Loe raamatut: «Bernhard Häring»
MARTIN LEITGÖB
BERNHARD HÄRING
KIRCHE IM ZEICHEN DER BARMHERZIGKEIT
Band 9 der Reihe „Spiritualität und Seelsorge“, die von P. Martin Leitgöb und P. Hans Schalk im Auftrag der Ordensgemeinschaft der Redemptoristen herausgegeben wird.
Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“
2015
© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlaggestaltung und Layout: Tyrolia-Verlag
Foto: Archiv Tyrolia-Verlag
Druck und Bindung: FINIDR (CZ)
ISBN 978-3-7022-3478-2 (gedrucktes Buch)
ISBN 978-3-7022-3501-7 (E-Book)
E-Mail: buchverlag@tyrolia.at
Internet: www.tyrolia-verlag.at
INHALT
EINFÜHRUNG
BIOGRAPHISCHE PERSPEKTIVEN
Familiäre Herkunft
Ordensberufung
Kriegserfahrungen
Erneuerung der Moraltheologie
Das Zweite Vatikanische Konzil
Auseinandersetzungen
Krankheit und Lebensabend
THEOLOGISCHE HAUPTAUGENMERKE
Christozentrisch
Am Menschen orientiert
Biblisch fundiert
Ökumenisch offen
KIRCHE IM ZEICHEN DER BARMHERZIGKEIT
Was liegt Jesus am Herzen?
Konkretisierung des Liebesgebots
Barmherzigkeit nach Alfons von Liguori
Heilswissen vor Herrschaftswissen
Eucharistie: Sakrament der Barmherzigkeit
Priestersein und Barmherzigkeit
Menschlicher Umgang mit Normen
Flexible Anwendung des Kirchenrechts
LEBENSWIRKLICHKEIT EHE UND FAMILIE
Die Ehe als Liebesbund
Verantwortete Elternschaft
Ehe- und Familienpastoral
Heilssorge an den Geschiedenen
SCHLUSSWORT
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Gewidmet dem Gedenken
an meinen Vater Franz
EINFÜHRUNG
Es ist höchste Zeit, an Pater Bernhard Häring zu erinnern. Er droht nämlich in Vergessenheit zu geraten, und das wäre schade. Dabei war der aus der Ordensgemeinschaft der Redemptoristen stammende, 1998 verstorbene Geistliche einer der maßgeblichen Erneuerer der Theologie im 20. Jahrhundert, nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern international. Für das Fach Moraltheologie bedeutete er zu seiner Zeit ähnlich viel wie zum Beispiel der Jesuitenpater Karl Rahner für die Fundamentaltheologie. Wie dieser gehörte auch Häring zu den bedeutendsten theologischen Beratern des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965). Vor allem auf die Pastoralkonstitution des Konzils, das berühmte Dokument „Gaudium et spes“, hatte er großen Einfluss.
Theologische Erneuerung hieß für Häring, Rahner und viele andere nicht ein Neuerfinden von Gott und Kirche – wie denn auch? –, aber ein Neudenken und ein neues Erfahrbarmachen vor dem Hintergrund einer veränderten und stets weiter sich verändernden Welt. Mit dem Begriff „Aggiornamento“ (Verheutigung) hatte der Konzilspapst Johannes XXIII. die Überschrift zu diesen Bemühungen gegeben. Andererseits war die Erneuerung aber auch eine Reform im Sinne einer Rückführung der christlichen Theorie und Praxis aus manchen Deformierungen hin auf die ursprünglichen Inhalte und auf die wesenhafte Gestalt. Oder anders formuliert: Man versuchte die Quelle des theologischen Denkens und des kirchlichen Lebens wieder besser freizulegen, um aus ihr das kostbare Wasser für den Glauben und für das Leben schöpfen zu können. Häring ging es in diesem Sinne stets um eine Erneuerung aus dem Geiste Jesu Christi und dessen frohmachender Botschaft.
