Loe raamatut: «Reifer werden»

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

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© 2021 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-363-5

ISBN e-book: 978-3-99107-364-2

Lektorat: Marie Schulz-Jungkenn

Umschlagfoto: Christian Striegel

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Martin Striegel,

Bild 6: Deutsche Stiftung

Weltbevölkerung

www.novumverlag.com

ALLEN MENSCHEN IN EHRFURCHT
1 EINFÜHRUNG UND GRUNDGEDANKEN

2 ALLTAG UND MEDITATION
Alltag
Wie der Alltag in der westlichen Welt im frühen 21. Jahrhundert äußerlich aussah, musste vor 2020 nicht im Detail erläutert werden. Wir erlebten ihn ja tagtäglich mit und nahmen daran teil. Die Corona-Krise hat uns viele ganz alltägliche Vorgänge hinterfragen lassen – denken Sie an die Berührungen und Umarmungen zur Begrüßung und zum Abschied, das Massenpendeln von Berufstätigen, das bedenkenlose Reisen oder die Besuche von Großveranstaltungen im Kultur- und Sportbereich. Es sind wichtige Veränderungen des äußeren Lebens im Einzelnen wie im Kollektiven im Gang. Der Fokus im Folgenden jedoch richtet sich weniger auf die äußeren Vorgänge, sondern mehr auf das, was von Augenblick zu Augenblick in uns drinnen abläuft. Auch darauf haben die Umbrüche im äußeren Leben natürlich ihre Auswirkungen. Erfahrungsgemäß aber nehmen wir uns selten die Zeit, wirklich anhaltend und differenziert unsere Gefühle, Gedankenabfolgen, Emotionen, Stimmungen und Triebe zu beobachten und zu analysieren. Diese jedoch prägen unsere Handlungsweise. Und unser Tun sowie die Geschehnisse um uns herum liefern ihrerseits unserem inneren Geschehen laufend neuen Stoff. Die folgenden vier Kapitel (2.1 bis 2.1.3) stellen einen Versuch dar, unser Innenleben zu beleuchten und die Wechselwirkung von Innen- und Außenleben aufzuzeigen.
Fundamental wichtig für unsere Alltagsbewältigung sind auch die verschiedenen Arten der Erkenntnisaufnahme sowie die Fähigkeit, mittels Sprache diese Erkenntnisse zu erfassen, auszudrücken und auszutauschen. Sie sind wunderbare Hilfsmittel, aber sie haben ihre Grenzen. Erkenntnisse aus verschiedenen Quellen können miteinander in Widerstreit liegen, wenn beispielsweise der Verstand mich in die eine, das Gespür für die entsprechende Situation mich in die andere Richtung schicken möchte. Ferner stoßen unsere Erkenntnismöglichkeiten immer wieder an Grenzen. Ich glaube vielleicht, die Absicht eines Menschen zu durchschauen, kann mir aber nie sicher sein. Und auch die Sprache scheitert an manchen Gegebenheiten, etwa wenn wir versuchen, Phänomene wie „Bewusstsein“ oder „Heiligkeit“ präzis in Worte zu fassen. Ferner bringt Sprache nicht nur Klarheit, sondern auch Missverständnisse und damit Konflikte hervor. In den entsprechenden zwei Kapiteln werden die Möglichkeiten und Unzulänglichkeiten unserer Erkenntnisquellen einerseits und unserer Sprache andererseits genauer beleuchtet.
Es gibt jedoch Möglichkeiten, um jenseits solcher Begrenztheiten zu gelangen. Eine der zentralen ist die Meditation. Indem sie der Stille Zeit und Raum gewährt, kann diese ihre Wirkung entfalten. Die Stille ist unbegrenzt.
Meditation
In unserer heutigen Gesellschaft ist unser Alltag derart mit Reizen überfüllt, dass die für eine Klarsicht notwendige Ruhe zur Mangelware geworden ist. Um diesen Mangel zu beheben, braucht es einen Gegenpol zum alltäglichen Treiben, und einen solchen finden wir in der Meditation. Diese wird im weitesten Sinn verstanden. Sie umfasst hier und im Folgenden also neben der Sitzmeditation auch das kontemplative Gebet, mantraartige Wiederholungen von heiligen Namen oder wohltuenden Worten, meditatives Yoga oder Qi Gong (also Meditation in Bewegung) sowie weitere Formen der Sammlung und Versenkung. Die Meditation bietet uns ein wunderbares Werkzeug, um jene Ruhe sich ausbreiten und jene Klärungsarbeit geschehen zu lassen, die im Alltag zu kurz kommen. Dass sie darüber hinaus noch einiges mehr bietet, soll weiter unten angedeutet und in den Kapiteln 2.2 bis 2.3.4 breiter ausgeführt werden.
Bis vor etwa 50 Jahren fristete die Meditation im Westen ein absolutes Randdasein und wurde in der breiten Öffentlichkeit als Phänomen kaum wahrgenommen. Aber auch in den asiatischen Regionen, in denen sie weltweit am verbreitetsten war, wurde sie noch vor 50 bis 100 Jahren aufgrund des Kontakts mit der westlichen Denkweise oft als rückständig angesehen. Es ist also weltweit zu einer Entdeckung bzw. Wiederentdeckung von Meditation und zu einer Erneuerung gekommen.
Warum das Interesse an Meditation derart stark gestiegen ist – mit zusätzlicher Beschleunigung seit etwa der Jahrtausendwende – wurde bereits angedeutet. Es herrscht eine Malaise mit Symptomen wie Ruhelosigkeit, Sinnkrisen, Oberflächlichkeit, depressiven Abstürzen sowie innerer Vereinsamung trotz scheinbar intakter Einbindung in die Gesellschaft. Solche Symptome werden immerhin schon regelmäßig thematisiert, was eine erste Diagnose darstellt. Mit dieser gewappnet, machen sich heutzutage immer mehr Menschen auf, um Mittel zur Besserung zu finden. Und dass eine Meditationspraxis ein solches Mittel sein kann, spricht sich anscheinend herum. Nicht nur das; es gibt inzwischen einen immer größer werdenden Korpus an neurologischen und psychologischen Untersuchungen, welche die heilsame Wirkung von Meditation wissenschaftlich belegen.
Werden Teilnehmende an einem Meditationstreffen – insbesondere jüngere – nach den Gründen für Ihr Kommen gefragt, fällt bei den allermeisten das Wort „Stress“. Der Wunsch nach weniger Hektik und Daueranspannung speziell in der Arbeitswelt, aber nicht selten auch in Beziehungen und sogar in der Freizeit, ist heutzutage die häufigste Motivation hinter der Aufnahme einer Meditationspraxis. Vielfach bleibt es zwar – wie beim Ziel, die körperliche Fitness zu steigern – bei einzelnen Versuchen, aber ein Samen ist gesät. Man kann später einen erneuten Anlauf starten. Entstressen heißt das Ziel. Und es lässt sich bei regelmäßiger und langfristig angelegter Übung (dieser Punkt kann nicht oft genug betont werden) nachweislich auch erreichen.
Ein zweites Ziel bildet der Wunsch nach größerer Achtsamkeit. Das Wort in all seinen Spielarten (achtsames Gehen, achtsames Essen, achtsame Kommunikation, achtsames Pflanzengießen) ist inzwischen derart zu einem Modebegriff geworden, dass es aufgrund inflationären Gebrauchs stetig an Aussagewert zu verlieren droht. Aber damit ist die Achtsamkeit in guter Gesellschaft. Dem Wort „Liebe“ geht es nicht anders. Und beim Wort „Gott“ ist es inzwischen so weit, dass es vor lauter Über- und Missbrauch praktisch zu einem Tabuwort geworden ist. Egal, wie es dem Wort ergeht – die Sache dahinter bleibt enorm wichtig. Und der geeignetste Weg zu größerer Achtsamkeit in einem ablenkungsreichen Alltag ist ohne Zweifel die Meditation.
Etwas anders gelagert ist die Zielsetzung bei Menschen, die mit dem Erwerbsleben abgeschlossen haben. Ihnen soll Meditation aufs Alter hin beispielsweise bei der Sinnsuche helfen. Oder sie suchen schlicht die Gemeinschaft einer regelmäßig zusammenkommenden Meditationsgruppe. Wie so oft im Leben ist meist eine Kombination von Antriebsfaktoren im Spiel.
Es sind also verschiedene Gründe, die zur Aufnahme einer Meditationspraxis führen können. Und Erfahrungen zeigen, dass die genannten Hoffnungen nicht zu hoch geschraubt sind – immer unter der Voraussetzung, dass die Praxis als ein lebenslanger Übungsweg in Angriff genommen wird. Ja, es gibt sogar noch weitere Früchte, die zumindest zu Beginn weniger oft im Fokus stehen. Dazu zählt eine verfeinerte Wahrnehmung der Wirklichkeit. Voreilige Schlussfolgerungen, Stereotype und Vorurteile haben bei einer wachen, realitätsnäheren Wahrnehmung, die sich in der meditativen Versenkung ergibt, einen schweren Stand. Viele verflüchtigen sich allmählich oder platzen wie Seifenblasen. Sich öffnen für die Wirklichkeit per se – weder gedacht noch gegliedert noch einfangbar – heißt schließlich auch, sich für das Heilige zu öffnen.
Erfahrungsberichte sprechen davon, dass das Leben mit einer integrierten Meditationspraxis reichhaltiger wird. Kleinigkeiten des Augenblicks – was ich sehe, höre, rieche, schmecke und ertaste – huschen nicht mehr quasi unbeachtet vorüber. Auch die Person, mit der ich in diesem Augenblick zu tun habe, bekommt einen größeren Wert. So fühlt es sich mit der Zeit stets weniger danach an, als ob das ganze Leben an mir vorbeirasen würde.
Zurück zum Alltag
Neben der formellen Meditation gibt es auch noch einfache meditative Alltagsübungen, welche die Wege des Alltagslebens und der Meditationspraxis näher zusammenführen sollen. Eine solche Übung kann beispielsweise darin bestehen, dass wir jede Handbewegung bei einer unspektakulären Verrichtung, etwa beim Geschirrabwaschen, langsam und ganz bewusst durchführen. Verstärken können wir die Übung noch, indem wir jeden Gegenstand mit Dankbarkeit in die Hand nehmen.
Solche Alltagsübungen stellen ein wichtiges Bindeglied zwischen der formellen Meditation und dem Alltag dar. Denn das ist ja das Ziel eines jeden Meditationsweges: Er soll früher oder später in den alltäglichen Lebensweg münden und in diesem aufgehen, sodass wir eine stets wachsende Zahl an Alltagsaktivitäten in einem Geist der Ruhe, der Gelassenheit und der Dankbarkeit ausführen. Selbst dann, wenn es um uns herum hektisch und lärmig zu- und hergeht. Umgekehrt können Achtsamkeit und Dankbarkeit im Kleinen uns auch aus einer lähmenden Lustlosigkeit wecken. Und der Frieden aus dem geschützten Raum der Meditationssitzungen soll in den Alltag hinübergerettet werden und dort zur Entschärfung von inneren und äußeren Konflikten beitragen. Auch die in der Meditation klarer gewordenen Aspekte meines Selbst sollen mir im Alltag helfen, meine Lebensweise etwas mehr zu hinterfragen und als Folge die durch Automatismen gepfadete Spur zumindest zwischendurch auf eine mutige und kreative Weise zu verlassen.
Es sind viele kleine Schritte, die uns auf diese Ziele hinführen (ganz erreichen wir sie nie), und zwischendurch erleben wir Zeiten der Stagnation oder gar des Rückschritts. Aber nur so wachsen wir als Personen und so – ob wir oder andere es merken oder nicht – trägt unser reiferes Verhalten auch zur Reifung unseres Umfeldes bei.
2.1 ALLTAG ALS AUSGANGSORT
Beim Verlassen des Supermarkts kommt mir eine Frau mit einer blonden Strähne im dunklen Haar entgegen, wie sie Mira manchmal trägt. Warum ausgerechnet Mira, denke ich. Ausgerechnet sie, die in so vielen Situationen für Heiterkeit gesorgt hat, als wir heranwuchsen. Burnout, Depression … Die Henkel der Einkaufstasche schneiden sich in die Handflächen ein. Zum wiederholten Mal wechsle ich von einer Hand zur anderen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lese ich auf einem Plakat in großen Lettern: „Niemals wieder“. Niemals wieder was? Aber der restliche Text ist zu klein, ich kann ihn nicht ausmachen. Ich sehe nicht mehr so gut in die Weite, ich sollte zum Optiker gehen. Am Abend gibt es Champions League im Fernsehen – Barcelona spielt. Eine schrille Frauenstimme ertönt: „Das glaub ich ja nicht!“ Ein Blick in Richtung der Stimme – auch andere drehen den Kopf –, ich stolpere auf einer Stufe und fange mich mit einem hastigen Griff ans Geländer. Die Frau kreischt weiter. Die hat nicht alle Tassen im Schrank. Mensch, sollte ich nicht noch die Käsemischung für morgen kaufen? Ich kehre um, verärgert und doch erleichtert. Zum Glück nicht vergessen. Fondue wird es geben; wir haben Gäste. Der letzte Besuch unserer ehemaligen Nachbarn … Da lag Spannung … Er ist so stur … Zurück in den Supermarkt. Die Packung ist gefunden. Anstehen. Müdigkeit macht sich bemerkbar – und wieder hinaus in die frische Luft. Ich nähere mich der Bahnhofsunterführung. Mein Fahrrad auf der anderen Seite habe ich doch abgeschlossen, oder nicht? Die Kette muss geölt werden. Klänge. Ein paar Schritte weiter und sie sind immer noch zu hören. Angekommen in der Unterführung, erblicke ich sie: Eine Frau spielt Geige, ein Mann Gitarre, sie singen, ein Junge spielt … Wie heißt das Instrument? Zigeunermusik. Rassig. Gut aufeinander abgestimmt. Die Frau hat eine schöne Figur. Auch der Gesang. Ja, die können was. Ich halte an, stelle die Tasche vor mich hin und lasse mich vom Rhythmus ein wenig wiegen. Tamburin heißt das Instrument. Menschen hasten vorbei. Arme, Mäntel, Taschen … Ein Mann mit gebücktem Rücken und Gehstock bleibt neben dem Trio stehen. Achtung! Zwei Jugendliche biegen ihre Körper nach außen, um sich ungebremst an ihm vorbeizuzwängen. Kaum jemand verlangsamt den Schritt, unglaublich, kaum jemand lässt sich auch nur ein bisschen vom Klang bewegen. Der Rhythmus ist wieder da, ja, er steckt an. Und doch, nur wenige drehen überhaupt den Kopf. Genügt den Übrigen vielleicht ein Blick aus den Augenwinkeln? Die Augen der Sängerin … Am Geburtstagsfest unserer Mutter vor einem Jahr hat uns Mira auf der Geige etwas vorgespielt. Ihr Gesichtsausdruck während des Stücks – hochkonzentriert, zwischendurch ein Strahlen wie aus einer anderen Sphäre. Von vorne, mühsam, sie muss sich einen Weg bahnen, nähert sich eine Mutter mit zwei kleinen Kindern. Eines davon – ein Mädchen – schärt aus in Richtung der Musiker, macht ein paar Tanzschritte, dann rennt es verschämt zur Mutter zurück und versucht, sie zum Anhalten zu bewegen. Vergeblich. Zeit zum Weitergehen. Ich steige die Treppe hoch und erblicke nach wenigen Metern mein rotes Kettenschloss am Hinterrad. Mit dem Bein schiebe ich ein anderes Rad zur Seite, dann schnalle ich die Tasche auf den Gepäckträger. Unterwegs nach Hause, die Szene nochmals vor Augen, schießt es mir durch den Kopf: Ich habe den Musikern nicht einmal eine Münze in den Gitarrenkoffer gelegt.
2.1.1 Alltag unter der Lupe
Wenn hier von Alltag die Rede ist, so ist in erster Linie unser alltägliches Innenleben gemeint. Es soll verdeutlicht werden, wie eine komplexe Außenwelt über die Sinneswahrnehmungen unaufhörlich auf unser Fühlen und Denken einwirkt, was das für Vorgänge im Innen auslöst, wie sich diese in der Folge nach außen manifestieren und so erneut Input in der Form von Reaktionen von außen generieren. Im Blickpunkt sind primär erwachsene Menschen in einem urban geprägten Umfeld. Bei einem Kleinkind, einem Hirten in den Bergen oder einer alten Frau im Pflegeheim mögen die Schwerpunkte der Wahrnehmung und des Handelns zwar anders liegen, aber auch bei ihnen sind die Elemente des Erlebens und die grundsätzlichen Abläufe dieselben.
Nehmen wir als Beispiele von Außenwahrnehmung (Sinneswahrnehmungen und Erfassen von Stimmungen) ein paar kurze Sequenzen: Passanten auf der Straße mit ausdruckslosen Blicken, Pflastersteinmuster, Gebäudesilhouetten, Autofolgen, Brummen, Quietschen, ein Schlag durch einen herunterhängenden Ast, Regen, Kälte, Plakate. Später: menschliche Präsenz in einem Raum, die Farben von Kleidern, die Formen von Körpern und die Ausstrahlung von Persönlichkeiten, meine Ellbogen auf dem Tisch, die stickige Luft, teils sich überlappende Wortfolgen in verschiedenen Tonhöhen und Lautstärken. Später: fertigzustellende Wortfolgen auf dem Computerbildschirm, gepaart mit Informationen, Mitteilungen, Nachrichten- und Werbefetzen auf dem Smartphone-Display. Schritte im Gang, die Fassade gegenüber, ein Foto aus alten Zeiten. Später: das Grün einer Wiese mit vereinzelten Blumen, dahinter verschiedenförmige Gebäude, der verwitterte Zaun, das Knirschen meiner Schuhe auf den Kieselsteinen, das Entgegenwehen des Windes. Nochmals später: Essensgeruch, ein warmes Stück Pizza im Mund. Die Sofalehne im Rücken. Bilderfolgen und Endlosgerede aus dem Fernsehen. Später: Das Kreisen der Zahnbürste über Zähne und Zahnfleisch während der Sichtung meines Spiegelbilds …
Sie merken es, liebe Leserin, lieber Leser: Wir sind von frühmorgens bis zum Schlafengehen, meist ohne uns dessen bewusst zu sein, einer permanenten Flut von Sinnes- und Stimmungseindrücken ausgesetzt. Dabei sind bei den obigen Sequenzen die Komplikationen zwischenmenschlichen Geschehens ausgespart worden. Beispielsweise das Unterscheiden der (akustischen) Wortfolgen in Höflichkeitsfloskeln, Schmeicheleien, Gefühlsausbrüche, sachbezogene Dialoge, scherzhaftes Geplänkel oder gegenseitige Anschuldigungen; daneben Blicke aller Art und Berührungen. Nehmen wir diese noch hinzu, ergibt sich insgesamt eine riesige Menge an Eindrücken, die, während wir wach sind, permanent auf uns einwirken. Unser Hirn filtert nach Leibeskräften und ist manchmal doch überfordert. Kein Wunder, sind wir so oft erschöpft.
