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Braunschweig, Ostern Anno Domini 1655

Einen kleinen Zwischenfall allerdings musste es noch geben und den hatte ich meiner herzgeliebten Schwester zu verdanken.

Diese meine Schwester, die Hanne, wie wir sie nennen, also eigentlich Johanna, in Braunschweig verheiratet mit einem Kaufmann auf dem Altstadtmarkt, musste mir mein bequemes Leben unbedingt noch einmal ungemütlich machen.

Wie sie, die Tochter und Witwe eines Henkers, es geschafft hat, sich einen Kaufmann an Land zu ziehen, wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben. Aber sie hatte es geschafft und sorgte dafür, dass der schon sehr betagte Ehemann ihr ein Leben in Wohlstand und gesellschaftlicher Anerkennung verschaffte.

Sie war rührend um den alten Herrn bemüht und nutzte all ihre Kenntnisse als Henkerstochter, ihn so lange wie nur irgend möglich am Leben zu erhalten.

Er stellte ganz offensichtlich keine großen Ansprüche an sie als Bettgefährtin, und so waren es beide zufrieden und Hanne konnte sich, neben ihren Aufgaben als Hausfrau, jetzt auch noch um die Angelegenheiten ihres jüngsten Bruders bekümmern, nachdem der doch schon mal so schön in die Nähe gekommen war.

Es muss einige Zeit nach meinem Einzug in der Echternstraße gewesen sein, als Hanne feststellte, dass zu einem ordentlichen Haus auch eine ordentliche Frau gehört.

Es störte sie ganz empfindlich, dass ich offensichtlich wenig Neigung verspürte, mich wieder zu verheiraten. Um diesem Zustand ein Ende zu bereiten, hatte sie einen Plan ausgeheckt und ausgerechnet die alte Schädrig dazu gebracht, den zu unterstützen.

Kurz vor Ostern war das gewesen.

Ich hatte gerade eine unerfreuliche Reise hinter mich gebracht. Eine sehr unerfreuliche, um genau zu sein.

Was war ich froh, dass nun drei Tage ohne Verpflichtungen und nur zum Ausruhen vor mir lagen.

Rechtzeitig im Frühjahr war ich aufgebrochen, um die Abdeckereien, die ich jetzt noch zusätzlich zu betreuen hatte, abzureisen und nach dem Rechten zu sehen.

Die Straßen waren recht gut gewesen zu Beginn des Frühlings, es war schon warm geworden und wir kamen gut voran zunächst.

Meinen Großknecht, den Friedhelm, hatte ich mitgenommen auf die Inspektionsreise, denn der war schon bei Peter Brauns in Diensten gewesen und kannte sich bestens aus.

Die beiden Jungknechte durften ebenfalls mitfahren, einerseits um einen Eindruck zu bekommen, wie groß das Einzugsgebiet der Meisterei ist und andererseits, damit die Bauern in der Umgebung, bei denen sie in Zukunft das Vieh würden einsammeln und auf den Fillerkamp bringen müssen, wussten, mit wem sie es zu tun hatten.

Ich selber kannte im Grunde alle Bauern in der näheren und weiteren Umgebung durch meine Arbeit bei Brauns.

„In drei Wochen bin ich wieder da“, hatte ich angekündigt.

„Am Gründonnerstag dürft Ihr wieder mit mir rechnen und macht Euch keine Mühe, ich habe einen Schlüssel dabei und komme selber ins Haus. Seid so freundlich und verriegelt die Tür nicht von innen.

Und am Samstagabend halten wir das Ostermahl, ist es recht so, Frau Schädrig?“

Die hatte nur irgendetwas von „ist schon in Ordnung“ gebrummelt und wir waren aufgebrochen mit dem großen Gefährt, das ich für diese Fahrten über Land extra beschafft hatte.

Es lief ja auch ganz gut zunächst.

Das Wetter war wunderbar, die Vögel zwitscherten und man konnte den Frühling bereits riechen.