Die Zeit, an den vielfach vergessenen Moraltheologen zu erinnern, ist gegenwärtig günstig. Man kann geradezu von einem „Kairos“ sprechen, also einem rechten Zeitpunkt, der nicht ungenützt verstreichen darf. Warum? Zum einen, weil mit Papst Franziskus die kirchliche Großwetterlage doch deutlich anders geworden ist. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass Häring, würde er heute noch leben, ein Theologe ganz im Sinne dieses Papstes wäre. Und umgekehrt: Franziskus ist ein Papst im Sinne von Bernhard Häring. Schon die Wahl eines Südamerikaners zum Petrusnachfolger und damit das endgültige Aufbrechen des kirchlichen Eurozentrismus hätten dem Moraltheologen Freude bereitet, mehr aber noch die Reformimpulse, die von diesem Papst ausgehen. Auch der neue Stil in der Ausübung des obersten kirchlichen Hirtenamtes hätte ihm zugesagt, unter anderem die von Herzen kommende Sprache des Papstes, seine unmittelbare, zugewandte Art der Begegnung und die persönliche Bescheidenheit ohne amtliche Allüren.
Häring forderte gerade in seinen späten Jahren umfassende kirchliche Reformen ein. Er beklagte, dass die Erneuerung des Konzils eine bloß halbherzige Umsetzung gefunden habe, und wünschte sich mehr Mut und Offenherzigkeit gerade auf der kirchlichen Leitungsebene, nicht zuletzt ganz an deren Spitze und von ihr aus. Die Hoffnung, welche er mit umfassenden Reformen verband, bestand darin, dass sich dadurch eine neue Dynamik für die Ausbreitung des Evangeliums entfaltet und dass die Kirche wieder besser ihrem Auftrag gerecht wird, bei den Menschen zu sein und ihnen Gottes Heil zu vermitteln – ganz so, wie dies auch Papst Franziskus immer wieder betont und vorlebt. Dass zwischen den beiden eine gemeinsame Wellenlänge besteht, zeigt nicht zuletzt der Begriff „Barmherzigkeit“, der zu einem besonderen Schlüsselwort des gegenwärtigen Pontifikates geworden ist, zugleich aber auch zu den wesentlichen Inhalten der Theologie Bernhard Härings gehört. Papst Franziskus hat es unter anderem zu seinem Anliegen gemacht, das Jahr 2016 als „Heiliges Jahr der Barmherzigkeit“ zu feiern. Dies ist ein zweiter Grund dafür, warum gerade jetzt der richtige Zeitpunkt für eine Publikation über Häring erreicht ist.
Und drittens: In der kirchlichen Gegenwart stehen Ehe und Familie wieder einmal im Brennpunkt der theologischen und seelsorglichen Aufmerksamkeit, wofür ebenfalls Papst Franziskus durch die Einberufung einer außerordentlichen (2014) und einer ordentlichen Bischofssynode (2015) den Ausschlag gab. Häring beschäftigte sich als Moraltheologe gerade mit diesem Thema in intensiver Weise, unter anderem auch mit der Frage des kirchlichen Verhaltens gegenüber Geschieden-Wiederverheirateten. So ist es von Interesse, seine Lösungsansätze für dieses und manch anderes Problem im Bereich Ehe und Familie kennenzulernen.
Viele, die den berühmten Moraltheologen zu seinen Lebzeiten gekannt haben, erzählen bis heute von seinem gütigen, einfühlsamen Charakter und von seiner prophetischen Kraft. Er wird auch als ein sehr disziplinierter Mensch beschrieben. Häring war ein fleißiger Professor in Lehre und Wissenschaft. Sein Wirkungsradius umfasste durch ausgedehnte Vortragstätigkeit und in viele Sprachen übersetzte Publikationen die ganze Welt. Bei all seiner Berühmtheit blieb er aber persönlich anspruchslos und offen für den Kontakt mit einfachen Menschen. Als Angehöriger der Ordensgemeinschaft der Redemptoristen war er tief verankert in der Spiritualität der Erlösung des heiligen Alfons von Liguori. Und er war zeit seines Lebens ein echter Seelsorger. Beeindruckt hat Bernhard Häring viele Menschen auch durch seinen tapferen Umgang mit seiner schweren Krebserkrankung. Dass er sich durch diese Krankheit wie auch durch ein gegen ihn geführtes Lehrverfahren bei der vatikanischen Glaubenskongregation nicht entmutigen ließ, gehört zu den großen Prägemerkmalen seiner letzten Lebensjahrzehnte. Das Titelbild des vorliegenden Buches zeigt den Moraltheologen etwa zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils, welches er selbst gerne als den Höhepunkt seines Lebens bezeichnete.
