Loe raamatut: «Going Viral!»
Martin Burckhardt
Going Viral!
Ein Abgesang der Postmoderne
Inhalt
Einleitung
Virale Gesellschaft
Stadien der Eskalation
Geistesbeben
Im freien Fall
Der Aufprall
Ich bin ein anderer
Nach dem Schock
Abgesang
Anmerkungen
Video-Material
Einleitung
Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die Coronakrise sich tief ins kollektive Gedächtnis eingraben wird. Aber da die Schockwellen andauern, fällt es schwer, die Bedeutung dessen zu ermessen, was uns gerade widerfährt. Bleibt nur die dunkle Gewissheit: Die Party ist vorbei, die schöne Unbeschwertheit des Anything goes ist Geschichte. Verlassene Tanzflächen, geschlossene Reisebüros, Restaurants, deren Kellner aussehen wie Statisten einer verlorenen Zeit; die Erinnerung, wie es war, als die Stadt in den Dornröschenschlaf fiel. Da war eine ohrenbetäubende Stille – als hätte jemand auf dem Höhepunkt eines Konzerts den Stecker gezogen. Vielleicht war es auch keine Stille, sondern ein grauer Schleier, der sich als Mehltau über die Dinge gelegt hat. Menschenverlassene Flughäfen, Kaufhäuser, die nicht mehr verkaufen, Theater, die einfach zu spielen aufgehört haben. Gewiss, es gibt wieder Leben ringsum, aber die Erstarrung ist nicht verschwunden, sondern hat sich in eine inwendige Lähmung verwandelt, ein Störgeräusch, das nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Und zugleich stellt sich, gleich einer sich entwickelnden Fotografie, das Bewusstsein ein: Der Ausbruch der Pandemie war eine Zeitenwende, die radikaler ist als alles, was uns die Krisen der letzten Jahrzehnte beschert haben.
Wenn im nachfolgenden Essay die Viralität mit einem Abgesang auf die Postmoderne verknüpft wird, steckt dahinter ein Gedanke, der weit über die Gegenwartsschau hinausreicht: die Behauptung, dass die Pandemie uns aus der Komfortzone des postmodernen Phantasmas entlässt, oder genauer: in eine Abgründigkeit stürzen lässt. In ein Bild übersetzt, könnte man dies mit der Bewegung der Zeichentrickfilmfigur vergleichen, die über ein Kliff hinweg in die blanke Luft vorangestürmt ist – aber erst in dem Augenblick, da sie die Tiefe unter sich realisiert, tatsächlich stürzt. Wenn Wittgenstein einmal gesagt hat: die Welt ist, was der Fall ist, lässt sich der Sturz als Zusammenstoß mit einer unerhellten, unabweisbaren Realität deuten. Und mit dieser Kollision einher geht die Einsicht, dass die vertrauten Sprach- und Gesellschaftsspiele uns nicht mehr zu tragen vermögen. Von daher stellt sich die Frage: Wo genau ist dieser Punkt, der Klippenrand, zu lokalisieren?
