Loe raamatut: «Das Corona-Rätsel»
Das Corona-Rätsel
Tagebuch einer Pandemie
Martin Sprenger
unveränderte eBook-Ausgabe
© 2020 Seifert Verlag
1. Auflage (Hardcover): 2020
ISBN: 978-3-904123-40-2
ISBN Print: 978-3-904123-34-1
Umschlaggestaltung: Michi Schwab, UnionWagner, Wien Umschlag-Grafik: Davor Kujundzic, auf Basis einer
Illustration von CDC/Alissa Eckert, MS; Dan Higgins,
MAMS
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Seifert Verlag GmbH
Ungargasse 45/13
1030 Wien
Inhalt
Vorwort
1. Prolog in China
2. Europas Fehleinschätzung
3. Österreichs Ibiza der Alpen
4. Glossar
Anmerkungen
Vorwort
Mein Tagebuch umfasst drei Monate einer Zeit, in der, wie viele meinen, ein »Jahrhundertereignis« stattgefunden hat. Ich sehe das nicht so. Mit Sicherheit ist die Corona-Pandemie aber ein außergewöhnliches Ereignis. Sowohl in Bezug auf das Erkrankungs- und Sterbegeschehen als auch in Bezug auf die daraus resultierenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen. Viele Dinge, die im Jänner noch undenkbar schienen, wurden im März Wirklichkeit. Mit einer vorher noch nie wahrgenommenen Klarheit wurden globale, europäische, nationale und regionale Strukturschwächen offengelegt. Aber auch auf der menschlichen und sozialen Ebene wurden Facetten sichtbar, die ansonsten gut verborgen werden.
Schneller als das Virus infizierte die Angst Gesellschaften und Individuen und führte zu Verschiebungen von Wahrnehmung, Moral und Ethik, demokratischen Werten und Normen und von vielem mehr. Für unerschütterlich gehaltene Fundamente unserer Lebensweise bröckelten. Dies alles erfolgte mit einer Geschwindigkeit, dass einem beim Betrachten schwindlig wurde. Auch die Wissenschaft fand lange keinen festen Boden und schlingerte durch das Geschehen, auf der Suche nach Daten und Informationen, um wieder Halt und Sicherheit zu erlangen. Diese erschienen aber nur zaghaft und widersprüchlich, waren voller Rätsel und Fragen. Keine guten Voraussetzungen, um erfolgreich durch eine Pandemie zu kommen.
Ich habe mich bemüht, nicht nur meine Lernkurve zu beschreiben, sondern parallel dazu auch die Veränderung der Wahrnehmung von Medien, Politik und Wissenschaft. Trotzdem ist ein Tagebuch immer etwas sehr Persönliches, sehr Subjektives. Keinesfalls ersetzt es eine objektive wissenschaftliche Aufarbeitung. Es ist aber auch immer selektiv und kann nur Bruchstücke des Geschehens beleuchten. Trotzdem ergeben auch diese ein Bild, das bei der Betrachtung und Reflexion der Geschehnisse in Österreich helfen kann. Die Puzzlesteine sind meine E-Mails, Texte und Stellungnahmen, die ich in den letzten drei Monaten gesammelt und für dieses Tagebuch sortiert habe. Mit Ausnahme einer Korrektur der Rechtschreibung, der Verwendung besser verständlicher Begriffe oder dem Ausschreiben von Abkürzungen werden diese ohne Veränderung wiedergegeben.
Dass ich damit angreifbar werde, nehme ich gerne in Kauf. Bewusst habe ich darauf verzichtet, die oft brisanten Zeilen der anderen Seite des Dialogs wortwörtlich zu veröffentlichen. Die Leser verstehen auch so, worum es gegangen ist. Ich zitiere viele kluge Stimmen aus diversen Medien und verweise auf wissenschaftliche Ergebnisse. Im Gegensatz zu einer wissenschaftlichen Arbeit wurden nur wenige Fußnoten eingefügt. Die meisten Texte und Videos findet man auch so. Das Archiv Internet hat zum Glück die meisten Schlüsselmomente gut konserviert. Dazu gehören vor allem die vielen Pressekonferenzen und für immer nachlesbaren und nachschaubaren Stellungnahmen aus Politik, Wissenschaft und dem Journalismus.