Leider hatte ich, der Autor dieses Buches, nicht mehr das Glück, Bernhard Häring persönlich zu kennen. Doch seit den Tagen meines Theologiestudiums in den 1990er-Jahren begegnete mir sein theologisches Werk immer wieder. Richtig zu interessieren begann ich mich für ihn, nachdem ich selbst in die Ordensgemeinschaft der Redemptoristen eingetreten war. Viele meiner Mitbrüder haben mir ausführlich über den berühmten Mann aus unseren Reihen erzählt. Nicht wenig davon ist in den Text eingeflossen, auch wenn ich selbstverständlich versucht habe, mir mein eigenes Bild zu machen.
Geschrieben ist dieses Buch nicht in erster Linie für Fachtheologen, wiewohl ich hoffe, dass es auch diese mit Gewinn lesen. Es widmet sich vielmehr einem breiten Kreis von Interessierten im Rahmen der Kirche und möglicherweise auch außerhalb. Es geht mir darum, verschiedene Impulse und Anregungen aus der Theologie Härings so zu beleuchten, dass sie für das kirchliche und christliche Leben der Gegenwart hilfreich werden. Dass dabei auch einzelne Themen vernachlässigt werden müssen, selbst wenn sie bei Häring breiten Raum eingenommen haben, liegt auf der Hand. Ich möchte keinen Gesamtüberblick über sein Denken und keine detaillierte Werkanalyse vorlegen, sondern Einblicke eröffnen. Es geht letztlich darum, den Menschen, Ordensmann, Priester und Theologen etwas näher kennenzulernen.
Herzlich möchte ich mich an dieser Stelle bei drei Personen bedanken. An erster Stelle bei Franz Wenhardt, dem Bibliothekar des „Häring-Klosters“ Gars am Inn, für die vielfach erfahrene Hilfsbereitschaft und dafür, dass er das wissenschaftliche Erbe Härings so umsichtig pflegt. In seiner Bibliothek umfasst die dem Moraltheologen gewidmete Abteilung mit verschiedenen Ausgaben, Auflagen und Übersetzungen über acht Laufmeter. Außerdem gilt es, Mag. Brunhilde Steger als Lektorin des Verlags Tyrolia zu danken. Sie ist eine kompetente, ermutigende, geduldige, aber auch kritische Gesprächspartnerin – für dieses Buch genauso wie für die ganze Schriftenreihe „Spiritualität und Seelsorge“, die ich zusammen mit P. Hans Schalk herausgebe. Auch diesem möchte ich für zahlreiche Anregungen danken. Als Häring-Schüler wusste er einiges zu erzählen.
Dieses Buch möchte ein kleiner Beitrag zum von Papst Franziskus ausgerufenen „Heiligen Jahr der Barmherzigkeit“, aber auch zum Fünfzig-Jahr-Jubiläum des Abschlusses des Zweiten Vatikanischen Konzils sein.
P. Martin Leitgöb CSsR
Prag, am 4. Oktober 2015
(Fest des heiligen Franz von Assisi)
BIOGRAPHISCHE PERSPEKTIVEN
Dass Leben und Glauben, Biographie und Theologie eng zusammenhängen, ist evident. Bernhard Häring verwies öfters auf das gegenseitige Bedingungsverhältnis dieser Wirklichkeiten. So soll an erster Stelle ein Blick auf verschiedene prägende Etappen seines Lebens geworfen werden. Dieses Unterfangen dient nicht in erster Linie dazu, seinen biographischen Werdegang detailreich chronologisch nachzuzeichnen, sondern ihn als Menschen in seiner Geistigkeit und Geistlichkeit, in seinem Charakter und in seiner Wirkungskraft kennenzulernen. Das Geheimnis einer Persönlichkeit lässt sich nie zur Gänze erkennen, doch man kann sich ihm mit einiger Einfühlungskraft annähern. Bei Häring kommt uns zugute, dass er vor allem in seinen letzten Lebensjahrzehnten immer wieder bereit war, über sein Leben zu erzählen und zu schreiben. Am umfassendsten tat er dies in seiner Autobiographie „Geborgen und frei. Mein Leben“, die ein Jahr vor seinem Tod erschien. Auch das bereits mehrere Jahre zuvor unter dem Titel „Meine Erfahrung mit der Kirche“ publizierte Interview des italienischen Journalisten Gianni Licheri mit dem Moraltheologen enthält reichlich autobiographisches Material.