Schon ein erster, kursorischer Rückblick liefert eine Bildsequenz, die auf ein Rätsel hinweist. Denn alle Schocks der letzten Jahrzehnte verraten, so unterschiedlich sie sein mögen, eine virale Struktur. Beginnen wir mit dem Mauerfall, den man in geschichtsphilosophischer Abstraktion als Ende der Geschichte gedeutet hat; als konkretes historisches Ereignis war er jedoch nichts weiter als die verrutschte Formulierung eines Politbüromitglieds, ein Superspreader-Ereignis, das, infolge einer Masseninfektion, eine für undurchdringlich gehaltene Gedankenmauer durchbrach. Auch die Dotcom-Hysterie, die unter dem Schlagwort der New Economy die Börsenkurse in schwindelerregende Höhen hinaufkatapultierte, war ein Geschehen, bei dem eine kollektive Erregung sich Ausdruck verschaffte; das Gleiche gilt, wenngleich in sinistrer Form, für die Twin Towers, bei denen weniger eine konkrete Architektur als vielmehr das Symbol einer Weltmacht in sich zusammenfiel, ein weltweites Medienereignis, das der Komponist Stockhausen zum »größten Kunstwerk« erklärte, »das es je gegeben hat«; schließlich die Finanzkrise, bei der das fiktive Kapital der Credit Default Swaps einen übermächtigen Reiz ausübte, der zwar vielen Beteiligten als eine Form des Schwindels bewusst war, dem sie sich aber, solange »die Musik spielte«, allzu willig ergaben. In die Reihe dieser Großereignisse gestellt, erscheint die Coronakrise wie eine logische Fortsetzung – nur dass man es hier nicht mit einer Form der symbolischen Ansteckung, einer medialen Hysterisierungsspirale, sondern einer wirklichen Todesdrohung zu schaffen bekommt. Man könnte einwenden, dass genau diese biologische Seite den entscheidenden Unterschied macht. Jedoch ist der Rekurs auf die Naturkatastrophe, die »höhere Gewalt«, nur bedingt angebracht. Denn so sicher, wie das Virus nicht dem Bereich der menschlichen Artefakte angehört, hat es sich nur deswegen zu einer Pandemie auswachsen können, weil es – als blinder Passagier – den globalen Warenketten und Reisebewegungen gefolgt ist. Von daher reiht sich auch die Pandemie in die lange, hier bloß umrissene Liste1 viraler Gesellschaftsumbrüche ein. In dieses Kontinuum gestellt, verändert sich der Blick auf das Geschehen. Plötzlich nämlich werden Bezüge und Strukturen sichtbar, die im Handbuch des Epidemiologen nicht vorgesehen sind. Manches davon ist mit den Händen zu greifen. Es mag kaum überraschen, dass eine Gesellschaft, die sich ein Going Viral! auf die Fahne geschrieben hat, es ihrerseits mit einem viralen Geschehen zu schaffen bekommt. Diese Doppelbelichtung nimmt bereits eine Deutung vorweg: Sie zeigt die Pandemie als den bösen Zwilling der Netzwerkgesellschaft, welche seit den frühen 70er Jahren die Welt nachhaltig verändert und in eine politische Ökonomie hineingeführt hat, die eindeutig virale Züge aufweist. Ein skeptischer Zeitgenosse könnte einwenden: Wie kann ein Zeichen eine virale Logik entbinden? Wäre schon ein Computervirus Antwort genug, wird der Versuch, das Triebwerk dieser Ordnung dingfest zu machen, mit einer Antwort belohnt. Hier stößt man auf jene abgründige Formel,2 die den Beginn der Boole’schen Logik markiert und die man als Urform digitaler Viralität überhaupt lesen kann: x = xn. Was aber hat diese Formel mit der Postmoderne zu schaffen? Und inwiefern kann sie als der Augenblick gelten, da wir den Boden unter den Füßen verloren haben? Wieso ist hier überhaupt von einem Phantasma die Rede? War nicht die Postmoderne der Augenblick, da man das Denken den großen Erzählungen entwand, eine intellektuelle Ernüchterungsgeste mithin? Zweifellos. Indes schützt die gelungene Dekonstruktion eines Phantasmas nicht davor, einem neuerlichen Phantasma aufzusitzen. Paradoxerweise ist dies die Dekonstruktion selbst, genauer: die ihr zugrunde liegende Annahme, dass man es nicht mehr mit Realitäten, sondern mit gefügigen Zeichen, Sprachspielen und Fabeln zu tun hat. Weil die Zeichen gezähmt, Realitätsverweigerung salonfähig gemacht wurde, konnte die Hydra des intellektuellen Hochmuts und der Selbstüberhebung ihr Haupt erheben. Nicht zufällig entwirft Deleuze, im Anschluss an Nietzsche, das »souveräne und gesetzgebende