Das Tagebuch hat, so wie jedes Tagebuch, eine Chronologie. Trotzdem werden an geeigneter Stelle manche Aspekte der Pandemie näher ausgeführt und Querverbindungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hergestellt. Das ist das Privileg des Rückblicks. Während die Zukunft der Pandemie ungewiss in der Glaskugel flimmert, ist ihre Vergangenheit gut dokumentiert und nachlesbar. Ich möchte mich an dieser Stelle herzlich bei Maria Seifert bedanken, die den Impuls zum Schreiben gegeben hat. Ihre Unabhängigkeit hat mich überzeugt. Ein großer Dank gilt auch meinen Eltern, die mich zu einem kritischen, fröhlichen, neugierigen und jegliche Rangordnung ablehnenden Menschen gemacht haben. Ihnen verdanke ich die Liebe zur Natur, den Respekt vor anderen Meinungen, aber auch meine Furchtlosigkeit vor »Mächtigen«, deren Nacktheit mein Vater immer schon erkannte. Devot zu sein habe ich nie gelernt, es war aber aufgrund meiner behüteten wie wilden Kindheit, meiner guten Ausbildung und meinem Privileg der Unabhängigkeit auch nie notwendig. Ich bedanke mich bei all den Menschen, die ich in meinem Leben kennenlernen und lieben lernen durfte. Viele von ihnen sind kantige, schrullige und bunte Charaktere, Freigeister und lebensbejahend. Mit manchen bin ich durch die wildesten Abenteuer gegangen, vertraue ihnen bei meinem Leben. Sie sind der wahre Schatz, den ich gefunden habe. Der größte davon ist meine Familie, die ich spät, aber umso bewusster genießen darf.
Interessenskonflikt:
Bei der Einreichung jeder wissenschaftlichen Publikation, am Beginn jedes wissenschaftlichen Vortrags, steht die Offenlegung der eigenen Interessenskonflikte. Die etwas sperrig klingende Definition lautet: »Interessenkonflikte sind definiert als Gegebenheiten, die ein Risiko dafür schaffen, dass professionelles Urteilsvermögen oder Handeln, welches sich auf ein primäres Interesse beziehen, durch ein sekundäres Interesse unangemessen beeinflusst werden.« Konkret bedeutet das: Jede entgeltliche oder unentgeltliche Zuwendung muss offengelegt werden (Transparenzprinzip); jede entgeltliche oder unentgeltliche Zuwendung muss unabhängig von Entscheidungen beziehungsweise Geschäften sein (Trennungsprinzip); Leistung und Gegenleistung müssen in einem angemessenen Verhältnis stehen (Äquivalenzprinzip); alle Leistungen müssen schriftlich festgehalten werden (Dokumentationsprinzip).
Hier also meine Interessenskonflikte in Bezug auf dieses Tagebuch. Ich habe in den gesamten drei Monaten keinen einzigen Cent Honorar oder Spesenersatz für irgendeine Tätigkeit, wie zum Beispiel die im Beirat des Gesundheitsministeriums, oder für irgendeinen Artikel, ein Interview oder einen Medienauftritt erhalten. Zwei unentgeltliche Zuwendungen habe ich bekommen. Erstens hat Christian Jungwirth mir einige seiner Portraitaufnahmen unentgeltlich zu Verfügung gestellt, unter der Auflage, dass diese mit dem korrekten Foto-Kredit versehen werden, und Flo Rudig hat mich im Hinterzimmer auf zwei Bier (eines davon alkoholfrei) und eine Jause eingeladen. Beide Zuwendungen hatten keinen Einfluss auf das Geschriebene in diesem Tagebuch.
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
(Jakob van Hoddis, 1911)
1
Prolog in China
Die Stadt Wuhan ist über 8.000 Kilometer von Wien entfernt und hat gleich viel Einwohner wie Österreich. Trotzdem wusste ich – und sicher auch die meisten Menschen in Europa – bis vor Kurzem nicht, dass sie überhaupt existiert. Als dort am 17. November 2019 der erste Fall von COVID-19 dokumentiert wurde, blieb dies weitgehend unbeachtet. Erst am 31. Dezember verständigte China die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über Fälle von Lungenentzündungen unbekannter Ursache.1 Drei Wochen später, am 21. Jänner 2020, zählte die WHO bereits 314 bestätigte COVID-19-Fälle, davon 309 in China.2 Am 23. Jänner sind es 830, und ganz Wuhan wird in Quarantäne geschickt. Gleichzeitig wird das soziale, aber auch wirtschaftliche Leben mittels eines »Lockdowns« fast vollkommen stillgelegt.3 Der Mathematiker Adam Kucharski schätzt, dass es Ende Jänner bereits zehn Mal mehr Erkrankungen gegeben hat, als offiziell bestätigt.4 Andere schätzen, dass es sogar 40 Mal mehr waren.5
Anfang März kamen Forscher der Universität Southampton zu dem Ergebnis,6 dass eine Vorverlegung der strikten Maßnahmen um eine Woche, also auf den 16. Jänner, die Anzahl der infizierten Personen in Wuhan um 66% reduziert hätte. Bei einer Vorverlegung von zwei Wochen wären es 86% und bei drei Wochen sogar 95% gewesen. Rückblickend hätte somit die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 schon in China unterbunden werden können. Welche gesundheitlichen, psychischen, sozialen und ökonomischen Schäden wären der Welt erspart geblieben, wenn das gelungen wäre? Wir werden es nie erfahren.