Und dabei ist dies noch nicht einmal die halbe Geschichte. In unserem Innern geht es nämlich meist nicht weniger turbulent zu und her. Zu jedem Element der Außenwahrnehmung und des zwischenmenschlichen Austauschs kommt unsererseits eine Deutung und Einordnung hinzu. Beginnen wir mit den Gedanken: Neu Gedachtes fügt sich in ablaufende Gedankenfolgen ein, teils als Worte, teils als Bilder. Innere Dialoge laufen ab, oft mit wenig Variation in einer Endlosschleife; dazu gesellen sich gerne Fantasievorstellungen. Erinnerungen mischen sich hinzu, ebenso wie Vorstellungen von dem, was sein sollte oder könnte und was noch zu erledigen ist. Das, was uns bewegt (und hier kommen wir zum nächsten Faktor), wird immer und immer wieder durchgekaut.
Gedanken treten nie allein auf, sie sind stets mit Emotionen verbunden. Emotionale Regungen (Wut, Ungeduld, Angst, Irritation, Druckgefühl aufgrund von Erwartungen, Handlungsimpulse, erotische Anziehung, Vorfreude, Genugtuung usw.) können schubartig aufflackern und wieder erlöschen oder sich, in Verbindung mit den sie anfeuernden Gedanken, eine Zeit lang halten. Dies hat entsprechende körperliche Reaktionen – hormonelle, nervliche, kreislaufverbundene und/oder muskuläre – zur Folge.
Sowohl bei den Gedanken als auch den Emotionen besteht eine Bandbreite, die für unser darauffolgendes Handeln entscheidend sein kann. Im Falle der Emotionen bezieht sich die Bandbreite auf die Stärke der energetischen Ladung. Sie lässt sich mit Wellen am Meer vergleichen; die Skala reicht von kaum wahrnehmbar bis zu überwältigender Sturmstärke. Bei den Gedanken geht es um die Klarheit: Die Skala hier reicht von äußerst diffus bis messerscharf.
Mitgeformt werden unsere Gedanken und Emotionen auch durch empathisch Aufgenommenes und erahnte Zusammenhänge sowie durch Sehnsüchte und Ängste aus der Tiefe. Schließlich wird dieses im Wachzustand praktisch ununterbrochen andauernde sinnlich-gedanklich-emotionale Wechselspiel zusätzlich angereichert durch Triebregungen – Lust auf Essen, Trinken oder Sex, Ablenkung und Unterhaltung – und ihr Gegenpart, die Unlust oder das Widerstreben, sowie Körperempfindungen, die meist Unwohlsein oder Schmerzen melden.
All dies findet statt vor dem Hintergrund einer länger anhaltenden, aber sich doch auch wandelnden Stimmung.
Wenn Außeneindrücke oder Aufgaben uns in den Bann ziehen, nimmt die Innenwahrnehmung ab. Der Filter zwischen Innenleben und Aufmerksamkeit ist dann weniger durchlässig. Sind wir umgekehrt mehr mit inneren Vorgängen beschäftigt, wird der Außenwelt ein Großteil der Aufmerksamkeit entzogen – die meisten Sinneseindrücke werden herausgefiltert, bevor sie das Bewusstsein erreichen. Aber auch dann richtet sich der Fokus zumeist nur auf einzelne Elemente der komplexen inneren Vorgänge, etwa auf die schmerzhafte Erinnerung an eine (vermeintliche) Kränkung. Alles Übrige bildet eine undifferenzierte, dumpf wahrgenommene Restmasse im Innern.
Es ist bisher von zwei Ebenen die Rede gewesen – permanente Eindrücke von außen einerseits, permanente innere Vorgänge andererseits. Dazu kommt – als dritte Ebene sozusagen – unser Sprechen und Handeln. Schauen wir genau hin, sehen wir, wie sich die drei Ebenen in dauernder Interaktion miteinander befinden. Wahrnehmungen von außen generieren innere Vorgänge, diese führen zu äußerem Agieren. Das, was durch den Wahrnehmungsfilter nach innen durchdringt, wird mit bereits Vorhandenem verknüpft und vom Verstand unaufhörlich kommentiert, bewertet und kategorisiert; parallel dazu findet ein emotionales Nachbearbeiten statt. Triebschübe und Aufwallungen aus dem Unbewussten mischen mit. So bildet sich ein unübersichtlicher, manchmal heftiger, manchmal kaum wahrgenommener Strom, dessen Ingredienzen durch stets neue Elemente von außen entweder angereichert oder ersetzt werden.
Es kann sein, dass Sie nur schon vom Lesen dieser Vorgänge erschöpft sind. Wie muss es dann wohl sein, wenn Sie Tag für Tag so etwas praktisch nonstop durchmachen? Zwei Fragen drängen sich also an dieser Stelle auf: Erstens: Was von Augenblick zu Augenblick in unserem Alltag abläuft, ist so gesehen turbulent und hochgradig komplex. Über weite Strecken empfinden wir dies aber nicht so. Warum nicht? Und zweitens: Warum erkennen wir dieses Zusammenspiel von Sinneseindrücken, inneren Vorgängen und äußerem Handeln so selten als solches?
Suchen wir zunächst nach Antworten auf die erste Frage: Wir sind uns der Vielschichtigkeit und Komplexität der dauernd ablaufenden Vorgänge nicht bewusst, weil die Filterfunktion unseres Gehirns einen großen Teil der Eindrücke und Reize unterdrückt, um uns vor einer permanenten Überforderung zu schützen.10
10 Es gibt Menschen, bei denen dieses Filtern nur ungenügend funktioniert. Dazu gehören primär solche, die man in das Autismus-Spektrum einordnen kann. Situationen, die für „gewöhnliche“ Menschen locker zu bewältigen sind, lösen bei ihnen aufgrund einer unkontrollierbaren Reizüberflutung Panikattacken aus.
Was – von außen oder innen kommend – weggefiltert wird und was ins Bewusstsein durchdringt, wird von Augenblick zu Augenblick beeinflusst vom Ziel, das ich verfolge. Das Ziel mag ein klares sein (ich habe Lust auf ein Sandwich, dann springt mir eine Imbissbude ins Auge, an der ich sonst achtlos vorbeigegangen wäre) oder ein vages (ich brauche etwas, das mich stimuliert oder unterhält, dann lasse ich mich von allen möglichen Belanglosigkeiten ablenken, die bei konzentriertem Handeln unbeachtet blieben). Komplexer wird die Sache dadurch, dass ich meist mehrere, zum Teil sich widersprechende Ziele in mir herumtrage. Beeinflusst wird der Filtervorgang zudem von meinem Gemütszustand. In einem Zustand der Nervosität nehme ich zumeist weniger Einzelheiten um mich herum wahr als in einem Zustand der Gelassenheit.
Einen wesentlichen Beitrag zum Filtervorgang leistet schließlich die Macht der Gewohnheit, die eine weitere Schleierschicht über unsere Wahrnehmung legt. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Autofahren. Permanent einzuordnende Sinneswahrnehmungen, Überlegungen und Anpassungen bezüglich der Richtung unseres Fortbewegens und stetes Reagieren auf die Fahrmanöver anderer Verkehrsteilnehmer bedingen vielfältige manuelle Handlungen, damit wir sicher von A nach B gelangen. Und doch läuft das alles, falls keine außergewöhnliche Verkehrssituation eintritt, mit einem hohen Grad an erfahrungsbasierter Automatik ab, sodass unser körperlich-mental-seelisches System nicht allzu stark strapaziert wird.
Die Macht der Gewohnheit deckt sich weitgehend mit der Macht der Vertrautheit. Die Beine unseres Wohnzimmertisches, selbst wenn sich diese voll in unserem Gesichtsfeld befinden, nehmen wir nur ganz selten bewusst wahr (es sei denn, der Tisch ist neu). Gewohnheit bzw. Vertrautheit können aber zu einer Falle auf dem Entwicklungsweg werden. Wenn uns der Großteil unseres täglichen Lebens etwa so spannend wie ein Tischbein erscheint; wenn uns unsere Mitmenschen, unsere Tätigkeiten oder die Naturphänomene, denen wir begegnen, kaum noch aus der zunehmenden Dumpfheit zu reißen vermögen, aber umgekehrt vieles davon zu unserer Sorgenlast beiträgt, bleibt immer weniger Raum und Luft für einen positiven Entwicklungsprozess.
Statt auf dem Weg zur Bushaltestelle am Morgen die frisch aufgegangenen Knospen an den Bäumen am Straßenrand zu bestaunen, denke ich an das zu erwartende Gedränge im Bus. Statt neue Seiten an meinen Mitmenschen zu suchen, fokussiere ich nur noch auf das, was mich an ihnen nervt oder neidisch macht. Statt in ihrer Verschiedenfarbigkeit nehme ich die Wirklichkeit vor allem in Grautönen wahr. So wird scheinbare Vertrautheit zu bedrückender Routine. Der Grad der Selbstbezogenheit nimmt dabei sukzessive zu. Wir suchen dann Fluchtwege – intensiveres Erleben durch Ablenkungen, die uns aber ihrerseits wieder mit einem schalen Nachgeschmack zurücklassen. Es müssen stets neue Erlebnisse her, prickelndere, aufregendere. Schließlich besteht die Gefahr, dass der Fluchtweg der Ablenkungen zu einer Sackgasse der Sucht wird. Oder wir versinken, meist aufgrund eines Leides, von dem sich die Aufmerksamkeit nicht lösen kann, in Stumpfheit oder Niedergeschlagenheit bis hin zur Depression.
Bei solchen Abwärtsspiralen (Gewohnheit – Dumpfheit oder Leiden – Flucht oder Depression) wird die Wahrnehmung – die äußere wie die innere – generell beeinträchtigt.
So weit also zur Frage, warum wir nur so wenig von der Wirklichkeit in all ihren reichhaltigen Facetten von Augenblick zu Augenblick wahrnehmen – sowie zu den möglichen Folgen, wenn kein Bewussterwerden und kein zumindest partielles Entfernen solcher Schleierschichten einsetzt.
Und nun zur zweiten Frage: Warum erkennen wir das oben beschriebene Zusammenspiel von Sinneseindrücken, inneren Vorgängen und äußerem Handeln so selten als solches? Warum nehmen wir es eher diffus wahr und unterscheiden die Einzelelemente kaum voneinander?
Einerseits deshalb, weil die meisten dieser Abläufe sehr rasch vor sich gehen und die Unterscheidungen subtil sind. Der Hauptgrund ist aber ein anderer: Wir sind gewöhnlich in einem hohen Maß abwesend. Natürlich nicht körperlich, aber geistig.
Eine Ursache dafür liegt in der mit zunehmendem Alter auch zunehmenden Routine, wie oben beschrieben. Schauen wir aber genauer hin: Was passiert, wenn wir nicht im Hier und Jetzt präsent sind? Grob gesagt, kann die geistige Abwesenheit im Wachzustand zwei Formen annehmen: Die eine ist Absorption. Wir „verlieren“ uns in einer Aufgabe oder einem äußeren oder auch inneren Vorgang. Das heißt, wir verlieren weitgehend die Achtsamkeit auf das, was sonst noch in uns und um uns herum vorgeht. Es kann sich dabei beispielsweise um Gartenarbeit (aktive Absorption) oder einen Film (passive Absorption) handeln. Oder wir sind einfach am Grübeln. Ein Gradmesser für die Geistesabwesenheit ist das Ausmaß, in dem wir aufschrecken oder verstört sind, wenn uns jemand aus dieser Absorption herausreißt. Unsere Stimmung nach einer solchen Phase, wenn sich unser Bewusstsein wieder ins Hier-und-Jetzt ausweitet, hängt stark von der Qualität dessen ab, was uns so in Anspruch genommen hat (der Film war echt lausig/das war wirklich ein spannender Vortrag).
Nicht gemeint hier ist die wache Absorption, wenn wir uns in einem „Flow“ befinden (siehe Seite 237), in dem wir ohne Sonderanstrengung kreativ wirksam sind und uns alles leicht von der Hand zu gehen scheint. Selbstvergessen sind wir dann im Sinn von „egovergessen“, aber gleichzeitig sind wir achtsam und präsent, also geistesgegenwärtig. Nach einer solchen Phase bleibt unweigerlich ein Gefühl von Erfüllung zurück. Im Alltag erleben wir „Absorption“ oft als fluktuierend zwischen ihrer geistesgegenwärtigen und ihrer geistesabwesenden Form.
Die zweite Art der mangelnden Präsenz ist die Zerstreutheit, der umherschwirrende Geist. Den anstehenden Alltagsaufgaben teilen wir gerade so viel Prozent unserer gesamten Aufmerksamkeit zu, wie für deren Bewältigung nötig sind. Automatismen und eingeübte Reaktionsmuster sorgen dafür, dass in vielen Fällen schon ein kleiner Prozentsatz genügt. Mit dem Rest gehen wir auf Gedankenreisen. Von Außenreizen lassen wir uns immer wieder in neue Richtungen weglocken. Wir verlieren uns kurz in selbstgeschaffenen Vorstellungswelten. Wir führen imaginäre Gespräche. Oder wir sind am Wiederkäuen eines vergangenen, konfliktgeladenen Ereignisses, meist ohne das geringste Bewusstsein dafür, wie subjektiv und fragmentarisch unsere „Erinnerung“ an dieses Ereignis in Wirklichkeit ist. Die meist in rascher Folge ablaufenden Gedanken- und Fantasieexkurse sind von entsprechenden Emotionen begleitet, die im gleichen Maß Energie und Aufmerksamkeit in Beschlag nehmen, wie solche, die von „realen“ Vorkommnissen ausgelöst werden.
Im Hier und Jetzt sind wir also – ohne entsprechende Übung – in vielen Phasen des Alltags nur tief- bis mittelgradig präsent.
„Ja, ich komme.“ In fünf Minuten beginnt das Spiel, ich begebe mich zu unserer zwölfjährigen Tochter und ihren Rechenaufgaben.
„Wieso …?“, beginnt Jana.
„Du musst einfach die Strecke berechnen und dann durch 80 teilen – die Geschwindigkeit – und dann hast du die Zeit.“
„Wie …?“
„Jana, versuch’s doch einfach und ich komm später vorbei und schau, ob alles stimmt, okay?“
Ich eile zum Kühlschrank und hole mir ein Bier. Ein weiteres steht für die zweite Halbzeit bereit. Hab ich mir verdient.
Barcelona legt mit hohem Tempo los. Rasche Passfolgen. Kaum hat der Gegner mal den Ball, erobern die Barça-Spieler ihn mit enormem Laufaufwand gleich wieder zurück.
„Komm doch mal, bitte!“, höre ich Michaela vom Schlafzimmer aus rufen. „Warum liegen deine Kleider kreuz und quer auf dem Bett herum?“
„Ich räum sie in der Pause weg, okay?“
„Nicht okay. Ich will JETZT die Bettwäsche wechseln.“
„Scheiße.“ Ich springe auf – und stoße die Bierflasche um. „Merde!“ Ein Sprung, um die Flasche aufzufangen, bevor sie auf den Boden rollt, und ich stoße mit dem Schienbein kräftig gegen die Kaffeetischkante. „SHIT!“
„Schrei nicht so! Und ich hab den Lärm vom Fernseher satt! Bis da oben satt! Lärm den ganzen Tag schon im …“
„ICH KOMM JA SCHON!“
Stellen Sie sich einmal vor, dass alles, was in Ihrem Kopf vorgeht, eine viertel Stunde lang in Ton und Bild ungefiltert vor der ganzen Nachbarschaft ausgestrahlt würde. Was für eine Abfolge von x-fach wiederholten Belanglosigkeiten und Kleinlichkeiten, von Urteilen über alle und alles, von Begehrlichkeiten, von durch Sorgen aufgeblähte Visionen von Missgeschick und Unheil, von scheinbar zusammenhangslosen Erinnerungsfetzen, von unausgegorenen Fantasien, von teils widersprüchlichen Gedankenfragmenten, immer wieder begleitet von einzelnen Impressionen aus dem Umfeld. Das allermeiste davon ist selbstbezogen. Unter dieser Flut würden die paar vernünftigen Einsichten sowie die wenigen Ideen und Pläne, die wir zu Ende denken, wohl untergehen.
Erkenntnis Nummer eins: Dies ist wohl – erschlossen aus Selbstbeobachtung und der Annahme, dass ich nicht wesentlich anders ticke als andere, sowie aus allen mir sonst zur Verfügung stehenden Informationen – die Realität in den Köpfen eines Großteils der Erdbevölkerung. Wir brauchen uns also nicht zu schämen.
Erkenntnis Nummer zwei: Was erkannt wird, lässt sich ändern.
Erkenntnis Nummer drei (an dieser Stelle ist dies noch eine Behauptung, die im Lauf des Buchs untermauert werden soll): Bei reiferen Menschen gleicht die Abfolge von Gedanken und Vorstellungen mehr einem ruhigen Fluss und weniger einer chaotischen Flut; außerdem sind die Gedanken und Vorstellungen insgesamt weniger vage und bruchstückhaft, etwas weniger selbstbezogen und wohl auch insgesamt von höherer Qualität (also der Nachbarschaft eher zumutbar).
„Erkenne dich selbst!“, ist eines der Leitmotive der klassischen griechischen Philosophie. Denn nur so können wir in entscheidendem Ausmaß auf unser Verhalten Einfluss nehmen und das ändern, was wir als änderungsbedürftig erkannt haben. Dazu braucht es eine Bereitschaft zur „Innenschau“11. Und für eine auf Langfristigkeit angelegte, erhellende Innenschau ist wie schon gesagt die Meditation (samt meditativen Alltagsübungen) ein hervorragendes Werkzeug.
11 Ich ziehe diese Bezeichnung dem ebenfalls häufig verwendeten Begriff „Introspektion“ vor, denn bei letzterem klingt das Wort „Inspektion“ an und verleiht ihm so einen stark urteilenden Beigeschmack. Beim Blick nach innen geht es jedoch in erster Linie um Erkenntnis und, wenn überhaupt, erst in zweiter Linie um ein Werturteil.