Individuum, das sich durch die Macht über sich selbst, über das Schicksal, über das Gesetz auszeichnet«.3 Damit wird ein absolutes Selbstbestimmungsrecht supponiert, das im Widerspruch zum sehr viel bescheideneren Realitätsprinzip steht: der Tatsache, dass die Netzwerkgesellschaft ihren Mitgliedern ein bestimmtes Gesellschaftsspiel aufzwingt. Dass das Anything goes mit einem Netzwerkprotokoll, einer symbolischen, viralen Ordnung, bezahlt werden muss – die Verleugnung dieses Sachverhalts hat die postmoderne Selbstüberhebung in eine träge Komfortzone zurücksinken lassen.4 War die Dekonstruktion in der heroischen Phase der Postmoderne ein Moment der intellektuellen Befreiung, ist heutzutage eine Vulgarisierung des postmodernen Reflexes zu beobachten, bei der am Ende nicht mehr der Gedanke, sondern allein der narzisstische Mehrwert auf dem Spiel steht. Wo das Anything goes zum Normalzustand wird, die hinzugewonnenen Freiheiten aber keinen Sinn zu stiften vermögen, greift der blanke Konsumismus um sich. Im Einkaufsparadies macht sich jene Konsumentengattung breit, die Nietzsche überaus treffend als die letzten Menschen tituliert hat: »Wir haben das Glück erfunden, sagen die letzten Menschen und blinzeln. Sie [d. h. die letzten Menschen] haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme. Krankwerden und Mißtrauenhaben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. […] Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife. Man wird nicht mehr arm und reich: beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich.«5 Aber weil, wie man weiß, die Wiederkehr des Verdrängten eine Unausweichlichkeit ist, ist in die angenehm temperierte Work-Life-Balance nun der absolute Fremdkörper hineingeraten: die Zeichenkette, die sich nicht fügt, sondern der Krone der Schöpfung auf ebenso arglose, wie heimtückische Weise Gewalt zufügt – Corona. Dass ausgerechnet Kreuzfahrtschiffe zu schwimmenden Petrischalen mutiert sind, ja, dass vor allem die Partyzonen zu den Brutstätten der Pandemie wurden, ist von einer Bildkraft, die kein Romancier hätte überbieten können. Nehmen wir, um dieses Auseinandertreten von Selbstverständnis und Realitätsprinzip zu verdeutlichen, als Gedankenexperiment an, das Virus wäre ein Gottesgeschenk – und dieser Alien-Gott, der zugleich ein Meister der Dekonstruktion wäre, hätte uns mit seiner Gabe etwas ausrichten wollen. Versetze ich mich in seine Position, fiele mir zuerst auf: Der Mann hat Humor (wenn denn eine Geschlechterkategorie in der göttlichen Alterität überhaupt eine Bedeutung besäße). Denn nachdem er all den großspurigen, sündenstolzen Reden über das Anthropozän gelauscht hat, bestünde sein lapidarer Kommentar in einem sprachlosen – Nichts. Haben wir gerade mit Trompetenstößen die Apokalypse intoniert, gibt er uns ein luftiges Ding, einen Kristall, der als Aerosol in der Luft hängt und unserer Logik spottet. Nicht ums Gesagte geht es hier, sondern allein um die Tatsache, dass das erregte Sprechen mit einer feuchten Aussprache einhergeht. Das Virus, als Logosparasit, bekümmert sich nicht, wie man das Gesagte dekonstruiert, ob es politisch korrekt und entsprechend geframed ist – es schlägt zu. Nein, auch das wäre falsch. Streng genommen handelt es sich gar nicht um äußere Gewalt, sondern um eine Autoaggression, eine Überreaktion unseres Immunsystems, die zur tödlichen Gefahr wird. Das ist der Witz. Und erstaunlicherweise vermag dieser Witz, was unsere Bußprediger nicht bewirkt haben: Wir fliegen nicht mehr. Wir gehen in uns und bleiben zu Hause. Und doch erleben wir nicht das Ende der Welt, sondern vielmehr die Unerträglichkeit unserer selbst. Das Elend des Menschen, hat Blaise Pascal gesagt, rührt allein daher, dass der Mensch nicht allein in seinem Zimmer bleiben kann. So konfrontiert uns das Virus mit der Grenze unserer selbst. Nicht alles ist menschengemacht, nicht alles Diskurs, nicht alles beliebig wählbares, soziales Konstrukt. Ärger noch: Auch dort, wo alles menschengemacht ist, kann sich, im Schlaf der Vernunft, ein Ungeheuer breitmachen – kann eine Gesellschaft eine Form der Viralität entwickeln, bei der am Ende das Virus selbst »wie gerufen« erscheint.