Die Bauern wurden besucht, die Abdeckereien im Umland inspiziert und schließlich die beiden Jungknechte in Melverode bei ihren Familien abgesetzt, wo sie, wie seit uralten Zeiten üblich, die Osterfeiertage verbringen würden.

Bei der Abfahrt waren ein paar Schneeflocken vom Himmel geweht und wir hatten noch gelacht und gescherzt, dass der Winter wohl immer noch nicht die Schnauze voll hat und noch ein paar letzte Flocken zum Abschied schicken muss.

Aber dann war es mehr geworden und immer mehr und hatte nicht mehr aufgehört zu schneien, bis alle Wege zugedeckt waren und zudem tief aufgeweicht, denn so richtig kalt wollte es nicht werden, eben gerade so, dass der Schnee sich halten konnte.

Der Friedhelm und ich hatten mehrfach absteigen und den Wagen anschieben müssen, bis wir irgendwann ziemlich erschöpft auf der Abdeckerei oben am Fillerkamp, zwischen Melverode und der Stadt, ankamen.

Dort hatten wir erst einmal ausgespannt und ein warmes Feuer gemacht, um dann den armen Zossen zu versorgen, der nach der ganzen Anstrengung schon ein wenig schlapp war.

„Wirst sehen, Friedhelm, morgen früh wachen wir auf und alles ist wieder in bester Ordnung. Wir haben Vollmond zur Zeit und danach kommen die Ostertage und da ist das Wetter immer freundlich gewesen bisher.“

Na ja, über das schmale Brett wollte der alte Knabe nicht gehen.

„Das seh ich noch nich“, drückte er sich zwischen seinen Zahnstummeln hervor.

„'s riecht nach Schnee und Frost auch und ich hab schon wieder das Reißen in den Gliedern.“

Irgendein Wehwehchen war immer zu beklagen. Das kannte ich schon.

„Am Ostersamstag kommst du zu mir, denn da macht die Frau Schädrig ein feines Essen.

Anschließend gehen wir zur Ostermesse und danach, da ist es vorbei mit Schnee und Eis und der Frühling wird kommen.“

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, musste ich leider feststellen, dass meine Vorhersagen nicht eingetroffen waren.

Es hatte offensichtlich die ganze Nacht geschneit und dazu ein scharfer Ostwind eingesetzt, der dafür sorgte, dass der gestern noch so weiche Schnee hart gefroren war und man die Wege nur noch mit Mühe passieren konnte.

Wir hatten trotzdem den Gaul eingespannt und mit Schieben und Drücken versucht, ihn einigermaßen auf dem Weg zu halten.

Der Freitag war darüber ins Land gegangen und als wir schließlich vor den Toren der Stadt ankamen, waren wir alle völlig fertig gewesen und der Gaul hatte teilweise den Dienst versagt.

Gerade konnten wir ihn noch in seine Unterkunft vor der Stadtmauer bewegen, wo er uns regelrecht zusammenbrach.

Nachdem das Tier mit Stroh abgerieben war und sich einigermaßen erholt hatte, wollte Friedhelm dann auch gerne in seine Kammer.

Er sei dem Herrn dankbar, dass er diese elende Reise überstanden habe, aber nun sei es genug.

„Gute Nacht, Meister. Ich verschwinde dann mal.“

Ich machte mich auf, durch den Schnee und das Michaelistor nach Hause zu stapfen, obwohl um die Zeit alle Tore längst verschlossen waren, was ich natürlich auch wusste.

„Vielleicht wäre es besser, Ihr würdet hier übernachten. Ich bin mir nicht sicher, dass Ihr jetzt noch eingelassen werdet.