Eine Hauptthese dieses Buches lautet: Ohne Bewussterwerden kein Reifen. Zum Bewussterwerden gehört nicht nur eine entnebelte Sicht auf das, was uns antreibt, sondern auch größere Klarheit über die Art, wie unser sogenanntes Wissen zustande kommt, auf das wir im Alltag bauen. Und auch Klarheit über die Möglichkeiten und Grenzen der Sprache, mit der wir dieses Wissen bzw. das, was uns bewusster geworden ist, in Begriffe zu fassen versuchen. Deshalb wird dem Wissenserwerb und der Sprache im Folgenden je ein Kapitel gewidmet, bevor wir uns der Meditation als einen weiteren Zugang zur Wirklichkeit zuwenden.
Zum Abschluss sollen die oben ausgeführten Alltagsvorgänge nochmals zusammengefasst werden: Es findet (im Wachzustand) eine praktisch permanente Interaktion von Außenwahrnehmungen, inneren Vorgängen und eigenem Agieren (Sprechen/Handeln) statt. Diese Interaktion läuft – ununterbrochen – ungefähr so ab: Sinnes- und Stimmungsaufnahme aus dem Umfeld, unbewusstes Filtern dieser Wahrnehmungen, emotionale Reaktionen, Handlungsimpulse, gedankliche Deutung sowie Eingliederung in den Strom der vorhergehenden Gedanken und Emotionen. Dieser Strom wird zeitweise angereichert mit assoziativ hinzukommenden Erinnerungen, Erwartungen und Fantasievorstellungen sowie Trieb- und Willensschüben und wird, kraft all dieser Elemente, in stets wechselnde Richtungen geleitet. Aus diesem Strom heraus erfolgt reaktives bzw. gewohnheitsmäßiges (weit seltener: bewusst gewähltes) Sprechen und/oder Handeln, was seinerseits wiederum Eindrücke, Gedanken und Reaktionen auslöst. Wohlgemerkt: All dies ist nichts Spezielles, nichts Berichtenswertes. So sieht unser ganz normaler, von außen gesehen meist ziemlich ereignisarmer Alltag aus, wenn wir ihn genauer unter die Lupe nehmen.
2.1.2 Vom Erfassen der Wirklichkeit (Verstand – Gefühl – Intuition)
Bengt verlässt nach einem Interview für eine Stelle als Websiteredaktor das Bürogebäude der Firma und setzt sich in ein nahe gelegenes Teehaus. Dort läuft das Interview wie ein Film vor seinen Augen ab. Mit dem Verstand geht er den Dialog nochmals durch. Eigentlich gab es keine Fragen, die ihn wirklich aus der Bahn geworfen haben, eigentlich wusste er auf alle eine Antwort. Was er sagte, war vielleicht nicht unbedingt brillant oder originell, aber doch, so denkt er, eigentlich sachgerecht. Sein Gefühl, merkt er, wirft penetrant dieses „eigentlich“ auf. Etwas macht ihn unzufrieden. Nun geht der Verstand hierauf ein und versucht zu analysieren. Es muss an der Körperhaltung der Abteilungsleiterin gelegen haben. Auch ihr Ton war konstant förmlich, sie strahlte keinerlei Willkommenswärme aus. Vielleicht ist sie aber immer so? Eine Woche später erhält Bengt eine Zusage der Firma. In der Folge reiht sich bei ihm eine Vorstellung zum Thema „Bewerbungsgespräch“ in sein Bild der Wirklichkeit ein, die etwa so aussieht: es handelt sich dabei um ein formelles, unpersönliches Treffen, verbunden mit einem Gefühl der Verlorenheit – man weiß nie, woran man ist. Dieses „Wissen“ wird erst Jahre später bei einem erneuten Stellenwechsel infrage gestellt, nachdem er ein offenes und warmherziges Gespräch mit dem zuständigen HR-Manager erlebt hat.
Im folgenden Fall kommt ein weiteres Element ins Spiel: Ein Kollege erzählt Elisabeth, die letzte Referentin beim Seminar mit dem Thema „Altern in Würde“ sei eine weise Frau gewesen. Hier beginnt das Verstehen bei Elisabeth mit dem intuitiven Erfassen von „weise“. Als Ganzes, ohne Bedarf an Einzelheiten. Als Elisabeths Kollege fragt, ob sie sich vorstellen könne, was er damit meint, sagt sie ohne zu zögern ja. Irritiert vielleicht von der allzu raschen Antwort, fragt er nach, was sie denn unter „Weisheit“ verstehe. Erst hier gerät Elisabeth ins Stocken. Der Verstand wird eingeschaltet; gleichzeitig muss sie aber auch intensiv nachspüren. Dann schlägt sie, etwas verunsichert, folgende Begriffe vor: gelassen, mit einem Sinn für Wichtiges, wohlwollend, Ruhe ausstrahlend. „Ja“, bestätigt ihr Kollege, „und zudem hat sie einen wunderbaren Humor.“ „Das wollte ich auch gerade erwähnen“, sagt Elisabeth und strahlt. Ihr Vertrauen in die eigene Fähigkeit, Dinge zu erfassen, ist wiederhergestellt.
Gehen wir nun von spezifischen Fällen zum Phänomen des Wissenserwerbs im Allgemeinen über. Denn es geht in diesem Buch um Reifen, und bei einem Reifungsprozess ist das kritische Hinterfragen des eigenen Welt- und Selbstbildes ein essenzielles Element, ohne das ein „Ausbruch“ aus gewohnheitsmäßigen Denk- und Handlungsweisen kaum möglich ist.
Unser Gesamtbild der Wirklichkeit (dazu zählt unser Selbstbild, Menschenbild und Weltbild) beruht auf einem Grundgerüst an subjektivem Wissen. Warum subjektiv? Weil es sich bei unserem Wissen nicht, wie man vielleicht spontan meinen könnte, um ein Gebäude aus Fakten handelt, sondern um eine ganz persönliche Ansammlung von gewerteten und gewichteten Informationen, Erfahrungen, Vorstellungen, Erinnerungen und Schlussfolgerungen. Schauen wir die Wissensarten im Einzelnen an: Da gibt es natürlich die nachweisbaren Fakten (Paris ist die Hauptstadt von Frankreich; meine Schwester ist verheiratet). Dann gibt es das praktische Wissen (wie man die Waschmaschine bedient) und das Sachwissen (wie die Waschmaschine von innen aussieht; wie sie funktioniert). Damit hört die Objektivität bereits auf. Weitere Komponenten unseres Wissens bilden sich durch die jahrelange Verarbeitung von eigenen Erfahrungen sowie von direkt oder indirekt zur Kenntnis genommenen fremden Erfahrungen (dazu gehört auch alles, was wir lesen und hören). Schließlich spüren wir noch vieles, und auch das wird in den Mix integriert. Aus all diesen Komponenten ziehen wir – viel häufiger unbewusst als bewusst – Schlüsse (bzw. subjektive Querverbindungen), und aus den angesammelten Schlüssen ergibt sich eine gewisse Geisteshaltung. Diese Geisteshaltung ist besonders wirkmächtig in Bezug auf unser Weltbild, denn sie spielt, zusammen mit der psychischen Verfassung, bei der Auswahl aus den unendlich vielen zur Verfügung stehenden Informationen, Eindrücken und Erinnerungen bzw. bei deren Ausblendung oder Verdrängung eine zentrale Rolle.
Die Beispiele zu Beginn des Kapitels machen es klar: Unsere Aneignung von Erkenntnis findet auf verschiedenen Ebenen statt. Da gibt es die intellektuelle Ebene, die memorisiert, analysiert, systematisiert und logische Schlüsse zieht und so faktisches Wissen sowie sachlich begründbare Ansichten beisteuert. Dann die gefühlsmäßige Ebene, wo, stark beeinflusst auch von emotionalen Reaktionen, konkrete Gegebenheiten mit unserem Sensorium für Empathie wahrgenommen und gewertet werden, was zu empathischen Einsichten führt. Und eine weitere Dimension des Wissens gibt es noch, und diese ist für unsere Zwecke unentbehrlich, nämlich die intuitive Ebene. Aus dieser Dimension steigen fundamentale Ahnungen auf, sofern der Zugang dazu nicht durch seelisch-geistige „Kontraktion“ aufgrund von Ängsten, Begierde, Wut, Niedergeschlagenheit, Hochmut usw. blockiert wird. Dieser Ebene entspringt jenes sofortige, begriffslose Verständnis von „weise“ im obigen Beispiel. Solch intuitives Wissen bildet sozusagen die Grundierung unseres Selbst- und Weltbildes (mehr hierzu unten).
Tendenziell ist das empathisch erfasste Wissen subjektiv bzw. persönlich, das intuitiv erfasste transpersonal. Das heißt, die Quelle von Letzterem ist unfassbar. C.G. Jung (1875–1961), der ganzheitlich denkende Psychologe, brachte Intuition mit dem kollektiven Unbewussten in Zusammenhang. Intuitives ist eher unabhängig vom Raum und den uns umgebenden Menschen, Gefühltes hingegen nehmen wir oft aus dem Umfeld auf. Letztlich ist es aber müßig, darüber zu streiten, ob bei einer nicht rein logisch-empirisch fassbaren Einsicht der gefühlsmäßige oder intuitive Anteil größer ist. Verstand, Gefühl und Intuition arbeiten zusammen, wenn auch anteilsmäßig je nach Fall verschieden. Sie mit rationalen Mitteln auseinanderzudividieren, gelingt deshalb nur ansatzweise. Das vielleicht beste Unterscheidungsmerkmal ist ihre Geschwindigkeit, denn in ihrer Zusammenarbeit sind sie nicht synchron: Am schnellsten ist die Intuition („die Einsicht kam blitzartig“, heißt es manchmal); das gefühlte Wissen seinerseits steht schneller zur Verfügung als das gedachte. Diese Unterschiede in der Erkenntnisgeschwindigkeit zeigen sich beispielsweise, wenn ein intuitiv-extrovertierter Mann (gemäß Jungscher Typologie, siehe Seite 250) die Sätze seiner Gesprächspartner zu Ende spricht, bevor diese sie zu Ende gedacht haben, weil er intuitiv ahnt, was kommen wird (eine Angewohnheit, die er im Rahmen seines Reifeprozesses erkennen und sich rasch abgewöhnen sollte).
Betrachten wir das Zusammenspiel von Verstand, Gefühl und Intuition nochmals anhand eines Beispiels: Richard argwöhnt, dass der alleinstehende Nachbar ein Auge auf seine Frau Laura geworfen hat. Diese Vorstellung stammt in erster Linie aus dem, was er gefühlt aus den Begegnungen zu dritt aufgenommen hat (vor allem aus der Wortwahl und Tonlage des Nachbarn sowie seiner Art, Laura anzusehen). Diesem beigemischt werden vermeintlich sichere Fakten über ihn (Richard ist zu Ohren gekommen, dass dieser Nachbar schon mehrere Partnerschaften in kurzer Folge hinter sich habe), Richards Projizierung der eigenen Vorlieben und Triebe und die dadurch ausgelösten emotionalen Regungen. All dies zementiert den Verdacht. Dem gegenüber steht das kurze und gefühlt aufrichtige Beteuern seiner Frau, dass sie definitiv nicht interessiert sei. Eines Morgens wacht Richard auf mit einer plötzlichen inneren Klarheit, dass er übertrieben habe und der Nachbar keine Gefahr für seine Ehe darstelle. Woher diese Sicherheit kommt, ist ihm schleierhaft. Sie vergeht wieder; Richards Zweifel kehren zurück. Das Spiel kann weitergehen.
Wichtiger als ein analytisches Auseinanderdividieren ist es für unsere Lebenspraxis, den Gebrauch und die Koordination dieser wunderbaren Erkenntnisinstrumente zu optimieren. Konkret kann das heißen, den Verstand nicht durch einen Schwall an Gefühlen zu vernebeln. Oder umgekehrt, uns nicht durch die Beschränkung auf verstandesmäßig Erfassbares den Zugang zu nuancierteren, wenn auch weniger fassbaren Einsichten zu verbauen.
Auch für das gegenseitige Verständnis sind gefühlsmäßige und intuitive Bestandteile unerlässlich. Ein weiteres Beispiel soll dies illustrieren (auch um zu zeigen, dass das intuitive Verständnis von „Weisheit“ keinen Sonderfall darstellt): Nehmen wir den Satz „Wir sind alle mitgeprägt von der Gesellschaft, in der wir leben.“ Unproblematisch, nicht wahr? Absolut verständlich. Und doch, wie definiert man eigentlich „Gesellschaft“? Ist es das Umfeld (wie immer dieses einzugrenzen ist)? Die Nation? Die Sprachgemeinschaft? Der „Westen“ im Gegensatz zum „Osten“? Die Summe aller Menschen, mit denen ich direkt oder indirekt zu tun habe? Aber dann wäre meine Gesellschaft eine andere als die meines Bruders. Nichts passt. Und doch wird kaum jemand reagieren mit: „Ich verstehe diesen Satz nicht.“ Wir erahnen (wie beim Wort „weise“), was mit „Gesellschaft“ gemeint ist. Mehr noch, es ist ein gemeinsames Erahnen. Es gibt ein transpersonales Bewusstsein um die Bedeutung des Wortes. Das Verständnis kommt aus einer tief verankerten, intuitiven Wissensquelle, und beim Schöpfen aus dieser Quelle wirken Gespür, Einfühlen und Intellekt zusammen. Und es bestätigt sich, was zum Ablauf des Verstehensprozesses schon gesagt wurde: Zuerst kommt das intuitive Erfassen, dann erst das Ringen um Details, um die möglichst präzise sprachliche Ausformulierung. Ein rein rational erworbenes Wissen, ohne ein empathisches und intuitives (ganzheitliches) Verstehen, wäre derart fragmentarisch und von Mensch zu Mensch verschieden, dass sich jeder sprachliche Austausch als äußerst mühsam, in vielen Fällen sogar als unmöglich erweisen würde. Umgekehrt würde eine Vernachlässigung des Verstandes zu diffusen und ebenfalls schwierig zu kommunizierenden Wissensinhalten führen. Alle drei – Denkvermögen, Einfühlungsvermögen und Offenheit für Intuition – sind also unabdingbar.12
12 Grob gesagt, verläuft die Unterscheidung dieser drei Arten des Erfassens von Wirklichkeit parallel zu jener zwischen intellektueller, emotionaler und spiritueller Intelligenz, gemessen oder ausgedrückt als IQ, EQ und SQ. Wenn zuvor nach Geschwindigkeit unterschieden wurde, so jetzt nach Subtilität bzw. Messbarkeit. Schon IQ-Tests werden heute nur noch als Einschätzung, nicht mehr als genaue Bestimmung des Denkvermögens betrachtet. Noch weniger messbar ist die emotionale Intelligenz (EQ), und wie soll die subtilste der drei, die spirituelle Intelligenz (SQ), empirisch eingefangen werden?
Die drei arbeiten laufend zusammen. Sie funktionieren dabei aber auch als gegenseitige Kontrollinstanz. Was bedeutet, dass Verstand, Gefühl und/oder Intuition fallweise miteinander in Widerstreit liegen können.
Ich war damals vierzehn, Jean demnach zwölf und Mira acht. An dem Tag, als unsere Mutter Jean und mich zu sich rief. An dem Tag, als sie uns mitteilte, dass unser Vater, der nach seinem Autounfall in Frankreich schon auf dem Weg zur Besserung war, nicht mehr nach Hause zurückkehren wolle. Es blieb aber nicht bei dem einen Schock, der allein schon unsere Welt auf den Kopf stellte. Unsere Mutter machte uns klar, dass sie ihn nie hätte heiraten sollen.
„Ich hätte auf mein Bauchgefühl hören sollen.“
„Warum kommt er nicht mehr zurück?“, fragte Jean.
„Warum hast du ihn dann geheiratet?“, schoss es aus mir hervor.
Wir schauten uns alle drei an, schweigend, Jean kreidebleich. Eine unsägliche Wut stieg in mir auf, zusammen mit der immer deutlicher werdenden Gewissheit, dass unser Leben nie mehr das Gleiche sein würde.
Unsere Mutter versuchte nach und nach, uns ihre Seite der Geschichte klarzumachen. Sie war nicht mehr die Jüngste, als sie unseren Vater kennenlernte. Er war ein gut aussehender Franzose, der Deutsch mit einem charmanten Akzent sprach und aus Geschäftsgründen regelmäßig in unsere Stadt reisen musste. Und er machte ihr den Hof. Ihre Freundinnen beneideten sie. Da habe sie ja gesagt. Obwohl sie schon zu jener Zeit merkte, dass er ihr kaum je in die Augen blickte, wenn sie miteinander sprachen.
Ein Hochzeitsfoto habe ich noch. Anna und Arnaud. Sie strahlt. So kann man sich von einer Momentaufnahme täuschen lassen.
Als er mehrere Tage lang nicht nach Hause kam, war das für uns nichts Ungewöhnliches. Als Kontrolleur von Werkbänken zur Herstellung von Präzisionsinstrumenten war er viel unterwegs. Frankreich, Deutschland, Schweiz, Österreich. Dann erhielten wir die Nachricht vom Unfall in der Nähe von Lyon. Er lag verletzt im Krankenhaus. Meine Mutter fuhr hin; unsere Großmutter zog für ein paar Tage zu uns ins Haus. Und schließlich jener Tag, an dem meine Mutter zurückkam. Ich erinnere mich noch, dass sie Jean und mich genau dann zu sich rief, um uns die Nachricht zu übermitteln, als Großmutter einkaufen gegangen war. Heute weiß ich, dass sie sich schämte. Sie hat wahrscheinlich nie aufgehört, sich zu schämen. Bis sich vor wenigen Jahren die Demenz bemerkbar machte.
Bei der Heranbildung eines Gesamtweltbildes lässt sich eine große Bandbreite an Klarheit, Differenziertheit und Lernbereitschaft feststellen. Wie bei so vielen anderen Themenpunkten in diesem Buch gibt es dabei kein Entweder-Oder, kein Schwarz-Weiß. Die Unterschiede sind graduell. Am einen Ende der Skala befinden sich diejenigen Menschen, deren Bild der Welt und des Menschseins unreflektiert und voller Stereotype, Generalisierungen und Vorurteile ist. Ein Bild ferner, über welches sie wenig Kontrolle haben, denn es dringt nur wenig davon klar in ihr Bewusstsein durch. Tendenziell sind solche Menschen auch für ein Lernen über Fach- und Sachkenntnis hinaus kaum offen (Haltung: Ich weiß ja sowieso Bescheid, und was ich nicht weiß, interessiert mich nicht), und somit auch kaum geübt im bewussten Umgang mit subtileren – empathischen oder intuitiven – Wahrnehmungen. Am anderen Ende der Skala sind Menschen, die neugierig sind auf weit mehr als nur das, was nützlich ist; die der Sehnsucht nach Verständnis des großen Ganzen Raum und Zeit geben; die außerdem fähig sind, empathische und intuitive Wahrnehmungen bewusst zu registrieren, abzuwägen und einzuordnen. Und die in Anerkennung der Beschränktheit und Subjektivität des eigenen Wissens bereit sind, das eigene Bild der Wirklichkeit fortlaufend mit Input von außen abzugleichen, zu korrigieren, zu verfeinern und zu erweitern.