In diesem Sinn blickt die Pandemie auf eine lange Vorgeschichte zurück, ein ganzes Menschenleben beinahe. Lassen wir die großen Krisen der Postmoderne an uns vorüber ziehen, wohnen wir nacheinander der Erschütterung der Ideologie, der Ökonomie, des Staates und des Finanzkapitals bei. Tatsächlich gibt es keinen verlässlicheren Begleiter als die Krise selbst. Anstatt die Serie dieser Erschütterungen als tektonische Verschiebungen des Fundaments zu begreifen, besteht und bestand die Antwort darauf in einer möglichst gloriosen Verdrängung. Wie der Neoliberalismus die selbstverursachten Verwüstungen mit einer Erhöhung der Dosis bekämpfte, bestand die Postmoderne auf einer Erhöhung der Dopaminzufuhr. Mark Fishers Bemerkung, dass es leichter zu sein scheint, das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus zu denken, wäre ebenso gut auf das postmoderne Selbstverständnis zu übertragen.6 Da jedoch die Wiederkehr des Verdrängten unausweichlich ist, wird das Selbst in eine Serie von kognitiven Dissonanzen verstrickt, die nicht minder absurd sind als der ritterliche Heroismus, mit dem Don Quichotte gegen Windmühlen anrennt. Just in dem Maße, in dem die Netzwerkgesellschaft ihre virale, skalierbare Ökonomie etablierte, pumpte sich das postmoderne, allseits vernetzte Subjekt mit narzisstischer Energie auf (was Ovids Einsicht bestätigt, dass die Hydra »reich ward durch den Verlust«). Vergleichen wir das zeitgenössische Selbstverwirklichungsprojekt mit dem deleuzianischen Selbstbestimmungsgedanken, könnte der Widerspruch kaum größer sein. Zwar erfreut man sich noch immer der Segnungen des Anything goes, faktisch jedoch hat sich ein viraler MeToo-Konformismus etabliert, der sich wie eine Parodie des Selbstbestimmungsgedankens ausnimmt, nein, ärger noch, der ihn unter dem Furor diverser Identitätspolitiken begräbt. Wenn sich die Netzwerkgesellschaft der Köpfe bemächtigt, ja ihr Denken auf eine Weise subvertiert, dass es nur mehr als Abwehrformel lesbar ist, zeigt dies, wie wenig tragfähig die Philosophie der letzten Menschen ist. Dies führt uns zurück zu jener Comicfigur, die hypermotorisch in den leeren Himmel voranstürmt, bis zu dem Augenblick, da sie den Blick in die Tiefe wagt. Dass uns die Pandemie als Anomalie, als »schwarzer Schwan« der Geschichte erscheint, ist ein Indikator für eine bemerkenswerte Verdrängungsleistung. Denn die virale Gesellschaft ist längst fait accompli, das Virus nur ihr Symptom. Der Sturz aus der postmodernen Komfortzone gewinnt an Fallhöhe, ja wird noch abgründiger dadurch, dass die Pandemie die überwunden geglaubten, nur notdürftig übertünchten Konflikte der Vergangenheit wieder aufbrechen lässt: die Problematik der Autorität, des Geldes, des Wertes. Konnte man die vorausgegangenen Krisen noch als punktuelle Ereignisse abtun, kommt es nun zum multiplen Organversagen. Kein Gesellschaftsbereich bleibt verschont. Der Ernstfall geht unter die Haut und verlangt jedem Einzelnen eine Verhaltensveränderung ab. Dass sich dabei die vertrauten Gedankenfiguren, Überzeugungen, Rituale als ebenso leichtgewichtig erweisen wie ein toxisches Aerosol, ist hochgradig verstörend, umso mehr, als das überkommene Gedankenkorsett in einem diametralen Gegensatz zu der neuen, viralen Erfahrungswelt steht. Insofern ist schwer zu entscheiden, was schwerer wiegt: der Sturz aus der Illusion oder die Einschränkungen, die die Pandemie uns abverlangt. Schon die Begriffe, die binnen Kurzem unsere Köpfe erobert haben (Maskenpflicht, Social Distancing etc.), nehmen sich wie groteske Umkehrungen all dessen aus, was ehedem lieb, teuer und hochgeschätzt war. Das Versagen des intellektuellen ›Immunsystems‹ schlägt sich in einem Verlust an Handlungsmacht nieder. Nicht zufällig lassen sich die Maßnahmen nicht mehr auf die Entscheidungsgewalt eines souveränen und gesetzgebenden Individuums zurückführen, »das sich durch die Macht über sich selbst, über das Schicksal, über das Gesetz auszeichnet«, sondern auf die Krisenumstände: It’s the virus, stupid. Aber da das Virus, als böser Zwilling der Netzwerkgesellschaft, der Logik des