2
Europas Fehleinschätzung
Das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) veröffentlicht am 09. Jänner eine erste Risikoabschätzung zur SARS-CoV-2 Epidemie in China.1 Der Ausbruch wird als ein lokales Ereignis eingeschätzt, eine Reisewarnung ausgesprochen und die Gefahr einer Einschleppung nach Europa als niedrig klassifiziert. Die Leitung des Europäischen Labornetzwerks für aufkommende virale Erkrankungen2 bezeichnet die europäischen Kapazitäten und Fähigkeiten einer Diagnostik auf Coronaviren als ausreichend. Eine am 26. Jänner aktualisierte Risikoabschätzung3 des ECDC empfiehlt allen Mitgliedsländern, ihre Testkapazitäten zu überprüfen und gegebenenfalls auszubauen. Verdachtsfälle sollen über das Europäische Frühwarn- und Reaktionssystem (EWRS) gemeldet werden. Eine Kontaktverfolgung von positiv getesteten Fällen wird empfohlen, eine Quarantäne für asymptomatische Personen jedoch nicht. Am Ende des Dokuments wird noch auf die vielen Unsicherheiten und offenen Fragen eingegangen.
Wie wäre die Risikoabschätzung des ECDC Anfang Jänner 2020 ausgefallen, wenn alle heutigen Informationen zur Verfügung gestanden hätten? Wo würde die Europäische Union (EU) heute stehen, wenn es einen abgestimmten Pandemieplan mit allen erforderlichen Kapazitäten und ab Mitte Jänner eine gemeinsame Überwachung gegeben hätte? Welche gesundheitlichen, psychischen, sozialen und ökonomischen Schäden wären Europa erspart geblieben, wenn eine gemeinsame Eindämmungsstrategie erfolgreich gewesen wäre? Wir werden es nie erfahren. Am 28. Jänner werden in Rom zwei chinesische Touristen positiv auf SARS-CoV-2 getestet. Am 23. Februar war Italien mit 76 bestätigten Fällen bereits das meistbetroffene Land außerhalb von Asien.4
3
Österreichs Ibiza der Alpen
Zwei Tage später, am 25. Februar, ist das neue Coronavirus auch offiziell in Österreich angekommen. Ein in Österreich arbeitendes italienisches Paar aus der Lombardei kommt im Krankenhaus Innsbruck unter Quarantäne. Ihr Arbeitsplatz, ein Hotel in der Innenstadt, wird behördlich gesperrt. Am 29. Februar fliegt eine isländische Reisegruppe von ihrem Skiurlaub in Ischgl nach Hause. Nach Ankunft in Reykjavik werden einige aus der Gruppe positiv auf SARS-CoV-2 getestet. Am 05. März erklärte Island Ischgl zum Risikogebiet. Alle Isländer, die sich dort aufgehalten haben, müssen für 14 Tage in häusliche Quarantäne. Am 07. März wird ein Barkeeper aus Ischgl positiv getestet. Noch am 08. März hält die Landessanitätsdirektion Tirol »eine Übertragung des Coronavirus auf Gäste der Bar aus medizinischer Sicht für eher unwahrscheinlich.« Am 10. März müssen alle Après-Ski-Lokale in Ischgl mit sofortiger Wirkung geschlossen werden. Am 15. März werden alle Skigebiete in Tirol und am 16. März auch alle Beherbergungsbetriebe behördlich gesperrt. Zeitgleich treten das COVID-19-Gesetz und die bundesweiten Maßnahmen zur physischen Distanzierung in Kraft.