Irgendwo zwischen diesen Extremen befinden Sie sich zurzeit. Irgendwo befinde ich mich. Es geht nicht um eine Rangordnung; Reiferwerden ist kein Wettbewerb. Wichtig ist allein der Wille, sich in Richtung einer klareren und differenzierteren Erfassung der Wirklichkeit weiterzuentwickeln.
Schauen wir die drei Erkenntnisebenen nun im Einzelnen etwas genauer an. Daneben sollen weitere Begriffe aus dem gleichen Bedeutungsfeld erläutert werden. Nicht um allgemeingültige Definitionsversuche geht es dabei, sondern vielmehr um Klarstellung, wie diese Begriffe im vorliegenden Buch verwendet werden.
Verstand
„Verstand“ bezeichnet das Instrument, das einen rationalen Umgang mit Input aller Art ermöglicht. Er zieht logische sowie verallgemeinernde Schlussfolgerungen aus Gehörtem, Gesehenem, Gelesenem, Gespürtem und aus Erfahrungen. Durch ihn werden Letztere auch kategorisiert, was wiederum verhindert, dass unser Gedächtnis aus einem unbrauchbar chaotischen Sammelsurium an ungeordneten Fakten und Eindrücken besteht. Er trägt bei zur laufenden Beurteilung dessen, was wir wahrnehmen und was uns widerfährt. Er stellt ferner Bausteine zur Verfügung für Vorstellungen beim bildlichen Denken. Überprüfen Sie einmal bei sich selber: Wie viel von Ihrem Denken ist sprachlich ausformuliert, wie viel besteht aus diffusen bis klaren inneren Bildern?
Der Verstand bedient sich beider Methoden. In Bildern zu denken, ist oft einfacher und erspart uns die Mühe des Formulierens. Sprache wiederum ist im Kopf oft als Widerhall von Gehörtem oder Gelesenem vorhanden und wird verwendet, um sich Dinge klarer zurechtzulegen. Und natürlich auch, um zu kommunizieren und somit soziale Kontakte aller Art in Gang zu halten. Der Verstand ist ein wunderbares Werkzeug, aber er hat seine Grenzen. Das stellen wir jedes Mal fest, wenn wir um Worte ringen, obwohl wir genau spüren, was wir eigentlich formulieren möchten.
Gefühl
Mit „Gefühl“ ist hier ein empathisch erspürtes Wissen gemeint. Unser Gefühl unterscheidet feiner als der Intellekt. Da es aber vom Denken und von der emotionalen Wetterlage wesentlich beeinflusst und zum Teil beeinträchtigt wird, kann es sich, wenn ausformuliert, genauso leicht als irrig wie als zutreffend erweisen. Um einen irrigen gefühlsmäßigen Schluss handelt es sich beispielsweise, wenn Menschen aufgrund von bruchstückhaften Informationen einerseits und starken Emotionen andererseits das „Gefühl“ haben, die Anzahl von Schwerverbrechen in ihrem Land sei am Zunehmen, obwohl Statistiken klar belegen, dass sie in Tat und Wahrheit rückläufig ist.
Schauen Sie sich ein paar Videos an – auf YouTube oder anderswo – auf denen Menschen sich zu einer kontroversen Angelegenheit äußern (Migration, Umweltgefährdung, Kapitalismus usw.). Es soll dabei weniger um den Inhalt gehen (darum kümmert sich der Verstand), sondern um den Geist hinter dem, was gesagt wird, nämlich einen im ethischen Sinn guten oder weniger guten. Dieser verrät sich stärker durch die Sprechweise (Wortwahl, Tonfall) sowie die Mimik und Gestik der Sprechenden als durch die Aussagen selbst. Wirkt das, was gesagt wird, mehrheitlich wohlwollend, respektvoll und authentisch? Oder eher zynisch, abwertend und/oder unauthentisch (die Person sagt das, was ihr nützlich erscheint)? Dies stellen wir, bewusst oder unbewusst, mit unserem Gefühlssensorium fest (auch Einfühlungs- oder Empathievermögen genannt; alle drei Begriffe sollen hier synonym verwendet werden). Die Beurteilung solcher Aussagen erfolgt jedoch gemäß unserer eigenen Geisteshaltung. Und natürlich suchen wir am ehesten nach solchen Aussagen, die mit unserer eigenen Haltung in Resonanz treten.
Beim Gefühlssensorium geht es, wie gesagt, um ein laufendes Erfassen von Signalen – etwa einem Gesichtsausdruck – und Schwingungen. Es nimmt zum Beispiel die Spannung in einem Raum oder die lebendige Ruhe einer blühenden Wiese wahr. Gefühl in diesem Sinn könnte man auch als ein aus den Umständen erspürtes Wissen bezeichnen, was in einem alltäglichen Satz wie „Ich habe das Gefühl, dass er nicht kommen wird“ deutlich zum Ausdruck kommt. Niemand würde sagen: „Ich habe die Emotion, dass er nicht kommen wird“ (siehe dazu die Erläuterungen zu „Emotion“ unten). Von diesem gefühlten Wissen dringt bei Weitem nicht alles ins Bewusstsein durch. Das meiste bleibt vage, nur manches findet in Vorstellungen oder Gedanken eine Ausprägung. Denn diese weisen klarere Konturen auf und sind somit leichter „festzuhalten“. Wie gesagt, das gefühlte Wissen kann sich, genau wie das verstandesmäßige, als Täuschung oder Illusion erweisen. Ob irrig oder nicht, im erlebten Augenblick sind unsere Gefühle, ebenso wie die affektiv hochschwappenden Emotionen, jeweils eine reell wirksame Kraft.
Das Einfühlungsvermögen vermittelt uns auch Stimmungslagen. Um einen anderen Ausdruck zu verwenden: Wir nehmen damit Energiefelder wahr. Und zwar ob wir wollen oder nicht. Stellen Sie sich folgende Situation vor, die Ihnen wahrscheinlich bekannt vorkommt: Im Vorfeld eines schwierigen Gruppentreffens nehme ich mir vor, Ruhe zu bewahren und mich keinesfalls zu unüberlegten Aussagen hinreißen zu lassen. Dieser Gedanke allein beruhigt mich bereits; ich betrete den Raum mit Zuversicht. Es kommt anders. An einem bestimmten Punkt des angelaufenen Gesprächs merke ich plötzlich, dass ich entnervt am Schreien bin. Was ist passiert? Während ein eher ruhiges Energiefeld mich umgab, als ich noch allein war, ließ ich mich in das Gesamtenergiefeld der versammelten Personen, das wesentlich mehr Spannungen enthielt, hineinsaugen. Natürlich begann sich die Negativität auch in mir auszuwirken. Natürlich deshalb, weil ich mir dieses Phänomens völlig unbewusst war.
Wenn wir an dieser Stelle wieder den Bogen zu unseren Hauptthemen schlagen, so schälen sich zwei wichtige Punkte heraus: Um uns unseres eigenen Verhaltens bewusst zu werden und dieses besser steuern zu können, müssen wir auch das Phänomen der Energiefelder und ihre Auswirkungen auf uns kennen. Und zweitens, wie in den nachstehenden Kapiteln ausgeführt, ist Meditation ein ausgezeichnetes Hilfsmittel, um dies zu erreichen.
Emotion
Das Wort „Emotion“ soll im Sinn einer unmittelbaren, affektiven Reaktion auf Wahrnehmungen, Gedanken und innere Bilder verwendet werden. Vielleicht kommt jetzt der Einwand, Emotionen seien auch Reaktionen auf Situationen. Aber: Situationen erleben wir immer nur durch den Filter unserer Wahrnehmung, nie „direkt“ bzw. objektiv.
Wenn unser Gespür für den Körper wach genug ist, lässt sich am eigenen Leib feststellen, dass Emotionen – besonders ab einem gewissen Intensitätsgrad – jeweils körperlich lokalisierbar sind. Davon zeugen auch sprachliche Wendungen wie „Das bereitet mir Bauchweh“, „Es schnürt mir die Kehle zu“ oder „Es ist ihm etwas über die Leber gekrochen“. Anders als beim intuitiven „Bauchgefühl“ handelt es sich dabei nicht um eine „Eingebung“, die zu meinem Wissensspektrum beiträgt, sondern um eine Reaktion auf Gedachtes oder Wahrgenommenes.
Vereinfacht gesagt: Durch Intuition und Gefühle wird unser Wissen bereichert, durch Emotionen wird es gefärbt, eventuell verdunkelt. Selbstverständlich sind diese Übergänge in Wirklichkeit fließend.
Stimmung bzw. Gestimmtheit
Sie stehen beide für einen länger anhaltenden affektiven Zustand, wobei die ursprünglichen Emotionen durch entsprechende Gedanken- und Emotionsketten, aber auch durch physiologische Vorgänge, eine Weile lang perpetuiert werden. Eine solche „Weile“ kann auch sehr lange anhalten (z. B. bei einer Depression), erfährt aber doch stets Fluktuationen und geht praktisch immer früher oder später in eine andere „Großwetterlage“ über.
Intuition
„Intuition“ wird in diesem Buch in einer zweifachen Bedeutung verwendet.
Erstens bezeichnet sie ein blitzartiges inneres Aufleuchten, das, wenn es erfasst wird und wichtig erscheint, danach mit dem Verstand und Gefühl ausgeformt werden muss. Zumeist ist eine intuitive Einsicht subtil und leicht zu verpassen, d. h. ihr „Leuchten“ kann schwach sein und rasch überdeckt werden. Verwendet man als Vergleich statt des Lichts eine innere Stimme, so ist diese leicht zu überhören, und es braucht wenig, um sie zu übertönen. Man muss hellhörig sein.
Zweitens spreche ich hier auch von intuitiven Ahnungen, die zu einem dauerhaften „Grundton“ bzw. einer „Grundfärbung“ meines Gesamtweltbildes werden können; anders gesagt, wirken sie als „Bindekraft“ zwischen fragmentarisch vorhandenen Wissenseinheiten. Lassen Sie mich das erklären. Seit wir denken können, tragen wir ein Gesamtweltbild mit uns herum. Wie sich dieses mit Inhalten füllt, wurde oben schon erörtert. Ein Gesamtweltbild duldet keine Lücken. Als Kind ist ein solches Weltbild noch mit vagen Inhalten und mit magischen Vorstellungen gefüllt. Später kommt mehr und mehr Sach- und Erfahrungswissen hinzu. Damit ein Gesamtbild erhalten bleibt, verknüpfen wir kraft unseres Bauchgefühls (zu den körperlichen „Einfallsorten“ siehe unten) neue Elemente blitzschnell mit bestehenden und ziehen meist völlig unbewusst Schlussfolgerungen. Diese werden, solange wir sie nicht hinterfragen, gleichwertig mit überprüfbaren Fakten als „Wissen“ gespeichert. So ergibt sich dann leicht das, was bereits in der Einführung als die Illusion des Bescheidwissens zur Sprache kam.
Die Funktion des Intuitiven als Bindekraft ermöglicht uns außerdem das intuitive Erfassen von Wortinhalten und damit den Spracherwerb (wie wir anhand der Beispiele „Weisheit“ und „Gesellschaft“ gesehen haben). Denn wie anders als intuitiv sollte ein Kleinkind, dessen abstraktes Denkvermögen noch kaum entwickelt ist, sich rational derart schwierig zu fassende Begriffe wie „Gott“13, „gut“ und „böse“, „lieb“ oder „schön“ mühelos aneignen können?
13 Hierzu noch eine Begebenheit aus dem eigenen Umfeld, berichtet von einer Bekannten: Als ihr Sohn rund fünf Jahre alt war, hat sie ihm von Gott erzählt. Sie wollte mit Erklärungen nachhelfen, als der Junge sie mit einer eigenartigen Dringlichkeit unterbrach: „Mama, sag nichts mehr. Ich weiß schon, was du meinst.“
Da Intuition im Vergleich zu Verstand und Gefühl die am wenigsten fassbare und daher auch am meisten unterschätzte oder gar ignorierte Erkenntnisquelle ist, andererseits aber, wie eben dargelegt, für unser Gesamtwissen unentbehrlich ist, soll sie hier etwas genauer unter die Lupe genommen werden. Nochmals: Intuitives Wissen ist kein Faktenwissen. Es geht um ganzheitliche Ahnungen ohne definierbaren und damit einschränkbaren Inhalt. Es ist richtungsweisend und wird somit auch bei Fragen nach wahr oder unwahr, gut oder schlecht (Gewissen!), stimmig oder unstimmig wirksam. Aber die konkreten Inhalte müssen jeweils situationsbedingt vom Verstand mithilfe des Einfühlungsvermögens geliefert werden.
In unseren Sprachen wird intuitive Einsicht manchmal körperlich lokalisiert. Auf Deutsch haben wir das Wort „Bauchgefühl“, im Englischen das Pendant „gut feeling“ („guts“ sind die Eingeweide). Und das ist kein Zufall. Denn in der Magen-Darm-Gegend liegt das enterische Nervensystem (auch Darm- oder Eingeweidenervensystem oder „Bauchgehirn“ genannt). Es handelt sich dabei um ein Geflecht aus mehreren 100 Millionen Nervenzellen, das autonom funktioniert. Es könnte also, im Austausch mit dem Gehirn, durchaus als „Leitung“ für Einsichten von außen fungieren, die nicht via die Sinnesorgane oder das Herz (Einfühlungsvermögen) empfangen werden. Im ursprünglich aus dem Hinduismus stammenden Chakra-Modell hingegen ist der Empfangsort für „höheres“ bzw. intuitives Wissen das sechste Chakra, das auf Stirnhöhe, oberhalb der Nasenwurzel, situiert ist und auch das „dritte Auge“ genannt wird. Offensichtlich können also verschiedene Körperregionen bei der Wahrnehmung von intuitivem Input involviert sein.
Wie steht es um das Phänomen der Intuition in den verschiedenen Sprachen und Kulturen? Auf Sanskrit, der Sprache der klassischen hinduistischen Texte, wird für die intuitive Wahrnehmungsfähigkeit das Wort „buddhi“ verwendet. „Manasastu para buddhi“, „Intuition entsteht jenseits des Verstandes.“14 Dieser Satz aus den Upanishaden, der auch in der Bhagavad Gita wiederholt wird, gehört zu den Grundlagen der hinduistischen Erkenntnislehre.
14 Katha Upanishad, 3, 10. Zit. in Sebastian Painadath, Vertiefung der christlichen Spiritualität durch Begegnung mit der östlichen Mystik; in Christian Rutishauser und Michael Hasenhauer (Hrsg.), Mystische Wege, S. 87. Sanskrittexte lassen sich stets verschieden übersetzen. Eine andere deutsche Wiedergabe des gleichen Satzes lautet: „Höher als das Denken ist die Einsicht.“. Zit. in Bettina Bäumer (Hrsg.), Upanishaden, Kösel, S. 226.
Auf Chinesisch heißt Intuition (zhi jue, „direktes Wahrnehmen“; jenes also, das sich vom Wahrnehmen via die Sinnesorgane oder via das Denken unterscheidet).
Das Altgriechische, Sprache Nummer eins für Philosophie und Theologie ab ca. 500 v. Chr. für die nächsten gut 1000 Jahre, verwendet in diesem Zusammenhang das Wort νοῦς (nous). Grundsätzlich steht es für die menschliche Fähigkeit, etwas geistig zu erfassen, wird also manchmal auf Deutsch auch als „Vernunft“ wiedergegeben (nicht aber als „Verstand“, der nur das rein Rationale umfasst). In unserem Sinn von Intuition verwendet es etwa der bedeutendste neoplatonische Philosoph Plotin (205–270), wenn er „nous“ als „den transzendenten Intellekt, der das EINE in der Vielfalt wahrnimmt“15 umschreibt.
15 Plotin, Enneaden, 103. Zit. in Christian Rutishauser und Michael Hasenhauer (Hrsg.), Mystische Wege, S. 91.
Und Latein schließlich schenkte uns den Begriff „intuitio“, aus dem praktisch alle europäischen Sprachen ihr Wort für dieses Phänomen abgeleitet haben.
Intuition scheint also weltweit als Erkenntnisquelle erkannt worden zu sein. Und wie steht es heute um ihren Stellenwert? Für Edmund Husserl (1859–1938), einen bedeutenden Philosophen des frühen 20. Jahrhunderts, ist die Intuition als „Wesensschau“ ein wichtiges Element seiner „Phänomenologie“. Und Jürgen Habermas (geb. 1929), einer der Großen der deutschen Philosophieszene in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat zur Charakterisierung seines Denkens einmal mit folgendem Satz angesetzt: „Ich habe ein Gedankenmotiv und eine grundlegende Intuition.“16 Dort jedoch, wo empirisch belegbares Wissen im Vordergrund steht, fristete die unfassbare Intuition besonders im 20. Jahrhundert eher ein Randdasein.
16 Zit. in Neue Zürcher Zeitung, 15. Juni 2019, S. 44.
Zum Teil gilt das bis heute, obwohl sie erkenntnistheoretisch im 21. Jahrhundert eine gewisse Renaissance zu erleben scheint. Die US-amerikanische Psychologin und Professorin für Kognitionspsychologie Eleanor Rosch (geb. 1938) spricht in diesem Zusammenhang von „primary knowledge“ (unmittelbares Wissen)17. Und um zwei aktuell einflussreiche Stimmen zu erwähnen: Sowohl Ken Wilber (geb. 1949), der unter anderem eine Theorie der „grundlegenden moralischen Intuition“ entwickelt hat, als auch Claus Otto Scharmer (geb. 1961), etwa bei seiner „Theorie U“, weisen der Intuition eine zentrale Rolle zu.
17 Zit. in Marion Küstenmacher et al., Gott 9.0, S. 208.
Schließlich – und das ist wahrscheinlich für den Zeitgeist der gewichtigste Faktor – trägt auch die rasche Verbreitung von Achtsamkeits- und Meditationspraktiken zum neuerdings wieder erhöhten Stellenwert von Intuition als Erkenntnisquelle bei. Denn Meditation in all ihren Spielarten macht uns diesbezüglich empfänglicher.
Gedanklich abgrenzen lässt sich Intuition auch von Inspiration: Während es bei Intuition um Einsicht geht, geht es bei der Inspiration um den Impuls zu einer kreativen Tat. Natürlich können aber beide zusammenwirken.
Es gehört zum Reifeprozess, die Empfänglichkeit für intuitive, ganzheitliche Einsichten zu stärken. Und dazu braucht es Stille. Äußere Stille hilft; noch wichtiger ist aber die Stille in mir drinnen. Dank der äußeren Stille bei Meditationssitzungen erweist sich die bereits mehrmals angepriesene Meditationspraxis als ein ausgezeichnetes Werkzeug, um auch innere Stille wachsen zu lassen.