x = xn souffliert, ja, geradezu als ihr Geburtshelfer wirkt, können ihre schlafenden, unterschwellig wirksamen Kräfte die Macht übernehmen. Damit werden die Gewissheiten der Vergangenheit als Phantasmen entblößt. Hat man sich etwa im Bildungssystem der Vorkrisenzeit dem Trugbild einer inklusiven, diversen und weltoffenen Zukunftspädagogik hingegeben, wird jetzt, da der Schleier gefallen ist, offenbar, dass man es mit einer zutiefst rückständigen, dysfunktionalen Apparatur zu tun hat. Der Verdacht drängt sich auf, dass ihr vornehmster Sinn in der Scheinproduktion bestand und darin, die Work-Life-Balance ihrer Angestellten zu optimieren. Wo andererseits Geistesgegenwart gefordert wäre, bleibt kaum mehr als die hilflose Beschwörung einer Praxis, die nur mit einem Slogan aufwarten kann: Homeschooling! Nun stellt unser Bildungssystem (wie das Vokabular der Krise zeigen wird) zwar nur einen kleinen Bereich des Gesellschaftsganzen dar, jedoch vollzieht sich im gesamten Gesellschaftskörper ein analoger Ernüchterungsprozess. Diesen Ernüchterungsprozess herauszuarbeiten, ist, was sich dieses Büchlein vorgenommen hat. Dabei ist der Titel weniger als Schlachtruf zu verstehen denn als Erinnerung daran, dass wir das Triebwerk der viralen Gesellschaft ins Auge fassen müssen. Der erste Schritt wird demgemäß in einer historischen Anamnese der Netzwerkgesellschaft bestehen. Insofern die symbolische Ordnung auf die Elektrizität und die Telegrafie zurückgeführt wird, ist jenes Gedankenpaket geschnürt, das uns einen neuen Blick auf die Gegenwart erlaubt. In der Folge werden wir die einzelnen Schritte der pandemischen Eskalation durchgehen. Der Phänomenologie der Krise folgt eine Neubesichtigung der digitalen Episteme, die sich in der Dreifaltigkeit des Anything, Anytime, Anywhere entfaltet. Diese Kräfte werden anschließend daraufhin befragt, ob und in welcher Form sie zum Umsturz der bestehenden Gesellschaftsinstitutionen beitragen. Dem folgt eine kurze Überlegung, woran sich ein künftiges Selbst ethisch ausrichten müsste. Es folgen zwei Zukunftsszenarien, welche die möglichen Folgen der Pandemie in den Blick nehmen, in dystopischer, dann in utopischer Form. Zu guter Letzt: der Abgesang, wie intoniert.
Virale Gesellschaft
Covid-19? Ein Zufall, denn ebenso gut hätten MERS, SARS oder eine Spielart der Vogelgrippe die Pandemie auslösen können. Sehr viel erhellender ist die Einsicht, dass wir längst in einer viralen Gesellschaft leben, man sich also nicht wundern muss, einer pandemischen Heimsuchung gegenüberzustehen. Schaut man nur ein paar Jahre zurück, ist verblüffend, mit welcher Arglosigkeit Begriffe wie ›Viralität‹ oder ›Growth Hacking‹ genutzt wurden, ja, dass ein Schlachtruf wie Going viral! als Erfolgsversprechen aufgefasst werden konnte. Es liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die vernetzte Gesellschaft geradezu vorbereitet ist für einen pandemischen Ausbruch. Insofern das Virus den Trajektorien der Globalisierung folgt, könnte man es als einen dunklen Gesellschaftsspiegel auffassen. Unter diesem Blickwinkel ließe sich auch das Aids-Virus als Vorbote der Pandemie lesen. Hier war der Patient Null7 ein frankokanadischer Steward, der seine erotischen Eroberungen in verschiedenen Städten dieser Welt in einem Leporello aufgezeichnet und damit den Epidemiologen die Kontaktverfolgung und die Identifikation des Virus ermöglicht hatte. Lief die Spurensuche in den 80er-Jahren in einem medizinischen Darkroom ab, können wir uns heute glücklich schätzen, dass die Pandemie zu einem Zeitpunkt ausgebrochen ist, da Gensequenzierer eine Viren-Entzifferung in Echtzeit ermöglichen. Der Ausbruch selbst dürfte jedoch keineswegs überraschen. Schon seit geraumer Zeit hat sich der Forschungszweig der Predictive Analytics etabliert, der über die Analyse von Verkehrsrouten und Social-Media-Kanälen Krankheitsausbrüche (aber auch andere Trends) vorherzusagen bestrebt ist. Folglich stellt sich die Frage: Was hat die vernetzte Welt mit der viralen Gesellschaft zu tun? Inwiefern stehen wir hier einem grundsätzlichen Paradigmenwechsel