Wie wäre die Risikoabschätzung der österreichischen Behörden ausgefallen, wenn alle heutigen Informationen zur Verfügung gestanden hätten? Wo würde Österreich heute stehen, wenn die Skigebiete Anfang März geschlossen und die Maßnahmen der Regierung zur physischen Distanzierung eine Woche früher, also am 09. März in Kraft getreten wären? Welche gesundheitlichen, psychischen, sozialen und ökonomischen Schäden wären Österreich erspart geblieben, wenn das gelungen wäre? Wir werden es nie erfahren, es wird für immer ein Rätsel ohne Lösung bleiben.
Sonntag, 02. Februar
Die WHO hat gerade ihren 13. Situationsbericht veröffentlicht.1 Weltweit gibt es bereits 14.557 bestätigte Fälle von COVID-19, davon 146 außerhalb von China, 23 in Europa, und davon wiederum acht in Deutschland, sechs in Frankreich, zwei in Italien, zwei in Großbritannien und einer in Schweden. Meine Lebensgefährtin und ich hatten uns am Vortag »The Hills are Alive« mit den genialen Puppenspielern Nikolaus Habjan und Neville Tranter angeschaut und waren noch immer beeindruckt von der Geschwindigkeit, wie auf der Bühne unterschiedliche Figuren die schönen, aber auch hässlichen Seiten von uns Menschen sichtbar machen. »Gebeutelt zwischen Lachen, Fremdschämen, Staunen und einem aufkommenden Unbehagen, das einem sagt: Das hier ist zwar Theater, aber die Grenze zum realen Leben – wo ist die noch scharf auszumachen?«, wie es Michaela Preiner treffend in ihrer Kritik beschreibt.
Zum ersten Mal poste ich etwas zum neuen Coronavirus SARS CoV-2 im Public Health Forum. Es ist auch das allererste Posting zu diesem Thema in der im Frühjahr 2018 vom Public-Health-Aktivisten Florian Stigler begründeten Google Gruppe. Gemeinsam haben wir sie mit Leben gefüllt. Recht schnell wuchs die Anzahl der Mitglieder auf 400 an. Darunter renommierte nationale und internationale Expertinnen und Experten aus zahlreichen gesundheitswissenschaftlich relevanten Disziplinen. Wie immer in solchen Gruppen gibt es intensivere und ruhigere Zeiten. Vor der Pandemie ging es vor allem um Themen wie Regierungsprogramm und Alkoholpolitik. In der Corona-Krise steigt die Anzahl der Teilnehmer in diesem größten österreichischen Public Health Forum auf über 600 an. Allein im März und April gibt es fast 700 Postings, das sind in Summe fast 500.000 E-Mails. Alle nur zu einem einzigen Thema, der Corona-Pandemie. Aufgrund des hohen Niveaus enthalten sie fast immer wichtige Informationen, gute Analysen, interessante Links, aber durchaus auch zugespitzte Kritik. So kann es schon einmal passieren, dass auch in diesem Forum die Debatten etwas emotionaler werden. Trotzdem versuchen wir gemeinsam, unsere Lernkurve steil zu halten, die vielen offenen Fragen zum Corona-Rätsel zu lösen.
Mein Posting bezieht sich auf ein Ende Jänner veröffentlichtes Video von Franz Allerberger2 und dessen Interview in der Neuen Vorarlberger Tageszeitung. Er ist Leiter der Abteilung Öffentliche Gesundheit in der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) und ein ausgewiesener Experte für Infektionskrankheiten und hat als einer der ersten Österreicher eine Public-Health-Ausbildung an der renommierten Johns Hopkins Universität in den USA absolviert. Allerberger beurteilt auf der vorliegenden Datenbasis die Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 als deutlich geringer als die der letzten beiden neuen Coronaviren SARS-CoV-1 und MERS-CoV.
SARS ist die Abkürzung für »Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom«, womit der Name schon die Ernsthaftigkeit dieses Virus vermittelt. MERS bedeutet »Nahost-Respiratorisches Syndrom«. SARS-CoV-1 hat im Winter 2002/2003 von Südchina ausgehend Menschen in vielen Ländern infiziert und fast 1.000 Todesopfer gefordert. Im Sommer 2003 ging die Zahl der Neuinfizierten weltweit beständig zurück, und seit 2004 wurde SARS-CoV-2 nicht mehr gesichtet. MERS-CoV ist im Jahr 2012 erstmals aufgetreten und wurde ebenfalls in mehreren Ländern nachgewiesen. Hauptsächlich im arabischen Raum und Südkorea. MERS-CoV ist immer noch aktiv und hat offiziell bisher ebenfalls fast 1.000 Todesopfer gefordert. An SARS-CoV-1 ist kein einziger und an MERS-CoV sind nur zwei Österreicher erkrankt. Allerberger schätzt das neuartige Coronavirus nicht gefährlicher ein als die ständig zirkulierenden Influenzaviren und empfiehlt, bei Hygienemaßnahmen, vor allem beim Händewaschen, aufmerksamer und sorgsamer zu sein. Den Nutzen von Mund-Nasen-Masken beurteilt er außerhalb von Krankenhäusern als eher gering, eventuell sogar kontraproduktiv.