Ihr wisst doch, wie die Stadtknechte sind. Mitleid kennen die nicht und auch kein Erbarmen und wenn unsereins zu spät zu den Mauern kommt, dann heißt es, pardon, aber hier ist schon geschlossen.“

„Red' keinen Unsinn, Friedhelm. Ich kenne die Männer von der Wache und habe noch nicht erlebt, dass sie mich nicht einlassen. Außerdem ist Karfreitag, der Tag des Herrn. Es wird schon werden.“

Davon war der Alte keineswegs überzeugt und schimpfte noch ein bisschen über unchristliche Torhüter.

„Wenn es gar nicht werden will, Ihr wisst ja wo Ihr bleiben könnt“, und damit war er verschwunden.

Ich kämpfte mich durch den tiefen Schnee auf das kleine Michaelistor zu, das völlig verwaist von dichten Flocken umweht düster den Weg in die Stadt versperrte.

Von den Wachmännern war nichts zu sehen.

Ich musste erst ein paar Mal sehr kräftig gegen die Tür hämmern, bis endlich ein mürrischer und auch reichlich verschlafener Mann angeschlurft kam und sehr unwirsch durch das kleine Sichtfenster fragte, was ich um diese Zeit hier noch zu suchen hätte.

„Johann!“ brüllte ich das stoppelbärtige, nach Fusel stinkende Gesicht in dem Fensterchen an, das darauf erschreckt zurückzuckte.

„Du pennst auf der Wacht? Und säufst noch dazu? Du hast wohl zu viel Geld, dass du dir das leisten kannst, was? Brauchst wohl deine Arbeit nicht mehr?

Sitzt du vielleicht lieber in Zukunft mit dem Schälchen vorm Dom? Weißt du nicht, was auf Wachverstoß steht?

Hand ab oder Augen ausstechen! Kannste bei mir beides gratis haben! Sieh zu, dass du dein verdammtes Tor aufkriegst und mich reinlässt. Und beweg dich, is' kalt hier draußen!“

Johann wurde sehr lebendig, als ihm klar wurde, wer da vor ihm stand und seine Hand zitterte nicht wenig, mit der er versuchte, den schweren Riegel wegzuschieben.

Mittlerweile waren seine Mitwächter offensichtlich auch munter geworden und eilten zu Hilfe, so dass ich schon wenige Augenblicke später in den geschützten Durchgang treten konnte.

„Na Leute? Is' kalt heute, was?

Da brauchts wohl einen wärmenden Schluck und schon fallen einem die Augen zu, hm? Nun ja, wolln mal nich so sein. Seid froh, dass ich es nur bin.

Hier, da habter noch was gegen die Kälte und beim nächsten Mal, da passter besser auf, verstanden?“

Ich drückte dem zitternden Johann eine Tonflasche, gefüllt mit Branntwein, in den Arm.

„Nimm hin. Hat mir die Witwe Hansen aus Mascherode mitgegeben. Hat se noch aus den Beständen ihres verstorbenen Mannes. Soll man ja nich umkommen lassen, oder?

Macht euch warme Gedanken, Männer, und sauft nicht so viel. Und dass ihr mir nachher anständig bei den Mädchen seid. Ich will keine Klagen hören, verstanden?“

„Na klar doch, Meister. Habt ihr über uns schon mal Klagen gehört? Wir wissen doch, was sich gehört.“

Die Männer freuten sich über die Flasche, die sie gleich hinten in der Wachstube köpfen würden und später, wenn die Ablösung gekommen war, konnten sie noch kurz im Kloster reinschauen, wie sie es stets taten nach einer langen Nacht.

Die Mädchen dort sind nett und man kann gut mit ihnen plaudern oder auch noch mal kurz auf das Zimmer verschwinden. Die Männer von der Wache gehen gerne hin und benehmen sich wirklich anständig, wollen sie doch mit mir, der ich die Damen zu überwachen habe, keinen Ärger haben.

Sie wissen schon, dass ich normalerweise ein umgänglicher Mensch bin, meistens jedenfalls, aber wenn ich böse werde, dann hat man keinen Spaß mehr mit mir. Wenn es sein muss, kann ich schon recht finster dreinschauen, auch wenn mein Schwiegervater immer gemeint hat, ich sei ein rechtes Weichei.