unserer Ökonomie, ja, unseres Denkens gegenüber? Um den Zusammenhang von Netzwerkgesellschaft und Viralität zu verstehen, muss man an ihre Anfänge zurückgehen – vor allem aber muss man bereit sein, das tradierte Moderne-Narrativ zu revidieren. War dieses in der Absetzbewegung der Postmoderne eine alte Bekannte, so bietet sich uns, unter einem anderen Blickpunkt gelesen, ein neues, anderes Bild. In meinem Denken liegt die Urszene der modernen Gesellschaft in der Formation jener Mönche, die sich im Jahr 1746 auf einem Feld im Norden Frankreichs versammelten, einander mit Eisendraht verkabelten und dann, auf die Berührung einer kleinen Antenne hin, in konvulsivische Zuckungen ausbrachen. Der Sinn dieser merkwürdigen Szenerie ist leicht erklärt: Weil man mit der Leidener Flasche, dem Kondensator, Elektrizität hatte speichern können, war die leitende Frage, wie schnell sich dieses elektrische Fluidum durch den Raum bewegen würde. Strukturell betrachtet enthüllt die Versuchsanordnung das Wesen der modernen Massengesellschaft: Hier kann der Einzelne, der als Spiritus Rector die Antenne berührt, dann aber zwangsläufig eingemeindet wird, nicht mehr als autonomes Subjekt begriffen, sondern muss als Einer-im-andern, als Dividuum verstanden werden. Bilden die verkabelten Mönche als Humanprozessor avant la lettre den Prototyp der vernetzten Gesellschaft, lässt sich die Formierung des Nationalstaats und seine Entgrenzung im Kolonialismus als eine Materialisierung dieses entgrenzten Gesellschaftstyps auffassen – ein Gedanke, der sich im Begriff der ›Ersten Globalisierung‹ niedergeschlagen hat und in Beziehung zum Ausbruch der Spanischen Grippe gesetzt worden ist. Gilt zu dieser Zeit die Elektrizität als conditio sine qua non der Weltbeherrschung (wie Lenin gesagt hat: »Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung«), könnte man von einem fortschreitenden Deterritorialisierungsprozess sprechen: dem Versuch, die Entfernung der Welt zu entfernen. Dies entspricht der Boole’schen Logik, die sich mit der Ausarbeitung der binären Algebra von jeglichem Weltbezug löst. Kein Wunder also, dass sich die ihr zugrunde liegende Formel, das x = xn, als Inbegriff der Viralität deuten lässt. Freilich: Booles Denken war seiner Zeit ein gutes Jahrhundert voraus und wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg in die Computerschaltkreise integriert. Dies geschah als Antwort auf die nukleare Kettenreaktion, bei der eine gleichsam unbegrenzte Energiemenge freigesetzt wird – ein Vorgang, den man als materielle Entsprechung der Boole’schen Proliferationsdrohung lesen kann. Der Zusammenhang von Kernspaltung und binärer Logik ist weit mehr als eine bloße Analogie. Im Zeichen der Atomkraft werden wir mit der Emergenz der modernen Netzwerkgesellschaft konfrontiert, und zwar als Versuch, der atomaren Proliferationsdrohung ein digitales Überlebenssystem entgegenzustellen. Dieser Zusammenhang wird deutlich, wenn man sich fragt, was bei einem Atombombenabwurf passiert. Im Umfeld der Abwurfstelle kommt es zu einer elektromagnetischen Entladung (EMP), einer Störung des Magnetfeldes, welche bewirkt, dass weder Motoren noch Telefonie nutzbar sind. Diese Störung wiederum kann dazu führen, dass die Kapitale eines Landes nicht weiß, dass sie gerade von einem Atombombenangriff überrascht worden ist. Um dies zu verhindern, verfiel man auf eine Logik, bei der die SOS-Botschaften – in Form eines symbolischen Fallouts – an alle erdenklichen Netzknoten gesendet werden sollten. Waren diese vital, schockten sie die Botschaft an alle erreichbaren Verbindungen weiter – in der Hoffnung, dass man auf diese Weise die Kapitale würde erreichen können. Diese Form der Versendung erforderte, dass man zum einen den Erfolg oder Misserfolg eines Kommunikationsversuchs festhalten musste – in Gestalt eines Versandprotokolls –, zum andern, dass man sich einer digitalen Codierung bediente (denn sie allein verhinderte, dass ein mehrfach kopiertes Signal im analogen Rauschen untergehen würde). Dies war die Geburtsstunde des Arpanets: als digitales Überlebenssystem.