Differenzieren muss man bei der Intuition noch in Bezug auf die Intensität. Mystisches Aufleuchten ist sicher intensiver und erschütternder als das intuitive Erfassen eines Wortinhalts. Wie bei allen hier aufgestellten Kategorien sind die Unterschiede jedoch graduell, nicht absolut.
Noch eine wichtige Überlegung zu Gefühl und Intuition soll hier den Abschluss bilden. Ich kann Signale von innen oder außen wahrnehmen, sei es empathisch oder intuitiv, aber es gilt auch, diese zu prüfen. (Das Gewissen selbst ist eine intuitive Fähigkeit.) Bei einer derartigen Prüfung frage ich mich: Aus welcher Quelle oder aus welchem Energiefeld kommt ein derartiges Signal bzw. eine derartige Einsicht? Mischen sich bei mir Impulse aus niederen Beweggründen hinzu, etwa Begierde, Neid oder Ängstlichkeit, oder sind höhere Beweggründe wie etwa der Wunsch, einer Person eine Freude zu machen, mit im Spiel? Wie stark färben gängige Meinungen, Wunschdenken oder ideologische Voreingenommenheit das, was ich wahrnehme? Da braucht es ein aufmerksames Hinhören auf die oft subtilen Stimmen. „Unterscheidung der Geister“ nannte es Ignatius von Loyola (1491–1556), der Begründer der „Exerzitien“. Bei diesen handelt es sich um jene christliche Meditationsform, in der unter anderem genau dieses Unterscheiden geübt wird.
Fassen wir noch einmal zusammen: In der Reihenfolge „Verstand – Gefühl – Intuition“ als die Quellen unseres gesamten Wissens beobachten wir (von links nach rechts) eine zunehmende Geschwindigkeit beim Erkenntnisablauf, eine zunehmende Subtilität der Erkenntnis, eine abnehmende empirisch-objektive Fassbarkeit sowie eine abnehmende Präzision bei der sprachlichen Ausformulierung.
Gerade der letzte Punkt weist auf ein Dilemma hin. Denn auch „Reife“, unser Hauptthema, gehört in jenes Wissensfeld, das sich intuitiv sehr wohl verstehen lässt, sprachlich aber schwer in den Griff zu bekommen ist. Und da ich (noch) nicht in der Lage bin, telepathisch mit Ihnen zu kommunizieren, was die direkte Übertragung intuitiver Einsichten ermöglichen würde, muss ich hier wohl oder übel das Werkzeug Sprache zur Hilfe nehmen. Dieses beschränkte, aber unerlässliche und letztlich auch wunderbare Werkzeug soll nun im nächsten Kapitel beleuchtet werden.
Zur Weisheit – und damit zur Reife – gehört es, uns über die Arten, wie wir uns der Wirklichkeit annähern bzw. wie sie sich uns annähert, im Klaren zu sein. Auch darüber, dass wir sie nie vollständig zu fassen bekommen. Somit vermeiden wir es, unseren „Wissensschatz“ zu verabsolutieren. Vielmehr bleiben wir offen für Neues bei der Begegnung mit der Wirklichkeit – möglichst in jedem Augenblick.
Folgendes möchte ich Ihnen zum Schluss noch ganz persönlich nahelegen: Hören Sie genauer hin auf die leise Stimme der Intuition. Und schenken Sie ihr mehr Vertrauen. Sie kann uns aufblitzende Klarheit schenken. Sie kann aber auch gegen unsere Ängstlichkeit, Bequemlichkeit und gewohnten Denkmuster anflüstern. So gesehen kann sie entscheidende Impulse liefern für eine Entwicklung hin zu mehr Einsicht und größerer innerer Freiheit.
2.1.3 Von der Grobmaschigkeit der Sprache (und ihrer Unentbehrlichkeit)
Das höchste Prinzip ist ohne Worte. Gäbe es aber überhaupt keine Worte, wodurch könnte es sich dann als Prinzip offenbaren?
(Inschrift an einer chinesischen Buddhafigur aus dem Jahr 746)
Um Gedanken auszudrücken, benötige ich das Werkzeug der Sprache. Auch wenn ich meine Gefühle präziser als durch ein Grunzen mitteilen möchte, bin ich auf Sprache angewiesen. Die Fähigkeit, mit großer Differenziertheit Gedanken und Gefühle, Pläne und Absichten sprachlich zu artikulieren, ist von allen Faktoren, die den Menschen von seinen nächsten Verwandten im Tierreich unterscheidet und die zivilisatorische Entwicklung der Menschheit ermöglichte, vielleicht der entscheidende. 18 So gesehen ist eine Analyse unseres Alltags (mit Fokus auf das, was in uns und zwischen uns abläuft) ohne einen Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen der Sprache unvollständig.
18 Siehe hierzu David Christian, Big History, S. 196 ff.
Unser seelisch-geistiges Innenleben lässt sich weder sehen, hören, ertasten oder abbilden, noch logisch ableiten oder präzise empirisch einfangen. Es handelt sich um eine subtile Wirklichkeit. Um uns ihr annähern zu können, braucht es eine Innenschau, und diese ist, wie schon angedeutet, ein wesentlicher Aspekt des Reifeprozesses. Bewusst erkennen bedeutet aber auch, Einsichten so weit wie möglich sprachlich festzumachen. Gerade im Bereich des Innenlebens jedoch erweist sich die Sprache als ungenau und vage. Außerdem herrscht betreffend den Inhalt von Worten, die Phänomene dieses Wirklichkeitsbereichs zum Ausdruck bringen sollen, alles andere als Einigkeit. Denken Sie nur an Alltagsworte wie „Sinn“ oder „Seele“. Was ein einziges Wort da im Alltag abdecken soll, hat schon ganze Bücher gefüllt. Über solche subtile Elemente der Wirklichkeit selber größere Klarheit zu erlangen und Gedanken darüber anderen zu vermitteln, erfordert also einen anderen Sprachgebrauch, als jemandem den Weg zwischen meinem Zuhause und der Bushaltestelle zu erklären.
Um all dies präziser zu verstehen, machen wir an dieser Stelle einen Abstecher in die Sprachwissenschaft, und zwar zur Lehre des Wortinhalts. Hier kann zunächst ein Vergleich des Wortschatzes verschiedener Sprachen hilfreich sein. Im Deutschen haben wir beispielsweise das Wort „Schnecke“. Dieses deckt sowohl jene mit Häuschen als auch jene ohne ab. Im Englischen hingegen wird diesbezüglich stärker differenziert. Dort sagt man entweder „snail“ (für Schnecken mit Häuschen) und „slug“ (für Schnecken ohne).19 Umgekehrt ist das Deutsche mit der Unterscheidung zwischen „Mauer“ und „Wand“ nuancierter als das Englische, dem diesbezüglich nur das Wort „wall“ zur Verfügung steht. Die naive Vorstellung, Sprache bilde die Wirklichkeit im Verhältnis eins zu eins ab (ein Phänomen, ein Wort), lässt sich also leicht widerlegen.
19 Es geht hier um die Alltagssprache. Zoologen mit ihrer Fachterminologie werden natürlich solche Unterschiede in der Einteilung der Tiere vermeiden.
Wenn dies schon im Bereich des Konkreten gilt, so sind die Unterschiede im Nicht-Konkreten noch viel häufiger. Vergleichen Sie dazu:
Französisch: – le mal
Deutsch:5 – das Schlechte – das Böse
Deutsch: – vorsichtig
Englisch: – careful – cautious
– (vorsichtig) – (vorsichtig + zurückhaltend)
Englisch: – meaning – sense – reason
Deutsch: – Bedeutung … Sinn – Vernunft
In den ersten beiden Beispielen ist – wie bei den zuvor aufgeführten konkreten Begriffen – die Gliederung innerhalb des Bedeutungsfelds je nach Sprache verschieden fein. Im zweiten Fall sind die Grenzen des Wortinhalts von einer Sprache zur anderen verschoben („meaning“ lässt sich somit, je nach Zusammenhang, mit „Bedeutung“ oder „Sinn“ übersetzen; „Sinn“ wiederum mit „meaning“ oder „sense“).
Sie sehen also: Sprache wählt aus und teilt ein; jede Sprache auf eine etwas andere Art.20
20 Diese Ausführungen sollten nicht dazu verleiten, dass man vor lauter Unterschieden die Gemeinsamkeiten vergisst. Auch im nicht-konkreten Bereich überwiegen die Gemeinsamkeiten, besser gesagt, die Parallelitäten bei den Wortinhalten, bei Weitem (je verwandter zwei Sprachen sind, desto mehr). Beispiele solcher gemeinsamen Abstrakta: Philosophie, Demokratie, Religion, Charakter, Idee, Methode. Schlagen Sie diese Begriffe in einem spanischen, portugiesischen, holländischen, dänischen oder russischen Wörterbuch nach; überall werden Sie Wörter mit der gleichen Wurzel und der gleichen Bedeutung finden. Noch viel mehr Wörter sind zwar der Form und Herkunft nach verschieden, aber in der Bedeutung (praktisch) deckungsgleich (z. B. Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe – liberté, justice, amour).
Was folgt, gilt jedoch für alle Sprachen. Es geht um eine grundsätzliche Unterscheidung, was den Wortinhalt betrifft:
Worte haben einen Kerninhalt und einen gefühlten Inhalt. Die Linguistik spricht von der Denotation und der Konnotation eines Wortes. Denotation ist die Kernbedeutung. Konnotation ist das mit dem Wort gefühlsmäßig Verbundene, genauer gesagt, das gefühlte Wissen um den subtileren Inhaltsbereich eines Begriffs. (Von allen Sprachgattungen ist es die Poesie, die sich am stärksten der Konnotationen bedient.) Zu den Konnotationen, die sich die ganze Gruppe der muttersprachlichen bzw. kompetenten fremdsprachlichen Sprecher teilen, kommen persönliche Assoziationen hinzu. So bekommt jedes Wort für uns eine mehrschichtige „Gefühlshülle“. Je weiter nun ein Wort vom Bereich des Messbaren (Konkreten) entfernt ist, desto größer ist die Rolle dieser Gefühlshülle aus Konnotation und Assoziationen. Und desto größer ist auch die Gefahr von Missverständnissen. Hierzu vier Beispiele, vom Konkreten hin zum zunehmend Subtilen:
1) Ein Tisch lässt sich anschauen, betasten, messen und daher auch genau beschreiben. Die Konnotationen, die dieses Wort auslöst, sind meist von untergeordneter Bedeutung. Anhaltende Missverständnisse werden mit diesem Wort wohl nur sehr selten ausgelöst.
2) Die Denotation von Herz: ein inneres Organ, das den Blutkreislauf in Bewegung hält. Die Konnotationen: Gespür, Gefühl, Mitgefühl, Liebe, Sehnsucht, Kummer usw. Anhand dieses Beispiels lässt sich auch zeigen, dass sich die Rangordnung unter den Konnotationen je nach Situation, in der das Wort verwendet wird, ändern kann – manche sind jeweils präsenter als andere.
3) Die Denotation von Stille ist „Abwesenheit von Geräusch“. Die Konnotation, der Gefühlsinhalt, geht oft – besonders ausgeprägt in unserer unruhigen Zeit – in Richtung von „positiv empfundene, friedliche Ruhe“. Sie kann aber auch die gegenteilige Richtung einnehmen, im Sinne von „angstmachende Leere“.
4) Das vielleicht heikelste aller Worte ist Gott. Heutzutage wird darum oft ein richtiger Eiertanz veranstaltet, um ja niemanden vor den Kopf zu stoßen. Positiv betrachtet, ist dies keine schlechte Entwicklung, denn sie belegt eine wachsende sprachliche Behutsamkeit im Umgang mit einer letztlich unfassbaren Wirklichkeit. Die Schwierigkeiten kommen aber auch daher, dass kein Wort ärger missbraucht wurde und wird, und dass nach Aufklärung und Säkularisierung sowie aufgrund der religiösen Pluralität die Unsicherheit bezüglich der Wortbedeutung größer denn je ist. Deswegen scheuen heute so viele Menschen vor dem Begriff, ja der ganzen Thematik zurück, sodass „Gott“ in verschiedenen Situationen praktisch zu einem Tabuwort geworden ist.
Die Denotation von „Gott“ (das, was unbestreitbar zum Wortinhalt gehört): keine. Konnotationen: weitreichend und oft auch so tiefgreifend, dass sie zu allen Zeiten Menschen bis ins Innerste berührt haben und noch berühren. Dazu aber auch so unterschiedlich, dass sie zu fürchterlichen Konflikten geführt haben und immer noch führen. Die Macht der Worte leuchtet hier auf, ebenso die Macht der durch sie erweckten Emotionen. „Gott“ ist verstandesmäßig nicht fassbar. Und doch benötigen wir Worte, um diesen Inhaltsraum zumindest anzudeuten. Dies erkannten Mystikerinnen und Weise zu allen Zeiten (weitere Ausführungen hierzu in Kapitel 3). Bevor sich also zwei Menschen erhitzen, weil einer an Gott glaubt und der zweite behauptet, es gebe keinen Gott, sollten sie klarstellen, was sie unter dem Begriff verstehen. Wahrscheinlich verwenden sie dasselbe Wort, haben aber verschiedene Vorstellungen dazu.
In der zwischenmenschlichen Kommunikation genügt oft ein einzelner Begriff bzw. ein einziger Satz nicht, um etwas verständlich zu vermitteln. Zu verschieden sind die Inhalte, die der Sprechende vermitteln will, und die Inhalte, die der Hörende dabei aufnimmt. In meiner Erfahrung gehen die meisten Streitigkeiten auf derartige Missverständnisse zurück, und ich wage zu behaupten, dass ich diesbezüglich keine Ausnahme bin. Bevor also Streitigkeiten derart aufflammen, dass die Emotionen dem Verstand die Zügel aus der Hand nehmen, sollte mittels zusätzlicher Klärung versucht werden, die Kluft zwischen dem Gemeinten und dem Verstandenen zu verringern. Dies erhöht die Chance, dass die angesprochene Person das Phänomen auch wirklich annähernd so versteht, wie die sprechende es vermitteln will. Es kommt dann, um einen Kernbegriff des Philosophen Hans Georg Gadamer (1900–2002) in Bezug auf das gegenseitige Verständnis zu verwenden, mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einer Horizontverschmelzung.
Sprache kann aber nicht nur zu Missverständnissen führen (weil die Horizonte hinter dem Gesagten einerseits und dem Gehörten/Gelesenen andererseits verschieden sind), sie kann auch viel Schlimmeres anrichten. Und ich meine hier nicht nur Beleidigungen und Verunglimpfungen, Lügen und bewusste Täuschungen. Durch Sprache schaffen, teilen und perpetuieren wir unsere persönlichen Geschichten, aber auch unsere gemeinsamen Narrative, und diese bestimmen fortan vieles in unserem individuellen und kollektiven Verhalten. Das Narrativ, dass die Weißen den Schwarzen überlegen seien (wo aber, bei all den real existierenden Braunschattierungen, hört „weiß“ auf und beginnt „schwarz“?), hat zu Versklavung und anhaltender Diskriminierung geführt.21 Braucht es noch mehr Beispiele? Reifer werden heißt also auch, sich der Macht von Geschichten – der Täuschungs- und Verführungsmacht der Narrative einerseits, aber auch ihrer aufbauenden, ermutigenden und inspirierenden Kraft andererseits – im Kleinen wie im Großen bewusster zu werden. Und entsprechend achtsam und behutsam zu erzählen, zuzuhören, sich einzufühlen und zu interpretieren.
21 Hinzu kommen alle Verzweigungen dieses Narrativs; etwa, dass Schwarze dumm und faul und die Männer gefährlich und sexuell hyperaktiv seien. Wird solches Gedankengut über Jahrhunderte weitergegeben, wie sollen Schwarze, die nicht hochbegabt sind, ein normales Selbstbewusstsein entwickeln und nicht stets darauf aus sein, defensiv oder aggressiv auf solche Klischees zu reagieren?
Die Erfahrung, dass unsere Sprache in den abstrakten, seelischen und spirituellen Bereichen der Wirklichkeit oft zu kurz greift, machen wir häufig. Aber auch in der Welt der Physik ist dies sowohl im kosmologischen als auch im subatomaren Bereich der Fall. Betrachten wir aus Letzterem zwei Beispiele. Erstens: Wir besitzen keine Denk- bzw. Sprachkategorien, in welche sich Elementarteilchen in ihrer Eigenschaft als Zwischendinge zwischen Energie und Materie einordnen ließen. Und zweitens: Quarks (die elementaren Bauteile von Protonen und Neutronen, welche ihrerseits den Atomkern bilden) haben neben einer elektrischen noch eine weitere Ladung. Da es in unserer Erfahrungswelt jedoch nichts Vergleichbares gibt, mussten die Physiker in ihrer Hilflosigkeit (sie waren an die Grenzen der direkten sprachlichen Möglichkeiten gelangt) auf eine indirekte, metaphorische Ausdrucksweise zurückgreifen. Sie nannten diese subatomaren, nicht elektrischen Ladungen „Farben“. Es gibt rot, grün und blau geladene Quarks; die Wechselwirkung dieser Ladungen, welche die Atomkerne zusammenhalten, bezeichnet man als Quantenchromodynamik („chroma“ ist das griechische Wort für Farbe). Ganz zufällig ist die Verwendung von Farben als Metapher nicht: Die Summe der „Farbladungen“ der Quarks, die ein Neutron bilden, ist neutral; ebenso wie Licht als Ganzes neutral oder weiß erscheint, sich gebrochen jedoch als ein Bündel von Farben erweist. Dennoch hat das „Rot“ eines Quarks selbstverständlich nicht das Geringste mit dem Rot meiner Vorhänge zu tun.
Unsere Sprache fußt also in unserer Erfahrungswelt und zwar speziell im Konkreten. Zahlreiche Etymologien von abstrakten Begriffen belegen dies: „Zuneigung“ kommt von sich neigen, „aufkeimende Gefühle“ vom Keimen in der Pflanzenwelt, „beständig“ von stehen usw. Nicht zu vergessen der Mist. Und „Das ist Scheiße!“ genügt bekanntlich, um eine riesige Bandbreite an negativen Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen – undifferenziert zwar, aber im höchsten Maße verständlich.