Ich teile die Sichtweise von Allerberger und halte vor allem den Anteil von asymptomatischen Verläufen bei Infektionskrankheiten für sehr wichtig. Erstens spielen Menschen ohne Symptome oft eine wichtige Rolle bei der Übertragung von Viren, und außerdem ist ihr Anteil bei der Berechnung der Infektionssterblichkeit von entscheidender Bedeutung. Der Anteil von asymptomatischen Verläufen liegt beim Poliovirus über 95%, beim Masernvirus unter 10% und beim Influenzavirus, je nach Saison, irgendwo zwischen 10 und 90%.3 Bei MERS-CoV liegt er bei Erwachsenen zwischen 10 und 20% und bei Kindern zwischen 40 und 80%.4 Ob diese Annahmen auf das neuen Coronavirus SARS-CoV-2 übertragbar sind, gilt es meiner Meinung nach, rasch herauszufinden.
Dienstag, 04. Februar
Die Corona-Pandemie hat jetzt zunehmend meine Aufmerksamkeit. Im Public Health Forum schreibe ich einen kurzen Text zum Begriff der Sterblichkeitsrate. Diese errechnet sich aus dem Verhältnis der Anzahl der Todesfälle aufgrund einer bestimmten Krankheit (=Zähler) zur Anzahl der Personen, die an dieser Krankheit erkrankt sind (=Nenner). Die Sterblichkeitsrate bezieht sich immer auf eine definierte Population und einen definierten Zeitraum. Dabei wird noch zwischen der Fallsterblichkeit und der Infektionssterblichkeit unterschieden. Bei der Fallsterblichkeit stehen nur die offiziell positiv getesteten Fälle im Nenner, bei der Infektionssterblichkeit alle infizierten Personen. Das kann bei der Berechnung der Sterblichkeitsrate einen gewaltigen Unterschied machen. Vor allem wenn die sogenannte Dunkelziffer, also der Anteil der unbekannten, weil zumeist ohne Symptome verlaufenden Krankheitsfälle sehr groß ist.
Die WHO gibt für SARS-CoV-2 zu diesem Zeitpunkt eine Fallsterblichkeit von 2,1% an. Ich berechne unter der Annahme, dass die Anzahl der Infizierten doppelt bis dreimal so groß sein könnte wie angenommen, eine Infektionssterblichkeit von unter 1%. Wie bei allen viralen Infekten der Atemwege haben vor allem ältere und hochbetagte Menschen mit schweren Vorerkrankungen das höchste Risiko, durch das neue Coronavirus schwer zu erkranken und zu versterben. Das Risiko von Kindern, Jugendlichen und gesunden Erwachsenen scheint sehr gering zu sein. Wirklich ernst nehme ich SARS-CoV-2 noch nicht.
Donnerstag, 13. Februar
In Brüssel treffen sich die europäischen Gesundheitsminister. Die WHO hat gerade ihren 24. Situationsbericht veröffentlicht.5 Weltweit gibt es bereits 46.997 bestätigte Fälle, davon 447 außerhalb von China, 46 in Europa, und davon wiederum 16 in Deutschland, neun in Großbritannien, acht in Frankreich, drei in Italien und einer in Schweden. Beim Eintreffen in Brüssel meint Rudolf Anschober: »Reisebeschränkungen halte ich derzeit in Europa für nicht angebracht. Wir müssen schon darauf achten, dass wir aus einer Situation, wo in Europa Ernsthaftigkeit, Vorsicht und Aufmerksamkeit angebracht ist, keine Panik erzeugen. Panik ist in Europa derzeit völlig unangebracht, wäre ein schlechter Ratgeber, sondern wir müssen mit ruhiger Hand darauf reagieren, was notwendig ist, um das Hauptziel zu erreichen, nämlich Europa zu schützen, und das geht mit einem starken gemeinsamen Vorgehen am besten.« In der Abschlusserklärung betonen die Gesundheitsminister die Bedeutung von Solidarität und gemeinsamem Handeln.