Mit den frühen 70er Jahren erlebte diese militärische Ausrichtung eine grundlegende Umdeutung. In der Ära des Pop und der Bewusstseinsentgrenzung kam es, dem Geist der Zeit folgend, zu einer Privatisierung des Netzes: dem Ethernet. In diesem Sinn lässt sich der Beginn der Computerzeit am 1.1.1970 (die Unix-Zeit) als Geburtsdatum der Netzwerkgesellschaft auffassen. Der überwältigende Erfolg, welcher dem Ethernet in seiner weltweiten Fassung als Internet zuteilwurde, lässt die Widerstände in Vergessenheit treten, auf die Robert Metcalfe, sein Erfinder, selbst bei seinen computeraffinen Kollegen traf. Der Grund ihres Unbehagens: Man fürchtete, dass der vernetzte Kollege die Gelegenheit nutzen würde, um auf dem eigenen Schreibtisch zu wildern, sich die eigene Arbeit anzueignen etc. Definieren wir die conditio humana in der Netzwerkgesellschaft als Einer-im-andern (als Dividuum, das sich in der Mitteilung und der Kommunikation mit anderen erhält), ist es nicht verwunderlich, dass das solcherart vergesellschaftete Sein die Idiosynkrasie des Eigentumsdenkens evoziert: die Furcht vor dem Verlust oder dem Diebstahl der Identität. Zweifellos ist hier ein Tabu unseres kulturellen Selbstverständnisses berührt, jedoch erwies sich die Netzarchitektur als die überlegene gesellschaftliche Machtbatterie. Dies hat wesentlich damit zu tun, dass die alte, zentralperspektivische Logik durch eine neue Peer-to-peer-Logik ersetzt wird. Ein frühes, wenngleich nicht ursächlich damit in Zusammenhang stehendes Beispiel dafür ist das Ende von Bretton Woods. Hier wird die Macht über die Geldzeichen den Finanzmärkten, genauer: den anonym agierenden Spekulanten überantwortet; andererseits kommt es zu einer graduellen Entmachtung des Nationalstaats. Haben wir uns daran gewöhnt, dies nur in Begriffen des Schwunds und des Verschwindens zu deuten (Zygmunt Baumans Flüchtige Moderne wäre ein Beispiel), wird übersehen, dass das Netz strukturell sehr viel resilienter ist als die klassische Top-down-Hierarchie. Der Grund ist ein mathematischer: Verknüpft man die Netzknoten miteinander, kommt es zu einem quadratischen Wachstum der Verbindungen.8 Haben fünf Netzknoten lediglich zehn Verbindungen, liegt die Zahl bei hundert Netzknoten bereits bei 4.450 Verbindungen, bei 20.000 Netzknoten (der Einwohnerzahl einer Kleinstadt) bei stattlichen 190 Millionen. Hier spätestens zeigt sich, dass ein solches Netz eine sehr viel größere Informationsdichte besitzt als jedes noch so mächtige Broadcast-Modell. Dass eine laterale Ordnung, die einen geradezu ans Anarchische grenzenden Hierarchiemangel aufweist, sich an die Stelle eines pyramidalen, streng geschichteten Zentralstaatsmodells setzen kann, bedeutet eine grundstürzende Veränderung des Machtparadigmas: von der Politik der Repräsentation hin zur Politik der Simulation (eine Zäsur, die uns im Folgenden als Leitmotiv begleiten wird). In jedem Fall aber lässt sich die Netzwerkgesellschaft, welche Raum, Zeit und Materialität in die Postmaterialität transzendiert, nicht mehr in klassischen Begriffen verstehen. Die Losung der neuen Ordnung lautet: Anything, Anytime, Anywhere. Etwas expliziter und fasslicher formuliert: Was immer