Sich mit der Sprache an das Einfangen der Wirklichkeit zu machen, ist etwa so, wie mit einem groben Netz fischen zu gehen. Die großen Fische bleiben hängen, die kleinen schlüpfen durch die Maschen. Falls man es aber genau auf die kleinen abgesehen hat, muss das Arbeitsgerät nachgebessert oder es müssen Zusatztechniken verwendet werden. Schauen wir uns als Beispiele zwei Aussagen an:
„Die Schweiz hat seit über 150 Jahren keinen Krieg mehr erlebt und ist außerdem ein wunderschönes Land.“
Beim ersten Satzteil handelt es sich um eine historisch belegbare Tatsache. Beim zweiten herrscht weitreichender Konsens – es handelt sich zwar nicht um eine objektive, aber doch um eine weitherum geteilte subjektive Feststellung. So gesehen wird dieser Satz kaum auf Unverständnis oder Ablehnung stoßen. Anders als bei folgender Aussage:
„Je weniger unser Ego die treibende Kraft hinter unserem Sprechen und Handeln bildet, desto freier und auch reifer sind wir.“
Hier kann ich nicht ohne Weiteres mit Verständnis und Akzeptanz rechnen. Wie kann ich also die Chancen erhöhen, dass Leserinnen und Leser das von mir Gemeinte nachvollziehen können? Neben Erläuterungen für den Intellekt braucht es offensichtlich etwas, welches das nuanciertere Gefühlssensorium anspricht (es ist, um zum Vergleich des Fischernetzes zurückzukehren, feinmaschiger als der Verstand) und auch die Wahrscheinlichkeit von intuitivem Verständnis vergrößert. Zum Repertoire hierfür gehören Geschichten (Märchen und Mythen sowie Erzählungen und Fallbeispiele aus dem Alltag), Gedichte sowie bildliche Vergleiche (Metaphern) und schematische Darstellungen. Da im Lauf des Buches immer wieder von Ego, Freiheit und natürlich Reife die Rede ist, habe ich mich also bemüht, zur Förderung des Verständnisses aus diesem Repertoire zu schöpfen.
Historisch gesehen haben Geschichten als Vehikel, um Wissen und Verständnis zu vermitteln, gegenüber sachlichen Darstellungen in den vergangenen Jahrhunderten stetig an Bedeutung verloren.22 Die entscheidende Wende kam mit dem Übergang von mündlicher zu schriftlicher Kommunikation. Bei der mündlichen Kommunikation sind immer mindestens zwei Personen direkt miteinander im Austausch (selbst wenn einer erzählt und andere nur zuhören, ereignet sich auf der Gefühlsebene ein Austausch), während Schreiben und Lesen beide im Alleinsein passieren. Schriftlichkeit bringt ferner ein mehr sachlich-logisch-lineares Denken mit sich, während „Erzählen“ ein Ereignis ist, bei dem Umschweife, Einwand und Replik sowie Spontaneität ihren Platz haben und das empathisch-intuitive Sensorium stärker aktiviert wird. Nehmen wir exemplarisch die Geschichte von Adam und Eva. Erst nach Erfindung des Buchdrucks und nachdem die Fähigkeit des Lesens und Schreibens nicht mehr auf eine kleine Minderheit der Bevölkerung beschränkt war, wurde die Frage, ob die in der Bibel geschilderten Vorgänge wirklich so passiert seien, die vordringlichste. Denn wenn nicht, so wohl die Überlegung, kann man sie getrost als überholt beiseitelegen (dieser Zugang wurde durch den Vormarsch des wissenschaftlichen Denkens verstärkt). Anders in einer von Märchen, Mythen und anderen Sinngeschichten geprägten Kultur. Dort sucht man zunächst nach dem Sinngehalt, den es zu erspüren gilt, und fragt erst danach (wenn überhaupt), ob die Dinge sich wirklich so zugetragen haben. Aus dieser Warte „erzählt“ uns die Geschichte von Adam und Eva vor allem, dass es hinter der Welt eine (mit persönlichen Eigenschaften ausgestattete) Schöpfungskraft gibt, dass Menschen eine Entscheidungsfreiheit haben, dass es Verhaltensnormen gibt und dass Verstöße dagegen Folgen haben. Ob ein Mann und eine Frau vor so-und-so vielen tausend Jahren wirklich einer Schlange begegneten und mit einem Apfel hantierten, ist da kaum noch von Belang.
22 Dies gilt primär für unsere westliche Welt. Aber auch andere Kulturen, in denen sich das Erzählen länger als eine geschätzte Form des Vermittelns halten konnte, ist diese Form des Austauschs und der Wissensvermittlung durch den Vormarsch des wissenschaftlichen Denkens einerseits und des Internets sowie der Smartphone-Kultur andererseits in den Hintergrund geraten.
Konkret für die Lektüre dieses Buches – und natürlich auch anderer Bücher mit einem ähnlichen Themenspektrum – heißt das also, dass Sie sich als Leserin oder Leser nicht nur von der Frage leiten lassen sollten, ob dieser oder jener Sachverhalt präzis wiedergegeben wird. Es geht auch darum, dass Sie sich inspirieren lassen. Um so einen für das eigene Leben relevanten Sinn zu finden.
Beobachten Sie es einmal bei sich selbst: Alle neu im Bewusstsein auftauchenden Gedanken lösen eine emotionale Reaktion aus (auch wenn diese nicht immer deutlich auf dem Radar unserer Wahrnehmung erscheint). Dies ist übrigens einer der fundamentalen Unterschiede zwischen menschlichem Denken und den Algorithmen der künstlichen Intelligenz (mehr hierzu im Kapitel zum Bewusstsein). Diese Emotionen wiederum haben einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die nachfolgenden Gedanken. Deswegen ist unser Sprechen (und Handeln) auch niemals rein logisch und folgerichtig. Was es wiederum für unsere Mitmenschen manchmal schwer bis gar nicht nachvollziehbar macht. Aber aus dem gleichen Grund kann der Gefühlswert des Gesagten zu Gedankensprüngen anregen, die sich aus den nackten Wortinhalten niemals ableiten ließen.
Kurz gesagt: Wenn es um Versuche geht, mittels direkter Aussagen die Wirklichkeit jenseits des sinnlich oder empirisch Fassbaren einzufangen, erweist sich die Sprache also als recht grobmaschig. Mittels der zuvor erwähnten indirekten Aussageformen (Vergleiche, Alltagsbeispiele, Sinngeschichten usw.) jedoch lässt sich mit unserer Sprache die ganze Bandbreite der Wirklichkeit wunderbar andeuten.
In diesem Kapitel ging es vor allem um das Einfangen – und Andeuten – einer unendlich subtilen und komplexen Wirklichkeit mit Hilfe von beschränkten sprachlichen Mitteln. Sprache ist aber auch ein Verbindungsmittel zwischen Menschen im Rahmen von Gesprächen. Sie ist sogar ein entscheidender Treibstoff von Beziehungen. Die täglichen kleinen und grossen Missverständnisse und Konflikte aufgrund von unpräzisem Sprachgebrauch und divergierenden Verständnishorizonten wurden schon erwähnt. Eine der wichtigsten Aufgaben auf dem Reifeweg ist es daher, einen weisen Umgang mit Sprache zu lernen. Vor allem zu lernen, wann Sprechen und wann Schweigen angesagt sind, und zu lernen, möglichst unvoreingenommen und empathisch zuzuhören. Mit Übung lassen sich dieses Abwägen und diese Fähigkeit verinnerlichen. Sie werden zu einer Haltung. Und aus dieser Haltung heraus können wir unsere Gespräche ungeniert auch mit Spontaneität, Humor und Fantasie anreichern, weil die Hörenden dabei stets empathisch mit einbezogen sind. So kann Sprache heilsam sein.
Zu Beginn des Kapitels wurde an die Wichtigkeit der Innenschau für den Reifeprozess erinnert. Hierzu zählt auch die Betrachtung unseres Sprachgebrauchs. Eine solche vollzieht sich ja immer im inneren Rückblick (auch wenn der Rückblick manchmal bereits Sekundenbruchteile nach dem Sprechgeschehen stattfindet). Wann aber, wenn wir ehrlich sind, haben wir genug Zeit, Ruhe und Entschlossenheit, um das, was wir sagen, ebenso wie das, was wir tun oder lassen, unabgelenkt vor dem inneren Auge vorbeiziehen zu lassen und uns so dessen bewusster zu werden? Und das mit der notwendigen Regelmässigkeit? Einen derartigen Rahmen bietet die Meditation.
2.2 MEDITATION ALS ÜBUNGSWEG
Jeder Weg hat einen Ausgangspunkt. Der Lebensweg zum Beispiel beginnt mit der Geburt. Oder – Moment mal – beginnt er nicht doch mit der Empfängnis? Okay, sagen wir Empfängnis. Aber halt, da ist ja noch die Möglichkeit von früheren Daseinsformen. Nehmen wir besser ein anderes Beispiel. Der Tag, der beginnt mit dem Aufwachen. Aber nein, vielleicht doch schon mit den morgendlichen Träumen, beim Übergang aus der Tiefschlaf- in die REM-Phase? Oder sagen wir einfach, er beginnt um Mitternacht. Na ja, eine Sekunde nach Mitternacht. Einen Sekundenbruchteil …
Die Wirklichkeit ist fluid. Übergänge sind fließend. Sauber abgemessene Gebilde und Kategorien aller Art gibt es nur in der menschlichen Vorstellung und bei menschlichen Konstruktionen. Wir sagen oft „von Augenblick zu Augenblick“. Aber wann endet ein Augenblick und wann fängt der nächste an? Alles fließt, wenn auch in höchst unterschiedlichem Tempo. An den elektronischen Börsen werden riesige Volumina von Wertpapieren innert Sekundenbruchteilen gekauft und verkauft. Bis ein Berg von Wind und Wasser abgetragen ist, können Milliarden von Jahren vergehen. Nichts aber ist fix und starr, außer in unseren Köpfen. Und, wenn wir ehrlich sind, nicht einmal dort.
Auch ein Meditationsweg hat eine Vorgeschichte. Ein Mann zum Beispiel ist sich einer anhaltenden inneren Unruhe bewusst. In einer goldenen Herbstwoche spaziert er jeden Tag an einem nahen Fluss und verlangsamt dabei ab und zu die Schritte, um die Bäume zu betrachten und die unglaubliche Farbenpracht in all ihren Nuancen auf sich wirken zu lassen. Nur schon der Gedanke an die Spaziergänge hilft tagsüber, die Unruhe zu dämpfen. Als das Wetter jedoch abrupt kalt und nass wird, stellt er die Spaziergänge ein. Seine Irritationen und Ängste kehren zurück. Eines Morgens beim Aufwachen kommt ihm der begeistert vorgetragene Bericht eines Arbeitskollegen über die Vorteile von Meditation in den Sinn und er bucht kurz entschlossen einen Einführungskurs in Zen. Ein anderes Beispiel: Eine Managerin stellt an einem Sonntagabend fest, dass es ihr das ganze Wochenende lang nicht gelungen ist, gedanklich abzuschalten und sich körperlich und seelisch zu entspannen. Die schwelenden Konflikte in ihrem Team sowie die im Raum stehende Übernahme durch eine chinesische Firma lassen sie nicht los. Mehrmals hat sie bereits ohne merklichen Erfolg versucht, zu Hause mithilfe einer App zu meditieren. Ein Artikel in ihrer Wochenendzeitung bewegt sie dazu, es in einer Gruppe zu versuchen.
Bei der Analyse unseres inneren und äußeren Alltags (Kapitel 2.1.1) haben sich drei Hauptkomponenten herausgeschält, die sich in dauerndem Fluss und in dauernder Interaktion befinden: erstens Wahrnehmungen aus dem Umfeld, zweitens emotionale und gedankliche Reaktionen darauf, und drittens eigenes Handeln bzw. Sprechen.
Stellen Sie sich nun vor, dass zwei Drittel dieser Mischung auf einen Schlag wegfallen. Statt einer wirren Vielzahl kommen eine bestimmte Zeit lang kaum mehr Sinneseindrücke von außen. Auch das Sprechen und Handeln wird eingestellt. In einer stillen Umgebung sitzen wir mit geschlossenen Augen, entspannt und doch hellwach, einfach da. So beginnt Meditation.
Kehrt nun Ruhe ein? Kaum. Denn das verbleibende Drittel macht sich umso stärker bemerkbar. Wie eine Horde wilder Affen (ein uralter Vergleich) springen unsere Gedanken in allen Richtungen umher. Dazu kommt das Auf und Ab der Emotionen. Ein Non-Stopp-Film im Innern, von dem uns nun nichts mehr ablenkt. Wie können wir damit umgehen?
Ich sitze im Kino ganz vorne, in der ersten Reihe. Das Geschehen auf der Leinwand schwappt wie eine Riesenwelle über mich, ich kann mich ihm nicht entziehen. Der Film – das sind eben diese Gedankengänge, Erinnerungen, inneren Dialoge, Gefühlsaufwallungen, Selbstzweifel, Triebe, Sehnsüchte … Und nun mache ich einen bewussten Schritt. Ich nütze den Raum, den ich zuvor kaum wahrgenommen habe, und begebe mich im Kinosaal so weit wie möglich nach hinten. Vorne läuft noch immer derselbe Film. Aber ich habe nun eine gewisse Distanz gewonnen. Ich kann nach rechts und links blicken und feststellen, dass es noch mehr gibt als das, was auf der Leinwand abläuft. Ähnliches geschieht in der Meditation. Der innere Raum wird allmählich weiter und ich erfahre: Was sich auf der Bühne meines (inneren) Lebens abspielt und mich meist vollständig in seinen Bann zieht, ist nicht das, was ich im Wesentlichen bin. Ich erfahre Momente des Friedens und der Klarheit, denen der Lebensstrudel nichts anhaben kann. Eine gewachsene innere Geräumigkeit, durch die ich Abstand gewinne, gehört zu den bedeutendsten Früchten von anhaltend praktizierter Meditation.
Aber es ist nicht nur das, was mich gerade im Alltag umtreibt, welches in einer Meditationssitzung hochkommt. Der Körper meldet sich – Verspannungen werden z. B. plötzlich als solche wahrgenommen. Mehr noch: Unverdautes oder Verdrängtes (in der Psychologie oft als „Schatten“ bezeichnet) nutzt den dargebotenen Leerraum und die „leere“ Zeit, um ans Licht der Wahrnehmung hochzusteigen. Vielleicht ist es das Bild meines allein wohnenden alten Vaters, für den ich in den letzten Monaten sehr wenig Zeit übrig hatte? Während einer Meditation gibt es keine Außenreize und Ablenkungen, die dieses unangenehme Bild rasch wieder zudecken.
Sie sehen, es geht bei der Meditation nicht in erster Linie um ein lauschiges Wohlfühlen. Und es geht auch um wesentlich mehr als „nur“ Stressabbau.
Indem wir in einer Meditationssitzung merken, wie schwer es ist, die erforderliche Wachheit und Fokussiertheit (klassischerweise auf den Atemfluss) aufrechtzuhalten, wird uns klar, dass sich in der Regel auch im Alltag weder unser Bewusstseins- noch unser Konzentrationsgrad lange auf einem hohen Niveau halten. Ebenso wird uns manchmal erst in der Muße und Empfänglichkeit der Meditation vor Augen geführt, dass es überhaupt etwas gibt, das unerkannt in der Tiefe lauert und nicht nur unser Tun, sondern auch unsere Lebenshaltung und unser Lebensgefühl mitprägt.
Es sei hier nochmals daran erinnert, dass der Begriff „Meditation“ im ganzen Buch im weitreichendsten Sinn gebraucht wird. Er umfasst somit die klassische östliche sowie die moderne säkulare Sitzmeditation, christliche Kontemplation und Exerzitien, kontemplatives oder mantraartiges Gebet, neue Varianten wie Focusing, sowie Meditation in Bewegung wie Qi Gong und Tai Ji, meditativ ausgerichtetes Yoga, meditativen Tanz oder einfach achtsames Gehen in Stille und Ähnliches mehr (siehe Kapitel „Arten der Meditationspraxis“).
Statt des Versuchs, an dieser Stelle nun eine Definition vom Wesen der Meditation anzubieten, sollen ein paar Kurzsätze die Annäherung weiterführen. Erfahrene Meditierende werden hoffentlich, da jede Annäherung aus einem persönlichen Blickwinkel kommt, den einen oder anderen Satz als Neuanregung erleben. Bei frisch sich Heranwagenden und anderen Interessierten mögen die Sätze etwas zum Klingen bringen und als Anregung zum Ausprobieren dienen.
Meditation heißt …
… sich öffnen nach innen
Der Fokus wird, von der Außenwelt eine Weile lang ungestört, nach innen gerichtet. Nach und nach erweist sich das ans Licht kommende Innenleben als chaotischer, aber auch reichhaltiger und vielschichtiger, als wir es uns je hätten vorstellen können. Die längste Reise, so heißt es, ist die Reise nach innen.
… gleichzeitig tun und sein lassen
Tun: sich Zeit nehmen, den Willen zum Dranbleiben aufbringen, während der Meditation sich immer wieder aus der Zerstreuung in die Sammlung oder aus einem Dösezustand in die Wachheit zurückholen.
Lassen: vertrauensvoll offen sein für das, was kommt. Und das, was kommt, auch wieder ziehen lassen.
… hellwach zur Ruhe kommen
Bei fokussiertem und wachem Bewusstsein aus Anspannung Entspannung und aus Unruhe Ruhe werden lassen. Der Atem, der im Alltag so oft oberflächlich, schnell oder stockend verläuft, fließt wieder freier.
… nicht abheben, sondern sich erden
Methoden zur Erdung sind Körperbewusstsein sowie bewusstes Verweilen beim Atemfluss oder bei einem Objekt – z. B. einem Wort oder einer Kerze. Abheben tun wir nicht in der Meditation, sondern im Alltag durch die Gedanken, Bilder und Emotionen, die uns aus der Realität des Hier und Jetzt in die (subjektiv gespeicherte) Vergangenheit, in die (erwartete, erhoffte oder befürchtete) Zukunft oder in Fantasieszenarien führen.
… aus dem Tun-Modus in den Sein-Modus übergehen
Tun-Modus: Eindrücke und Informationen aufnehmen; urteilen, denken und träumen; sprechen und handeln. In einem Kontinuum von extrem aktiv („Höchstleistung“) bis hin zu extrem passiv, wo man nur noch automatisch reagiert bzw. sich in einem dumpfen Zustand berieseln oder zudröhnen lässt. Der Tun-Modus beinhaltet das pausenlose Treiben und Getriebenwerden unseres Alltags.
Sein-Modus: Nichts mehr tun und keinen Input von außen suchen (oder bloß ganz bewusste Bewegungen ausführen). Achtsames, reaktionsfreies Wahrnehmen von Zuständen und Vorgängen. Innerlich leichter, geräumiger und durchlässiger werden. Der Sein-Modus beinhaltet Elemente von Loslassen (des pausenlosen Treibens) und Hingabe. Wie beim Übergang in den Schlafzustand. Bloß, dass wir bei diesem Übergang noch wacher als im alltäglichen Wachzustand werden.