„Einen guten Weg, Meister! Kommt gut nach Hause!“, riefen sie mir zu, als ich mich verabschiedete, um die kurze Strecke zu meinem Haus zurückzulegen.

Sie zogen sich in ihre Wachstube zurück, während ich um die Ecke der Echternstraße bog, als es gerade elf Mal von Michaelis her schlug.

„Verdammt! Schon so spät!“, schimpfte ich vor mich hin, war ich doch rechtschaffen müde und freute mich auf meine warme Stube.

Im Gehen hatte ich schon meinen Schlüssel aus der Tasche gezogen und hoffte inständig, dass Frau Schädrig sich an meine Anweisungen gehalten und die Tür nicht von innen verriegelt hatte.

Das Schneetreiben war noch schlimmer geworden, so dass ich buchstäblich die Hand vor den Augen nicht mehr sehen konnte.

Vor dem Haus angekommen versuchte ich, in der Dunkelheit den Schlüssel in das Schloss zu bekommen und stellte mich dazu mit dem Rücken in Richtung Michaeliskirche.

Leider hatte das zur Folge, dass der scharfe Ostwind mir die verdammten Flocken jetzt direkt und ziemlich heftig genau in die Augen blies.

So ging es auch nicht. Ich fluchte.

Die letzten Tage waren doch nun wirklich anstrengend genug gewesen, da brauchte es dieses Gefummel hier an der Haustür wirklich nicht mehr.

„Darf man fragen, was Ihr hier treibt vor einem fremden Haus?“

Die Stimme kam von hinten und ich drehte mich so ruckartig herum, dass der verdammte Schlüssel in hohem Bogen in den Schnee fiel.

Auch das noch.

Zwei Schritte von mir entfernt und schon in Angriffshaltung stand der alte Heinrich Leue, unser Nachtwächter, die Laterne hoch erhoben in der linken Hand und in der rechten einen dicken Knüppel, den er ebenfalls bereits in die Höhe gehoben hatte, jederzeit bereit, damit zuzuschlagen.

„Menschenskind, Hinner, bist du verrrückt? Musst du mich so erschrecken? Was soll das? Wieso schleichst du dich von hinten an und hast schon den Knüppel in der Hand? Komm lieber mal rüber hier und halte deine Laterne hin.“

„Herr Pfeffer, Ihr seid das!“

Heinrich war sichtlich erleichtert.

Mich kannte er und er wusste, vor mir musste man keine Angst haben, jedenfalls normalerweise nicht.

„Ich habe Euch nicht erkannt! Ich dachte, da ist irgend ein übler Geselle, der versucht, in Euer Haus einzudringen.

Nehmt es mir nicht übel, aber es ist schon ein wenig merkwürdig, dass Ihr vor Eurem eigenen Hause steht und am Schloss herumfummelt und dabei schimpft wie ein Rohrspatz. Warum klopft Ihr nicht einfach, damit Euch aufgemacht wird?“

„Du hast ja Recht, Alter, aber es ist nun einmal so, dass ich gerade erst nach Hause gekommen bin und ich hatte extra angekündigt, Gründonnerstag bin ich wieder da, aber es kann spät werden und keiner muss auf mich warten.

Und jetzt haben wir schon Karfreitag und es ist elf Uhr durch.

Du weißt doch, wie die Schädrig ist. Die wird sowieso schon sauer sein, dass ich einen Tag später komme und dann noch mitten in der Nacht. Ich hatte extra noch gesagt, sie soll die Tür nicht verriegeln.

Und jetzt stehe ich hier und man sieht die Hand vor den Augen nicht. Und der elende Schlüssel liegt jetzt irgendwo da vorne im Schnee.