FAMILIÄRE HERKUNFT
Nicht jedem Menschen ist es vergönnt, eine Kindheit gehabt zu haben, auf die er vorbehaltlos gerne zurückblickt. Bernhard Häring war eine solche Kindheit beschieden. 1912 im württembergischen Böttingen geboren, wuchs er in einer bäuerlichen Familie auf, die für damalige Verhältnisse wohlhabend war. Er war das vorletzte von insgesamt zwölf Kindern seiner Eltern. Der Vater war in der Zentrumspartei und damit im politischen Katholizismus der Zwischenkriegszeit engagiert. Er war außerdem ein standesbewusster Bauer, geachtet im ganzen Ort. Von Natur aus aufbrausend und durchaus streng, wurde er von der Mutter besänftigt. Diese war eine gütige und liebevolle Frau, die ein weites Herz für arme und benachteiligte Menschen hatte. Seine Eltern führten, so berichtet Häring, eine partnerschaftliche Ehe, die von Liebe füreinander und für die Kinder geprägt war. Harte Bestrafungen erlebte er in seinem Elternhaus nicht. Wenn der aufgeweckte, zu allerlei Abenteuern bereite Knabe von seiner Mutter getadelt wurde, dann nie ohne ein ermunterndes Wort. So wuchs er in ein Vertrauen hinein, welches lebenslange positive Auswirkungen auf sein Verhältnis zu Gott und zu den Menschen haben sollte.
In der Familie herrschte eine gesunde Frömmigkeit, frei von jeder Frömmelei. Das gemeinsame Gebet zuhause und der regelmäßige Kirchgang, auch wochentags, waren eine Selbstverständlichkeit. Fünf Schwestern wurden Ordensfrauen. Eine wichtige Rolle spielte auch in diesem Zusammenhang die Mutter, welche der Vater im Rückblick auf sein eigenes Leben einmal mit den Worten charakterisierte, sie sei für ihn „das lebendige Evangelium“ gewesen.1 Ein gutes Verhältnis hatte Häring außerdem zu seinen Geschwistern. Einer älteren Schwester, die für ihn die Rolle einer Kindsmagd wahrnahm, bekannte er am Tag seiner Erstkommunion, dass er ein Heiliger werden wolle. „Warum denn nicht?“, soll deren Antwort gewesen sein.2 Wiederum also die Erfahrung von Ermutigung und Vertrauen.
Als sich der Jugendliche dann später für den Eintritt in eine Ordensgemeinschaft interessierte, hatte er seitens seiner Familie mit keinen Widerständen zu rechnen. Das Gymnasium absolvierte er fern seiner engeren Heimat bei den Redemptoristen in Gars am Inn und später in Günzburg. Als er vor seinem Eintritt ins Noviziat der Redemptoristen in Deggendorf von seinem Vater zur Bahn gebracht wurde, sagte ihm dieser: „Wie immer du dich entscheidest, ist es uns recht. Wenn du zu uns zurückkehrst, bist du auch willkommen. Und wenn du wieder den schon einmal geäußerten Gedanken aufgreifen solltest, Medizin zu studieren, so werden wir dir dabei gerne behilflich sein.“3 Bernhard Häring hat in der späteren Reflexion seines Lebens gerne von einem „Vorschuss des Vertrauens“ gesprochen, der ihm durch seine Familie zuteilgeworden sei. Dieser Vertrauensvorschuss war ihm eine wichtige Verstehenshilfe für die Gnade Gottes, die allem menschlichen Wirken zuvorkommt. Damit war bereits in frühen Jahren ein wichtiges theologisches Fundament gelegt.4
ORDENSBERUFUNG
Die vage Überlegung, unter Umständen Medizin studieren zu wollen, legte Häring im Noviziat 1933/34 zur Seite. Die Überzeugung, zum Ordens- und Priesterleben berufen zu sein, war stärker. Dabei gestand er später, es sei ihm durchaus schwergefallen, auf Ehe und Familie zu verzichten. Zu positiv waren seine Erfahrungen aus der eigenen familiären Herkunft. Dass er sich dann doch für den geistlichen Beruf entschied, hing mit der Erkenntnis zusammen, dass die Welt nichts dringender als Verkündiger des Evangeliums brauche, am besten in fernen Weltgegenden. Als Gymnasialschüler imponierten ihm vor allem die Missionsabenteurer der Kirchengeschichte, zum Beispiel die beiden großen Asienmissionare aus dem Jesuitenorden, Matteo Ricci und Franz Xaver.