… für einen bestimmten Zeitraum sich selbst aushalten lernen
(Vermeintlicher) Druck von außen führt oft zu hoch gesetzten inneren Maßstäben. Als Folge stehen wir uns selbst oft kritisch gegenüber, leben mit uns in Unfrieden. Und empfinden es daher schnell als unangenehm, ohne Ablenkungsmöglichkeit mit uns selber allein zu sein.
… sich mit Stille anfreunden
Die Stille nicht als langweilige, vielleicht sogar Angst machende Leere wahrnehmen und sie möglichst rasch mit Lauten und Betriebsamkeit verscheuchen. Sich Zeit lassen, um in sie hineinzuhorchen.
… Fundament spürbar werden lassen
Was trägt mich zutiefst? Was ist wesentlich an und in mir jenseits aller Rollen und Persönlichkeitszügen? Was ist mir heilig? Kann oder will ich diesem einen Namen geben?
… nicht Leistung, sondern Übung
Meditation ist mehr als bloß eine weitere sinnvolle Freizeitbeschäftigung. Joggen, eine Sprache lernen, an einem Theaterprojekt teilnehmen – all diese Tätigkeiten haben eine Leistungskomponente, denn es gibt dabei mehr oder weniger messbare Ergebnisse. Reifer werden mithilfe von Meditation lässt sich nicht messen. Die dabei erlebbare Verbindung mit unserem Wesen sowie dem Wesentlichen schlechthin (dem Heiligen), aber auch die Begegnungen mit dem, was diesen Zugang blockiert, lassen sich nicht festmachen. Letztlich sind sie nur über die Übung des Loslassens (auch des Loslassens vom Leistungsprinzip) und der Öffnung möglich.
Zu bedenken ist auch, dass ein gewisser Entwicklungsgrad natürlich nicht einfach erlangt und dann für immer konserviert werden kann. Genauso wenig wie ein bestimmter Grad an Fitness, den ich mir durch regelmäßiges Joggen antrainiert habe. Höre ich mit dem Joggen auf, reduziert sich die Fitness wieder. Die Übungspraxis hat nie ein Ende.
Eine Schnellbleiche ist der Meditationsweg also nicht. Es ist zwar möglich, in einer allerersten Meditationssitzung eine erstaunliche Ruhe und Entspannung zu erfahren. Diese Initialerfahrung allein, das zeigen Zeugnisse und Berichte, wird danach jedoch das Alltagsleben kaum ankratzen, geschweige denn durchdringen und nachhaltig verändern.
Bei der Meditation geht es auch nicht darum, geänderte Bewusstseinszustände oder sonst etwas Außergewöhnliches zu erleben. Es geht darum, tiefer in das Gewöhnliche einzutauchen. Um plötzlich oder nach und nach zu erfahren, wie viel reicher und wunderbarer dieses Gewöhnliche ist, als wir es je gedacht hätten.
In unseren Tagen wird der Meditation vermehrt Interesse entgegengebracht. Ein stets reicherer Schatz an wissenschaftlichen Untersuchungen belegt ihre medizinisch messbare, heilsame Wirkung. Das erweckt Neugierde und Erwartungen. Es steigert aber auch die Gefahr, dass Meditation zwar ausprobiert wird, dass die wohltuende Wirkung durchaus anerkannt wird, aber dass etwas – seien es innere Widerstände, Bequemlichkeit oder andere Prioritäten – der Aufnahme einer dauerhaften Übungspraxis im Weg steht. Und so zeigt sich, dass man auch nach einigen Meditationsversuchen letztlich so wenig von prägenden Mustern, von Trägheit, Stress oder unterschwelliger Unzufriedenheit loskommt wie nach wohltuenden Ferien oder einem Wellness-Wochenende.
Es ist aber gerade dieses, unser meist unspektakuläres und doch aufreibendes Alltagsleben, das der wichtigste Referenzpunkt des vorliegenden Buches ist. Alles, was zur Meditationspraxis und deren Auswirkungen gesagt wird, soll dazu in Bezug gesetzt werden. Denn ansonsten droht Meditation einfach zu einem weiteren abzuhakenden Erlebnis oder einer weiteren Verzierung unseres Ich-Bilds zu verkommen (im Stil von „Ich spiele Klavier, ich reise gerne nach Südamerika und ich meditiere“), ohne nachhaltige Auswirkungen auf unsere Haltung und Lebensführung.
Unsere Alltagspraxis ist durchzogen mit automatisierten Verhaltensmustern, die uns in unserer Freiheit einschränken und mehr reaktiv als aktiv und kreativ sein lassen. Bei der Übung geht es zunächst darum, dass wir derartige Muster überhaupt als solche erkennen. In einem nächsten Schritt versuchen wir, sie mit Wohlwollen zu betrachten anstatt zu verdrängen oder zu bekämpfen. Erst dann werden sie „weicher“ und lassen sich transformieren. Die ersten zwei Schritte lassen sich „machen“. Bei der Transformation müssen wir zwar wachsam bleiben, um nicht wieder in alte Fahrwasser zurückzugleiten, aber durchführen können wir sie selber nicht. Alles, was wir tun können, ist uns für diesen Wandel zu öffnen und ihn geschehen zu lassen. Der Wandel führt zu mehr Achtsamkeit in den verschiedensten Lebenslagen, einem wohlwollenderen Herzen sowie differenzierterer Selbstkenntnis. Eine solche Übung – weg von einer primär reaktiven und hin zu einer primär selbst- aber nicht egobestimmten Lebensweise – verlangt Entschlossenheit, Geduld und Ausdauer.
Schließlich noch ein kleiner, praktischer Tipp: Wenn Sie (wie Tausende andere auch), Mühe haben, beispielsweise 20 Minuten in Stille zu sitzen, ohne Input, ohne Tat, dafür aber mit dem inneren Durcheinander konfrontiert, so fügen Sie ein Lächeln hinzu. Und sagen Sie sich dabei: Warum sollte ich Angst haben vor dem, was sich da in Kopf, Herz und Gemüt so alles tut? Nichts davon kann mir irgendetwas anhaben – ich werde die Sitzung mit Sicherheit ungeschoren überstehen. Zeitverschwendung? Ich habe meine Zeit schon mit viel Dümmerem verplempert. Ganz allein und ohne Ablenkung halte ich es mit mir selber nicht aus? Gute Einsicht! (Es geht übrigens den meisten anderen auch so.) Genau das gilt es zu lernen. Und wenn ich mich selbst aushalte, halte ich auch andere aus. Und außerdem habe ich es mit mir selber schon … Jahre (bitte Zahl einfügen) ausgehalten, da schaffe ich es auch noch weitere 20 Minuten. Lächeln Sie also mit großem Wohlwollen über sich und Ihre Angst vor Stille und nacktem Dasein. Lächeln Sie über sich selbst, lächeln Sie sich aber auch zu und lächeln Sie anderen zu. Immer wieder. Sie werden über folgende Aussage vielleicht lächeln, aber so fällt Ihnen nicht nur das Meditieren leichter, so verändern Sie auch sich selbst, Ihr Umfeld und ein wenig auch die Welt.
Hier und in den anschließenden Kapiteln werden keine detaillierten Ausführungen zu den verschiedenen Meditationswegen geboten. Hingegen finden Sie einen Überblick über den historischen Werdegang von Meditation in den verschiedenen Religionen bis hin zu den heutigen säkularen Formen sowie eine Übersicht über die wichtigsten Meditationstechniken. Hinzu kommt eine exemplarische Schilderung des Ablaufs einer einfachen Meditationseinheit. Das Hauptaugenmerk liegt jedoch, wie schon gesagt, auf der Verbindung zwischen Meditation und Alltag und dem sich daraus bietenden Entwicklungspotenzial. Zu den zentralen Themen diesbezüglich zählen „Achtsamkeit“ (Kapitel 2.3.1) und die „Entwicklung der Herzensqualitäten“ (Kapitel 2.3.2). Schließlich werden Ideen für kurze meditative Alltagsübungen vorgestellt, die sich außerhalb der formellen Meditation praktisch überall und zu jeder Zeit anwenden lassen (Kapitel 2.3.3). Ein Beispiel vorweg: Wenn Sie das nächste Mal nach Hause kommen, Schlüssel und andere Gegenstände ablegen und sich die Jacke und die Schuhe ausziehen, führen Sie jede einzelne Bewegung mit voller Aufmerksamkeit durch. Dies bringt automatisch eine Verlangsamung mit sich, diese wiederum eine spürbare physische und psychische Entspannung. Eine solche Behutsamkeit ist das beste Schutzmittel gegen Hast, Zerstreutheit und Stress. Probieren Sie es einfach aus. Wenn Sie überdies Ihr Handy, Ihre Brille oder Ihre Schlüssel jedes Mal langsam und konzentriert ablegen, entfällt künftig manch nervenaufreibendes Suchen. Das Einüben von Achtsamkeit führt mit Sicherheit zu einem Anstieg der Lebensqualität. Es kann sogar Spaß machen.
Vielleicht staunen Sie jetzt und fragen: „So einfach ist das?“ Ja. Dem ist nichts hinzuzufügen. So einfach ist das.
Mühsam hingegen, frustrierend mühsam sogar und schwer ist es, bestenfalls vage erkannte Gewohnheiten und weitgehend unerkannte Prägungen immer wieder ans Licht steigen zu lassen, dieses wenig schmeichelhafte Bewusstsein auszuhalten und ihre Macht über uns so weit abzuschwächen, dass wir uns nachhaltig von ihnen zu lösen vermögen. Das ist es, was beharrliches Üben und auch Willensschulung nötig macht.
Wenn dies jedoch nur schon in Ansätzen gelingt, führt es zu einem Wandel, der eine spürbare Steigerung der Lebensqualität im Alltag mit sich bringt. Zu diesem Wandel – und damit zur individuellen Reifung – gehört auch ein allmähliches Abschwächen der einengenden und isolierenden Egozentrik. Auch die Ich-Bilder, die ich mit mir trage und die mich oft empfindlich reagieren lassen, wenn die Reaktionen meiner Mitmenschen ihnen nicht entsprechen, gilt es zu erkennen und die Identifikation mit ihnen zu lockern. Bin ich weniger in meiner Ich-Welt gefangen, wirke ich fast ohne Anstrengung zum Wohl zumindest meiner unmittelbaren Umgebung.
Meditation wird zwar im „stillen Kämmerlein“ oder in kleinen Gruppen geübt, aber ihre Auswirkungen reichen weit darüber hinaus.
2.2.1 Kurzer historischer Überblick
Meditation in der einen oder anderen Erscheinungsform ist wohl so alt wie die Menschheit. In den Religionen der Naturvölker gab und gibt es Elemente (Tänze und repetitive Gesänge zum Beispiel), die als meditative Praktiken interpretiert werden können. Initiiert bzw. ausgeführt werden sie von Schamanen, Medizinmännern und anderen Eingeweihten. Informelle Momente der Stille, in denen ein Mensch zur Ruhe kommt, gab und gibt es wohl in jedem Leben. Sie lassen sich auch als kurze meditative Zwischenphasen deuten, bilden aber nicht Teil der nachfolgenden Erörterungen.
Die früheste schriftliche Erwähnung von Meditation (um 1500 v. Chr.) findet sich in den Veden, den ältesten heiligen Texten des Hinduismus. Indische Priester verwenden bis heute Atemübungen und Gesänge („Chants“), um einen hochkonzentrierten Zustand herbeizuführen. In mehreren hinduistischen Richtungen gilt Yoga entweder als eine Vorstufe zur Meditation oder wird selber als meditative Praxis verstanden. Im 18. Jahrhundert, zur gleichen Zeit als die Briten allmählich die Macht übernahmen, gerieten die meditativen Praktiken jedoch in den Hintergrund. Gebildete Inder ließen sich eher von der europäischen, speziell der englischen, rational geprägten Denk- und Lebensart inspirieren und betrachteten die eigene als rückständig. Eine Renaissance der Meditation fand in Indien allerdings wesentlich früher statt als im Westen, nämlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts – auch in Zusammenhang mit dem aufkommenden indischen Nationalismus und damit der Rückbesinnung auf einheimische kulturelle Werte. Große Namen sind damit verbunden, darunter Ramakrishna (1836–1886), eine weithin ausstrahlende Leuchtfigur, Vivekananda (1863–1902), dessen Auftritt auf dem Weltkongress der Religionen in Chicago 1890 in Amerika und England eine Welle von Interesse an indischer Spiritualität auslöste, Sri Ramana Maharshi (1879–1950), dessen Dasein und Sosein – einfach, authentisch und bescheiden – Berichten zufolge die zahlreichen Menschen, die zu seinem Ashram in Südindien pilgerten, mindestens ebenso inspirierten wie seine Lehre, Sri Aurobindo (1872–1950), der Politaktivist, Philosoph, Dichter und Ashramgründer, und schließlich Sri Chinmoy (1931–2007), der in den Westen zog und unter anderem 1970 vom damaligen Generalsekretär U Thant gebeten wurde, am UNO-Hauptsitz wöchentliche Meditationen zu leiten. Diese wurden in den folgenden Jahrzehnten von Tausenden von UN-Angestellten und Diplomaten besucht.
Insgesamt noch zentraler als im Hinduismus ist die Rolle der Meditation im Buddhismus. Siddhārtha Gautama, wie der Buddha mit bürgerlichem Namen hieß, lebte im nördlichen Indien um das Jahr 500 v. Christus (genaue Lebensdaten sind nicht bekannt). Den eigentlichen Kern seiner Lehre bilden die „vier edlen Wahrheiten“, die sich wie folgt zusammenfassen lassen:
Erste Wahrheit: Leiden ist – in unserem unerwachten Zustand – allgegenwärtig. Übertrieben? Nein. Jedes Mal, wenn ich etwas nicht bekomme oder etwas nicht eintritt, das ich will, bin ich enttäuscht, gekränkt, frustriert oder wütend. Ebenso bin ich enttäuscht, gekränkt, frustriert oder wütend, wenn ich mit etwas konfrontiert bin, das ich nicht will. Frustration, Enttäuschung, Kränkung und Wut sind bloß vier der zahlreichen Ausprägungen des Leidens, von denen sich im Alltag die eine oder andere fast immer – wenn nicht akut, so doch in dumpfer Form – bemerkbar macht.
Zweite Wahrheit: Die Gründe des Leidens sind Begierde (nach Gütern, Ansehen, Anerkennung usw., sowie das Anhaften daran), Ablehnung (Nicht-Akzeptanz all dessen, was uns nicht passt) und Ignoranz (bezüglich unseres permanenten Schwankens zwischen Begierde und Ablehnung, sowie der Ordnung des Universums).
Dritte Wahrheit: Es gibt einen Weg aus dem Leiden (die frohe Botschaft!).
Vierte Wahrheit: Der Weg aus dem Leiden führt über den achtfachen Pfad. Dieser besteht aus fünf ethischen Zielen und drei Übungspraktiken. Eine dieser Übungspraktiken ist die „rechte Versenkung“, also die Meditation.
Somit zählt Meditation zu den Grundpfeilern des Buddhismus. Man darf sich allerdings nicht täuschen lassen – eine nachhaltige Meditationspraxis wurde auch in der buddhistischen Welt praktisch nur in den Klöstern unter den Mönchen gepflegt. Die religiöse Praxis des Volkes bestand (und besteht) vornehmlich aus der Verehrung des Buddha (meist in Betrachtung einer Buddha-Statue oder eines Buddha-Bildes, die nicht nur in den Tempeln, sondern auch in den meisten Haushalten zu finden sind), aus Wunschgebeten und aus einem ehrfurchtsvollen Umgang mit den Mönchen (etwa indem man ihnen Essen oder Geld spendet). Bestenfalls betreten Laien ab und zu einen Tempel, um an einer Meditationssitzung der Mönche teilzunehmen.
Von Indien aus breitete sich der Buddhismus – und mit ihm die Meditationspraxis – in den folgenden Jahrhunderten durch Ost- und Südostasien aus und ist dort bis heute verankert, während er in seinem Ursprungsland nur noch ein Randdasein fristet. Eine der wichtigsten Destinationen war China, wo sich der Buddhismus und der einheimische Daoismus gegenseitig beeinflussten. Aus dem Umfeld des Daoismus stammen übrigens auch eigenständige Meditationsformen, nämlich jene der langsamen und achtsamen Bewegungen – Qi Gong und Tai Ji Quan. Von China aus erreichte der Buddhismus später auch Japan (6. bis 7. Jahrhundert). Dort wuchs der Zen-Buddhismus zu einem der wichtigsten Zweige heran.
Heutzutage hat sich Zen zumindest außerhalb seiner Heimatregion von seiner Mutterreligion weitgehend abgetrennt und ist zu einer weltweiten, auf Meditation gegründeten spirituellen Praxis geworden. Bei einer weiteren buddhistischen Meditationsform, der Vipassana-Meditation, lässt sich eine ähnliche Entwicklung beobachten. Das heißt, ich kann mich als Zen- oder Vipassana-Praktizierender auch als Buddhist bezeichnen, muss es aber nicht.
Wie kamen der Buddhismus und mit ihm der Fokus auf Meditation und die entsprechenden Meditationstechniken in den Westen? Ab dem 19. Jahrhundert nahm der Zustrom von Immigranten aus Japan und China, später auch aus Thailand, Korea und Vietnam in die USA rapide zu und diese Volksgruppen errichteten auch in der Fremde ihre Tempel und Ordenszweige. Deren Einfluss auf das Mainstream-Amerika war jedoch gering. Es bedurfte der Vermittlung von Westlern, die sich im Osten inspirieren und ausbilden ließen, sowie von buddhistischen Mönchen aus dem Osten, die ihre Botschaft und Praxis in den Westen brachten, wo diese dann von ihren einheimischen Schülerinnen und Schülern verbreitet wurden. Dies geschah in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – einer Zeit, die offensichtlich reif dafür war. Zu den wichtigsten Figuren der Kategorie „Westler“ gehören Philip Kapleau (1912–2004), einer der Pioniere; die Autorin und Gemeindeleiterin Pema Chödrön (geb. 1936 als Deirdre Blomfield-Brown); Jack Kornfield (geb. 1945), dessen Bücher zu den Klassikern auf diesem Gebiet zählen und der mit Joseph Goldstein (geb.1944) und Sharon Salzberg (geb. 1952) mehrere buddhistische Gemeinschaften in den USA gegründet hat; Matthieu Ricard (geb. 1946), Buchautor und Übersetzer des Dalai Lama, sowie im deutschsprachigen Raum Sylvia Wetzel (geb. 1949). Zu der zweiten Kategorie, den aus Asien stammenden Vermittlern (auch hier beschränke ich die Liste auf sehr wenige Namen), zählen der Japaner Shunryu Suzuki (1904–1971), der Inder Maharishi Mahesh Yogi (1918–2008, der Begründer der Transzendentalen Meditation), der Tibeter Chögyam Trungpa (1939–1987) und der vietnamesische Friedensaktivist, Buchautor und Ordensgründer Thich Nhat Hanh (geb. 1926). Von allen Buddhisten die weitreichendste Strahlkraft und den größten Einfluss auf unseren Zeitgeist hat aber zweifellos Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama (geb. 1935).