Kannst du mir mal erzählen, wie ich den jetzt wiederfinden soll? Los, komm her hier und halte die Laterne hin, damit ich wenigstens ein bisschen was sehen kann.

Das ist aber auch ein Scheißwetter, entschuldige das Wort.“

Heinrich, von mir stets „Hinner“ genannt, hielt seine Laterne über den Gehsteig vor dem Haus und versuchte angestrengt, irgendetwas zu erkennen, das nach einem Schlüssel aussah.

„Vielleicht solltet Ihr doch lieber klopfen, Herr Pfeffer, sonst verbringen wir noch die ganze Nacht hier draußen.“

„Das könnte dir so passen, was? Erst erschreckst du mich zu Tode und dann meinst du, du könntest dich einfach verpissen und mich dem Zorn der Schädrig ausliefern. Nichts da, du bleibst hier, bis wir dieses verdammte Ding gefunden haben.“

Heinrich griente bei meinen Worten. Wahrscheinlich freute es ihn, dass er, der Nachtwächter, den Braunschweiger Henker zu Tode erschreckt haben sollte.

Hinner, Gott hab ihn selig, war auch nicht mehr der Jüngste zu der Zeit und es fiel ihm zunehmend schwer, die Stimme so zu erheben, dass sie wenigstens bis zur nächsten Straßenecke reichte.

An dem Tag, das weiß ich noch, war es besonders schlimm. Er war heiser, was bei der Kälte kein Wunder war. Aber andererseits war es auch nicht so wichtig, dass man seine Stimme hören konnte, so lange er noch nachts durch die düsteren Straßen der alten Stadt gehen und nach dem Rechten sehen konnte.

Das schaffte er noch, obwohl er doch schon auf die Siebzig zuging und manch anderer in seinem Alter sich schon längst hinter dem warmen Ofen verkrochen hätte.

Er hat es mir erzählt, irgendwann, als er mir ganz besonders Leid tat, wie er da durch die dunklen, kalten Straßen stiefeln musste und ich ihn nach einer Nacht, die ich durchgearbeitet hatte, zu einem heißen Wein am Morgen eingeladen habe.

Wenn Heinrich hätte wählen können, wäre er vielleicht auch gern hinter einem warmen Ofen verschwunden, aber leider gab es niemanden, der ihm ein solches Plätzchen angeboten hätte.

Seine Frau war schon vor vielen Jahren gestorben, sein einziger Sohn war zu den Soldaten gegangen und man hatte nie wieder etwas von ihm gehört. Heinrich musste zusehen, dass er alleine über die Runden kam und das schaffte er, wenn auch manchmal eher schlecht als recht.

Er bewohnte eine kleine Stube im Haus der Witwe Behrend oben am Südklint, gleich schräg gegenüber dem Armenhaus. Der alte Behrend war Schumacher gewesen und hatte seine Werkstatt im Erdgeschoss des Hauses gehabt.

Gleich daneben gab es eine kleine Kammer für den Lehrjungen, die die Witwe Behrend jetzt an Heinrich Leue vermietete. Viel Platz war darin nicht, aber für ein Bett und einen schon etwas wackeligen Stuhl reichte es. Dafür war die Miete gering und so reichte das wenige Geld, das der Rat der Stadt Braunschweig für seine Nachtwächter auszugeben bereit ist, noch gerade für ein bescheidenes Essen und etwas Kautabak.

Heinrich war's zufrieden, was wäre ihm auch anderes übrig geblieben. So lange er noch krauchen konnte, würde er nachts durch die Straßen ziehen, egal ob Winter oder Sommer, Hitze oder Kälte.

Das war immer noch besser als in das Haus gegenüber einzuziehen, in dem sich so genannte „gute Frauen“ um die armen Alten kümmerten. Heinrich sah sie jeden Tag, die elenden Gestalten, die jeden Morgen um sechs Uhr von ihren Schlafstätten gescheucht und zum Gebet geschleppt wurden, um anschließend mit dem bisschen Kraft, die ihnen am Ende des Lebens geblieben war, im Garten zu werkeln oder sich sonstwie nützlich zu machen.