Häring hatte eine Zeit lang daran gedacht, in diesen Orden einzutreten. Aufgrund seiner Begabung bestand allerdings die Gefahr, dass er von den Jesuiten für eine akademische Laufbahn als Hochschulprofessor bestimmt worden wäre. Gerade das wollte er unbedingt vermeiden. Der Obere der süddeutschen Redemptoristen-Provinz dagegen deutete ihm an, dass in seiner Ordensgemeinschaft einer Entsendung als Missionar nichts im Wege stünde. Vor allem nach Brasilien entsandten die süddeutschen Redemptoristen damals laufend Patres. Häring solle sich, so wurde ihm beschieden, auf einen Einsatz in diesem Land einstellen und sich schon einmal auf die dortige Sprache und Kultur vorbereiten. Zunächst standen aber die philosophischen und theologischen Studien im Vordergrund, die an den ordenseigenen Hochschulen in Rothenfeld und Gars am Inn erfolgten. Der Student widmete sich allen Disziplinen gern, nur gegen die Moraltheologie empfand er eine Abneigung, oder vielmehr gegen die Art, wie sie damals gelehrt wurde.
Wie an den meisten anderen theologischen Lehranstalten jener Zeit wurde auch bei den Redemptoristen eine verrechtlichte und kasuistische Moral vorgetragen. Es war eine Lehre vom sittlichen Handeln, welche sich mehr oder weniger an einzelnen sittlichen Fällen (lateinisch: „casus“ – von daher „kasuistisch“) abarbeitete und diese in ein System von Geboten und Verboten einpasste. Häring empfand dies umso problematischer, als er sich außerhalb der Vorlesungen mit den vitalen moraltheologischen Entwürfen von Johann Michael Sailer und Johann Baptist Hirscher aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigte. Auch das 1934 herausgekommene „Handbuch der Katholischen Sittenlehre“ von Fritz Tillmann erschien ihm aufgrund seiner christozentrischen und situationsethischen Akzente als wegweisend. Doch nichts davon floss in den Studienbetrieb an der Ordenshochschule ein. Häring wollte aufgrund dieser Erfahrungen wirklich nicht Professor und auf gar keinen Fall Professor für Moraltheologie werden. Es sollte aber anders kommen.
Einige Monate nach seiner Priesterweihe, im Sommer 1939, bestimmte der Obere der Ordensprovinz, dass sich der vielversprechende junge Redemptorist durch ein Spezialstudium für eine spätere Lehrtätigkeit in Gars am Inn vorzubereiten habe. Das Professorenkollegium hatte sich gegen die Entsendung nach Brasilien quergelegt. Widerstand war zwecklos. Häring hatte bei seiner Ordensprofess das Gelübde des Gehorsams abgelegt. Als Begründung für die neue Aufgabenstellung ließ man ihn wissen: „Wir erwarten, dass Sie sich für eine gründliche Erneuerung der Moral einsetzen.“5 Das Fach Moraltheologie war in der Ordensgemeinschaft der Redemptoristen seit den Tagen des Gründers Alfons von Liguori sozusagen die Königsdisziplin. Mit der Auswahl des begabten Studenten Häring wollten die Vorgesetzten mit großem Weitblick diesem Fach wieder ein starkes Profil geben. Und dieser nahm die Aufgabe auf sich. Letztlich wurde er auch auf diese Weise zum Missionar, allerdings anders, als ursprünglich gedacht. Zunächst war das Vorhaben aber durch den Zweiten Weltkrieg gehemmt.