elektrifiziert werden kann, kann digitalisiert werden; und weil ein weltumspannendes Netz existiert, ist das digitalisierte Objekt allüberall und jederzeit abrufbar. Obschon nichts weniger als eine Revolution, ist bemerkenswert, dass sich dieser Umsturz unterhalb der Wahrnehmungsschwelle abgespielt hat. Denn obschon die Digitalisierung zum entscheidenden Triebwerk der Wirtschaft wurde, zog man es vor, ominös von der Globalisierung zu sprechen (womit sich ein schwer zu fassender Dämon im Diskurs etablierte). Im Maße der allgemeinen Beschleunigung virtualisierten sich immer mehr Bereiche des ökonomischen und politischen Lebens. Begann es damit, dass man die Lager evakuierte und unter dem Schlagwort der Just-in-time-Produktion die Güter auf die Landstraße verlagerte, spannte man darüber eine digitale Membran, welche die Echtzeit-Verfolgung und Lokalisierung der einzelnen Güter etablierte. Idealbild all dieser Lieferketten jedoch bildete der instantane Download, der die Ländergrenzen und die Materialität des Objekts überhaupt überwindet.
Der technischen Revolution folgte jedoch nicht die entsprechende geistige Erneuerung. Ganz im Gegenteil: Der Limbo-Logik der Aufmerksamkeitsökonomie folgend, begnügte man sich, die vertrauten Objekte immer preisgünstiger herzustellen, verwandte aber wenig Mühe darauf, sich in die symbolische Membran einzuarbeiten. Psychologisch verständlich, gewiss. Wer mag sich schon mit den Abgründen der objektorientierten Programmierung beschäftigen, noch dazu, wenn derlei auf eine narzisstische Kränkung hinauslaufen muss – die Erkenntnis, dass man in der Netzwerkgesellschaft nur mehr Dividuum sein kann? Gesamtgesellschaftlich freilich hat sich mit diesem Eskapismus ein Gestus kollektiver Blindheit etabliert. Wenn uns die Pandemie überrascht, so deswegen, weil sich die Netzwerkgesellschaft nur in abgespaltener, technischer Form realisiert hat – oder genauer: weil sie in den Maschinen, wie in einer Blackbox, verstummt ist. Mit einem solchen Vergessen gesegnet, konnte sich ein allgemeiner Konsumismus, geradezu eine Internationale der Konsumisten herausbilden. Ein neuer Typus von Massengesellschaft entstand: die virale Gesellschaft. Alles an ihr trägt eine digitale Signatur: Man kommuniziert transmedial, lichtgeschwind und peer-to-peer, vorbei an den Schleusenwärtern des guten Geschmacks. Anstatt jedoch mit der neuen symbolischen Ordnung eine neue, geistige Weltläufigkeit zu kultivieren, begnügt man sich umgekehrt damit, das Dorf – und damit die eigene Beschränktheit – zur Welt zu machen. Die kognitive Dissonanz zwischen einer hochgradig elaborierten Infrastruktur einerseits und einem zunehmend depravierten Geistesleben andererseits ist das Hauptcharakteristikum der viralen Gesellschaft. In ihr manifestiert sich das Paradox, dass man sich zwar der neuen Möglichkeiten bedient, aber nur, um mit einer Rolle rückwärts zum status quo ante zu finden, in eine Welt, die nur mehr als geistiges Heimatmuseum existiert. So besehen ist die pandemische Anfälligkeit der Netzwerkgesellschaft in den Shitstorms der sozialen Medien vorweggenommen, zeichnet sich der Zeitgeist durch einen stupenden Mangel an Geistesgegenwart aus.