Zwei Mal am Tag bekamen sie eine heiße Suppe, die aus dem Gemüse gekocht wurde, das wohlmeinende Menschen jeden Tag körbeweise in dem Haus ablieferten.

Wegen der Suppe allerdings ging Heinrich schon gern mal hinüber, denn immer nur von altbackenem Brot zu leben, machte auf Dauer ja auch keine Freude. Diese Einrichtung für Bedürftige, die jeden Tag ein Mal in die Suppenküche kommen durften, schätzte er schon sehr. Aber dort wohnen? Bloß nicht.

Er hatte mir erzählt von den großen Schlafsäälen, wo Liege an Liege steht und man sich die ganze Nacht das Gegrunze und Geschnarche der Mitbewohner anhören muss. Und dieses ewige Gebete! Morgens, mittags, abends. Immerzu wurde gebetet und dem Herrgott gedankt, dass es noch so gute Menschen auf der Welt gibt, die kostenlos das Gemüse bereit stellen und hin und wieder auch mal ein paar Knochen, die der Suppe wenigstens ein bisschen Geschmack geben. Ansonsten aber hatten die guten Frauen recht lange Haare auf den Zähnen und wehe dem, der sich dabei erwischen ließ, mit Kautabak im Mund angetroffen zu werden. Da konnten sie aber ungemütlich werden, die guten Frauen vom Armenhaus.

Heinrich wusste auch das, denn sein Freund, der alte Harm, der selber noch bis vor zwei Jahren mit der Laterne durch die Nacht gezogen war, der wohnte dort und ab und zu steckte Heinrich ihm einen kleinen Klumpen Tabak zu.

„Den werde ich nachher heimlich kauen, wenn sie alle in der Kirche sind. Ich stelle mich immer ganz hinten hin und wenn alle beschäftigt sind, schleiche ich mich raus und tue so, als müsste ich pinkeln“, hatte Harm ihm kichernd anvertraut.

„Aber ein Mal, da hat mich eine erwischt. Die war misstrauisch geworden und wollte sehen, ob ich etwa auf den Kirchhof pinkele und da sieht sie mich schön gemütlich auf der Bank sitzen und einen kleinen Priem kauen. Na, was glaubst du wohl, was die für ein Theater gemacht hat.

Ich konnte noch froh sein, dass die mich nicht hochkantig rausgeschmissen haben. Seitdem muss ich ein paar Reihen weiter vorne stehen, damit sie mich besser „im Blick haben“, wie sie das nennen.

Aber ich krieg das schon hin. Mir wird schon was einfallen, wie ich den Damen ein Schnippchen schlage.“

Harm hatte den kleinen braunen Klumpen in seine Tasche geschoben und sie hatten von alten Zeiten und von Leuten geredet, die längst nicht mehr auf der Welt waren.

„Warte ab, Heinrich, eines Tages liegst du auch da auf einem unserer Gestelle, das wird dir nicht erspart bleiben. Außer, du krepierst rechtzeitig.“

Sie hatten beide gelacht, die alten Männer, und Heinrich hatte beschlossen, so lange seine nächtlichen Runden zu drehen, wie es ihm eben nur möglich sein würde, und darauf zu achten, dass sich nachts kein Gesindel in den Straßen herumtrieb.

So wie jetzt an dem großen Haus in der Echternstraße, wo er mich erwischt und sonstwas gedacht hatte, wer da wohl an der Tür zugange war.

Hinner hatte seine Laterne hochgehalten und gemeinsam hatten wir den Weg abgesucht, bis ich endlich den verdammten Schlüssel in der Hand hielt.

„Na also, geht doch. So, jetzt halt mal deine Funzel ein bisschen höher, damit ich endlich in mein Haus komme und du weiter deine Runden drehen kannst.“

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