dieser Klassifikation formuliert Gordon (1983) die Einteilung in universelle, selektive bzw. indizierte Präventionsmaßnahmen und schließt dabei tertiäre Maßnahmen im Sinne Caplans (1964) aus. Die Verwendung des Begriffs „Tertiäre Prävention“ in der Praxis entspricht aber der Überlappung von Prävention und Behandlung (treatment) (Hartke/Diehl 2013).

Wenn wir demnach von der Prävention als Zielstellung diagnostischen Handelns sprechen, wird dabei vorwiegend die universelle und selektive Prävention in den Blick genommen. Dazu gehören beispielsweise die kinderärztlichen U-Untersuchungen, die präventiv sprachliche Fähigkeiten in den Blick nehmen (vgl. Kap. 5.1), oder auch die bundesweit eingeführten Sprachstandserhebungen bei Kindern (in Kindertagesstätten, vgl. Kap. 4.4).

1.1.4 Zielstellung: Indikation eines Therapie-/ Unterstützungsbedarfs und Grundlage der Interventionsplanung

Die Zielstellung der Indikation ist i.d.R. mit der sich anschließenden Zurverfügungstellung von Ressourcen im Bereich der Intervention verbunden. So sind vorhandene Symptome so gut wie möglich einzuordnen und ggf. Störungsschwerpunkte zu ermitteln (AWMF 2011).