KRIEGSERFAHRUNGEN
Wie für viele Männer jungen und mittleren Alters bedeutete der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auch für unseren Protagonisten einen harschen Einschnitt, der die Umsetzung von Plänen und Lebensentwürfen auf Jahre hinaus unterbrach. Wer das Glück hatte, aus dem Krieg wieder in das normale Leben zurückkehren zu können, hatte schwerwiegende existentielle Erfahrungen im Gepäck, die nicht ohne Auswirkung auf das weitere Denken, Fühlen und Handeln bleiben konnten. Bernhard Häring reflektierte in seinem späteren Leben diese Erfahrungen in mehreren Veröffentlichungen, am ausführlichsten in seinem Buch „Als es ums Überleben ging. Kriegserinnerungen eines Priesters“.
Im Herbst 1939 hatte der Redemptoristenpater zur ersten Gruppe von Geistlichen gehört, die vom nationalsozialistischen Regime zum Kriegseinsatz verpflichtet wurden. Er wurde für den Sanitätsdienst ausgebildet, um später zunächst in Frankreich und dann vor allem im Osten, in Polen und Russland, an der Front zu stehen. Häring war bis zum Kriegsende Soldat, nur zwischen Januar und Juli 1940 hatte er eine Freistellung, aufgrund welcher er bereits zu dieser Zeit in Gars am Inn Vorlesungen gab. Ansonsten erlebte und erlitt er den Krieg aber in seiner ganzen Brutalität. Er war dabei, als Soldaten von einem Augenblick auf den anderen aus ihrem Leben gerissen wurden oder in erbärmlicher Weise ihren Verletzungen erlagen. Er musste mit ansehen, wie durch grauenhafte Übergriffe auf die Zivilbevölkerung die grundlegendsten Gesetze der Humanität gebrochen wurden. Er blickte auch seinem eigenen Tod mehrmals ins Auge, besonders bei einer schweren Granatverletzung, die ihn im Mai 1942 ereilte.
Zu Härings Kriegserfahrungen gehörte aber auf der anderen Seite auch das Gute, welches inmitten von dunklen Ereignissen oft plötzlich und unvermittelt erscheint. Als sein Bataillon im Februar 1943 aus dem Kessel um Stalingrad ausbrach, erlebte er zum Beispiel, wie russische Bauern auf seine Vermittlung hin Schlitten und Pferde zur Verfügung stellten, um eine stattliche Anzahl an Verwundeten transportieren zu können. Überhaupt versuchte Häring, nicht einem billigen Freund-Feind-Schema zu erliegen, sondern mit der anderen Kriegsseite in Kontakt zu kommen. Seine Kenntnisse der polnischen und russischen Sprache halfen ihm dabei. Er durfte auch erfahren, dass die Bevölkerung in den Aufmarsch-, Kampf- und Rückzugsgebieten nicht nur seine Sanitätsdienste, sondern auch seine priesterlichen Dienste gerne in Anspruch nahm. So wurde er an verschiedenen Orten von der orthodoxen Einwohnerschaft um die Spendung von Taufen ersucht, weil kein Geistlicher der eigenen Konfession zur Verfügung stand. Die forcierte ökumenische Gesinnung, von der Häring später geprägt war, hatte in dieser Situation ihren Ausgangspunkt.
Eine andere Frucht seiner Kriegserfahrungen war die starke Haltung der Verantwortung, gepaart mit Freimut und Risikobereitschaft. Zu oft hatte er in dieser schweren Zeit erfahren, zu welch absurden Gehorsamsleistungen Menschen bereit waren. Er selbst hatte in Polen und Russland übrigens mehrmals auch an der Rettung von Juden mitgewirkt.
Häring war durch den Zweiten Weltkrieg zum überzeugten Friedensethiker geworden, der von seinem christlichen Verständnis her für eine gewaltfreie Weltkultur eintrat. Als gläubigem Menschen ist ihm in den Kriegsjahren in besonderer Weise die Bedeutung der göttlichen Vorsehung aufgegangen. In seinem oben zitierten Erinnerungsbuch schreibt er bereits im Vorwort: „Bisweilen fühle ich mich versucht zu sagen, dass ich es nicht nötig habe, an die göttliche Vorsehung zu glauben, denn ich konnte sie erfahren und verspüren. Ich habe sie gesehen und mit meinem Leben berührt.“6
Tasuta katkend on lõppenud.