Der Buddhismus selber und seine Meditationspraktiken haben sich mit ihrer Inkulturation im Westen stark gewandelt. Stichwortartig zusammengefasst wurden sie laisiert (d. h. sie werden nicht mehr primär in einem monastischen Umfeld betrieben), demokratisiert (die strenge Hierarchie der Mönchsgemeinden fällt weg), feminisiert (die Dominanz der Männer ließ sich nicht aufrechterhalten) und alltagsbezogen (Teilnehmende an Meditations-Sitzungen und Retreats wollen mit der Meditation eine Veränderung in ihrem Alltagsleben bewirken).23 Außerdem verlor die in Asien nach wie vor relativ strikt aufrechtgehaltene Unterscheidung zwischen den Denominationen (Theravada, Mahayana, tibetischer Buddhismus usw.) im Westen rasch an Bedeutung. Und schließlich sind viele der ursprünglich mit den Meditationsmethoden verbundenen Rituale weggefallen. Bei der Vermittlung von Yoga im Westen lässt sich ein ähnlicher Wandel beobachten. Und dieser Wandel im Westen beeinflusst seinerseits die Entwicklungen in den Heimatländern von Buddhismus und Hinduismus. Er ist Teil eines universellen Trends im 21. Jahrhunderts hin zu einfachen und allen zugänglichen meditativen und anderen geistig-körperlichen Übungen, die entweder keinen oder nur noch einen lockeren Bezug zu einer Herkunftsreligion bewahren (siehe Ende des Kapitels).
23 Gemäß Jack Kornfield, Bringing Home the Dharma, S. 193 ff.
Im Islam waren es primär die Sufis, die vor allem vom 8. bis 13. Jahrhundert meditative Übungen entwickelten. Die Wichtigste besteht aus dem Wiederholen des Namens Allahs bzw. einer seiner 99 Beinamen (Attribute). Auf Arabisch heißt diese Praxis Dhikr, auf Türkisch Zikr, wörtlich das „Gottgedenken“. In der klassischen Form wird der Beginn des Glaubensbekenntnisses – lā ilāha illā ’Llāh (es gibt keine Gottheit außer Gott, Allah) – immer wieder rezitiert, entweder laut oder innerlich für sich. Beim lauten Rezitieren in einer Gemeinschaft wird auf das letzte „h“ des Wortes „Allah“ hingezielt, das dann beim Ausatmen wie ein letzter Hauch verklingt. Verbunden wird die Übung so mit dem kontrollierten und bewusst wahrgenommenen Fluss des Atems. Dies ergibt eine sehr ähnliche Praxis wie bei dem Jesus- bzw. Herzensgebet im Christentum (das allerdings zumeist allein gepflegt wird) sowie dem Wiederholen von Mantras wie „Om Mani Padme Hum“ im Buddhismus oder das hingabevolle „Ram Ram Ram“ im Hinduismus. Als Konzentrationsstütze nehmen manche Praktizierende eine Gebetsschnur mit Perlen zu Hilfe. Und auch hierzu gibt es viele Parallelen: den Rosenkranz im Katholizismus, die Gebetsschnur (Russisch: Tchjotki, wörtlich „Zählschnur“) im orthodoxen Christentum, die Mala, klassischerweise mit 108 Perlen versehen, die sowohl im Hinduismus als auch im Buddhismus Gebrauch findet, sowie die Tesbih-Gebetsschnur im tibetischen Buddhismus. Auch bei früheren Kulturen hat man Knotenschnüre gefunden, bei denen vermutet wird, dass sie für Gebets- oder Versenkungspraktiken verwendet wurden, beispielsweise im vorkolonialen Peru oder in Polynesien.
Sufismus, oft als die mystische Dimension des Islams bezeichnet, hatte über die Jahrhunderte immer wieder einen schweren Stand. Denn die Sufis – wie Mystiker weltweit – hielten sich bei der Vermittlung ihrer Erfahrungen längst nicht immer an die Vorgaben der Korangelehrten, der Mullahs, der Imame und anderer muslimischer Autoritäten. Die geistige Unabhängigkeit der Sufi-Bruderschaften sowie einzelner ihrer Exponenten war ein Stachel im Fleisch derer, denen Macht und Kontrolle und sogenannte Rechtgläubigkeit wichtig waren, und so war der Vorwurf der Gotteslästerung jeweils schnell zur Hand. Wie bei ihren Verwandten im Geiste in anderen Religionen konnten für die Sufis und insbesondere für ihre mystisch begabten Exponenten die Folgen Ächtung, Verbannung, Gefängnis oder Hinrichtung lauten.
Es besteht eine noch wenig erforschte Verbindung zwischen Meditation und Mystik. Vertieft man sich in die Lebensgeschichten von Mystikern und Mystikerinnen, stellt sich heraus, dass sie praktisch alle irgendeine Form von meditativer oder kontemplativer Versenkung bzw. wortlosem Gebet praktizierten bzw. praktizieren. Auch benötig(t)en sie quasi als Lebenselixier immer wieder Zeiten von Rückzug in die Stille, was natürlich in einer monastischen Umgebung oder an einem abgelegenen Ort einfacher ist als in einer Großstadt. Umgekehrt führt einen die Meditation in Bereiche der Ruhe und inneren Offenheit, welche die Empfänglichkeit für mystische Erfahrungen erhöhen.24
24 Ein goldener Sonnenuntergang, ein Stück Musik, das uns bis in die Grundfesten bewegt – überhaupt alles, was uns kurz das tiefgreifende Gefühl gibt, mit etwas unaussprechlich Heiligem oder mit dem Universum als Ganzem in Einklang zu sein, kann als mystische Erfahrung verstanden werden. In den allermeisten Fällen lässt die Wirkung jedoch rasch nach und unser gängiges Gefühl der Getrenntheit nimmt wieder überhand. Menschen, die als Mystikerinnen oder Mystiker gelten, erfahren diese Verbundenheit in einer derart überwältigenden Intensität, dass sich ihr Leben – nicht immer äußerlich, aber doch innerlich – radikal ändert. Das Potenzial dazu steckt in uns allen.
Besonders deutlich zeigt sich diese Verbindung von Mystik und Meditation in der Geschichte der Sufis und ihrer herausragenden Gestalten. Zu diesen zählen (um nur ganz wenige zu nennen) Rabia (gest. 801), eine als Heilige verehrte Frau, Al-Hallaj (gest. 922), der hingerichtet wurde, weil er seine ekstatischen Erfahrungen der Vereinigung mit dem innewohnenden göttlichen Wesenskern kundtat, Al Ghazzali (1058–1111) und Ibn Arabi (1165–1240), die beiden wohl größten Philosophen des Sufismus, deren Werke auch im Abendland Verbreitung fanden, Dschalaluddin Rumi (1207–1273), der sprachgewaltige Dichter-Philosoph, Kabir (1440–1518), zu dessen Schülern gleichermaßen Muslime und Hindus zählten, Hazrat Inayat Khan (1882–1927), einer der Erneuerer des Sufismus in der Moderne sowie Reshad Feild (1934–2016) und Llewellyn Vaughan-Lee (geb. 1953), zwei wichtige Vertreter des universellen und praxisorientierten Sufismus von heute.
So wie sich heute Zen-Meditation praktizieren lässt, ohne dass man dazu zum Buddhismus übertreten muss, gibt es seit Ende des 20. Jahrhunderts auch im Westen Sufi-Gemeinschaften, die mit ihren spirituellen Übungen auch Nicht-Muslimen offenstehen.
Im Judentum entwickelten sich meditative Praktiken vor allem im Umfeld der Kabbala-Mystik sowie des volkstümlicheren Chassidismus, der vor allem in Osteuropa im 18. und 19. Jahrhundert aufblühte. Die von Abraham Abulafia (um 1240–1292) propagierte ekstatische Kabbala beispielsweise basiert auf Meditationsübungen, zu deren Zielen die (ekstatische) Vereinigung mit Gott durch die Meditation von hebräischen Namen für Gott oder von speziellen Kombinationen hebräischer Buchstaben zählte. Die Meditationstechnik bestand also aus der wiederholten, länger andauernden Konzentration des Geistes auf etwas Sakrales.
Moses Maimonides (um 1135–1204), einer der bedeutendsten jüdischen Philosophen aller Zeiten, beschrieb Meditation als eine Einstellung des Geistes, die uns empfänglich macht für die göttliche Vorsehung und Inspiration. Anderswo schätzte er Meditation als Form der Anbetung höher ein als Opfergabe oder formelles Gebet.25
25 Ehud Benor, Worship of the Heart: A Study of Maimonides’ Philosophy of Religion, S. 159.
Später wurden meditative Übungs- und Andachtsformen auch im Umfeld der chassidischen Rabbis in Osteuropa betrieben, darunter Baal Shem Tov (um 1698–1760) und Nachman von Breslow (1772–1810). Zu den Repräsentanten der zeitgenössischen jüdischen Meditation zählen Lawrence Kushner (geb. 1943) und Rami Shapiro (geb. 1951). Insgesamt jedoch spielten und spielen meditative Übungspraktiken – zumindest formell – im Judentum verglichen mit anderen Weltreligionen eine geringe Rolle.
Wenden wir uns nun etwas ausführlicher der Geschichte der Meditation in unserem westlichen, christlich geprägten Kulturkreis zu. Wie anderswo in diesem Buch dient „Meditation“ dabei als Überbegriff. Im Christentum unterschieden werden vor allem vier Formen: Die Meditation selber wird eher gegenständlich verstanden: Man kann beispielsweise einen Abschnitt aus der Heiligen Schrift oder ein Heiligenbild meditieren. „Verkosten“ ist hier ein manchmal verwendetes Wort, womit klargestellt wird, dass es nicht um ein analysierendes Betrachten handelt. Die letztgenannte Form – das Meditieren von Schriftstellen und zum Teil auch Bildern – bildet die Grundlage der Ignatianischen Exerzitien. Diese wurden durch Ignatius von Loyola (1491–1556) ins Leben gerufen. Sie verbinden jene Schriftmeditationen mit Betrachtungen zum eigenen Leben und erleben heute im christlichen Umfeld eine gewisse Renaissance. Kontemplation beschreibt meist ein stilles Sich-Öffnen für Gott, ein wortloses Gebet. Die vierte Form ist das mantraartig wiederholte Jesus- oder Herzensgebet.
Die ersten christlichen Meditationsanleitungen stammen aus der Zeit der sogenannten „Wüstenväter“ und „Wüstenmütter“, die sich – von der oberflächlichen Religionspraxis ihrer Zeitgenossen in der spätrömischen Antike enttäuscht – in Wüstengegenden zurückzogen (ca. 3. bis 6. Jahrhundert) und dort als Einsiedler lebten, teils Schüler zu sich ließen und teils auch ihre Erfahrungen niederschrieben.
Sie waren die Ersten, die das Jesus- oder Herzensgebet propagierten. Verbreitet hat es sich danach vor allem in den Klöstern der Ostkirche – zunächst im byzantinischen Griechenland, später auch in Russland. Es ist ganz schlicht und beinhaltet bloß Atemübungen und das wiederholte Aufsagen eines Satzes. Das Grundgebet lautet „Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner“, wobei es auch in etwas längeren oder kürzeren Fassungen existiert. Seraphim von Sarow (1759–1833), einer der am meisten verehrten Heiligen in Russland, schrieb dazu: „Mit diesem Gebet in deinem Herzen wirst du inneren Frieden und Nüchternheit von Körper und Seele finden.“ Zugleich sei es von dynamischer Wirkung und werde zu „einem Brunnen lebendigen Wassers“, der unablässig in der Seele sprudle.26 Eine in unseren Tagen verbreitete Kurzform des Herzensgebets besteht darin, beim Einatmen einfach „Jesus“ und beim Ausatmen „Christus“ in den Atemfluss zu legen (oder umgekehrt). Die mit dem Herzensgebet verbundene Geisteshaltung wird „Hesychasmus“ genannt, abgeleitet vom griechischen Wort für Ruhe, Frieden und Gelassenheit.
26 Zit. in Gordon Mursell (Hrsg.), Die Geschichte der christlichen Spiritualität, S. 161–162.
In West- und Mitteleuropa wurde im Mittelalter in den Klöstern die Contemplatio betrieben. Gemäß damaligem Verständnis benötigte deren Praxis allerdings eine innere Vorbereitung. Einer ihrer Vordenker war Richard von St. Viktor (gest. 1173), ein ursprünglich aus Schottland stammender Abt in Frankreich.27 Er und andere „Viktoriner“ beschrieben eine innere Progression, die bei der Beschäftigung mit der Heiligen Schrift ansetzte, und verglichen diese mit dem Aufstieg auf einen Berg: Zunächst kommt die Cogitatio, das rationale Verstehen. Danach folgt die Meditatio, das „Verkosten“ und der Bezug des Textinhalts auf die eigene Lebenssituation. Den Gipfel schließlich stellt die Contemplatio dar – ein von Gedanken gelöstes sich Öffnen für … – eben für das, was sich nicht mehr in Worte fassen lässt. Diejenigen, die es dennoch versuchen, greifen zu Metaphern wie „Licht Gottes“ oder „mystische Schau“.
27 Dies zeigt, dass es schon im Mittelalter eine europäische Personenfreizügigkeit gab, allerdings nur in der dünnen Schicht der Gebildeten und dank Latein als deren Einheitssprache.
Große Lehrer des Kontemplationsweges traten auch in Spanien im 16. Jahrhundert auf.28 Die drei bedeutendsten hießen Francisco de Osuna (ca. 1492 – ca. 1540), Teresa von Avila (1515–1582) und Johannes vom Kreuz (1542–1591). Die Praxis des „inneren Gebetes“ bzw. des „Gebetes der inneren Sammlung“, welche diese den Gläubigen (in erster Linie ihren klösterlichen Mitbrüdern und Mitschwestern) nahelegten, war in jener Zeit jedoch zutiefst umstritten. Die Inquisition verfolgte die sogenannten „Alumbrados“ (Erleuchteten), die aus der Freiheit dieses Gebetes und einer unmittelbaren Gottesbeziehung sich von der Autorität der katholischen Kirche lösen wollten und die sakramentale und kirchliche Vermittlung des Glaubens infrage stellten.
28 Das Land hatte sich nach vielen Jahrhunderten von der muslimischen Herrschaft befreit und danach im Zuge der Re-Christianisierung die ansässigen Muslime sowie die zahlreichen Juden entweder direkt vertrieben oder vor die Wahl gestellt, sich zu bekehren oder das Land zu verlassen. In den Jahrhunderten davor hatten die Muslime und die Juden jedoch einen ganz entscheidenden Beitrag zur Geistesgeschichte des Landes geleistet. Dazu zählten auch die im Mittelalter in Spanien lebendige (islamische) Sufi-Mystik und (jüdische) Kabbala-Mystik. Es ist unwahrscheinlich, dass die großen spanischen Mystiker und ihre Praxis des kontemplativen Gebets davon völlig unbeeinflusst waren.
Die Praxis des Herzensgebets sowie der Kontemplation wurde verstanden als ein bewusstes und manchmal auch sehnsuchtsvolles „Sich-Öffnen für Gott“. In den Religionen des Ostens hingegen stellte die Meditation eher ein absichtsloses, jedoch ebenso waches Dasein in Stille dar. Den schriftlichen Überlieferungen nach zu urteilen, waren die Ergebnisse einer nachhaltigen Übungspraxis in beiden Fällen jedoch nicht unähnlich. Bloß wurden sie in verschiedene, der jeweiligen Religion entliehene Begriffe gekleidet. Um solche historischen Zeugnisse und Anleitungen verstehen zu können, müssen wir also versuchen, durch die Terminologie hindurch zum Kern der Aussagen zu gelangen. Dann kann auch ein Bezug zu unseren eigenen Erfahrungen aufleuchten.
Heute genauso aktuell wie früher ist die Einsicht der Mönche jener Epochen, dass es für ein Sich-Versenken in Kontemplation eine gewisse Vorarbeit, nämlich einen inneren Prozess der Konzentration und geistigen Entleerung, braucht. Und noch eine Erkenntnis aus der langen mönchischen Tradition – westlicher wie östlicher – verdient auch heute Beachtung: Bei einer spirituellen Praxis tun wir gut daran, uns mindestens phasenweise unter die Obhut eines „Seelenführers“, eines erfahrenen geistlichen Begleiters, zu stellen. Oder immer wieder den Austausch mit vertrauenswürdigen und auf dem betreffenden Gebiet bewanderten Lehrerinnen oder Übungsleitern zu suchen. Denn als zu groß wurde die Gefahr erachtet, dass die inneren Dämonen (heute würde man von unbewussten Denkmustern oder unkontrollierten Trieben sprechen) sowie der Konformitätsdruck der Außenwelt uns vom konsequenten Beschreiten des inneren Weges abbringen könnten, wenn wir diesen allein angehen.
Die inneren Bewegungen, die bei der Kontemplation beobachtet werden, sowie die Integration der Einsichten ins Leben als Ganzes hat der französische Bischof und Mystiker François de Sales (auch Franz von Sales, 1567–1622) wunderbar auf den Punkt gebracht. Fast sieht man ihn dabei schmunzeln, mit wohlwollendem Verständnis für unsere ständigen Abschweifungen und Rückfälle trotz bester Absichten: „Wenn das Herz wandert oder leidet, bring es behutsam an seinen Platz zurück und versetze es sanft in die Gegenwart deines Herrn. Und selbst, wenn du nichts getan hast in deinem ganzen Leben, außer dein Herz zurückzubringen und wieder in die Gegenwart unseres Gottes zu versetzen, obgleich es jedes Mal wieder fortlief, nachdem du es zurückgeholt hattest, dann hast du dein Leben wohl erfüllt.“29
29 Zit. in Willi Lambert, Das siebenfache Ja, S. 36-37.
Auf volkstümliche Art drückt die Redensart „das Herz am rechten Fleck haben“ etwas Ähnliches aus. Franz von Sales hat übrigens als Hilfe empfohlen, den ganzen Tag hindurch kurze Gebete einzustreuen, um so das Herz immer wieder an den „rechten Fleck“ zurückzuholen oder, modern gesagt, sich zu zentrieren.
Dass die kontemplative Praxis nicht als Selbstzweck, als bloße „Wellness für die Seele“, verstanden werden sollte, sondern im Alltag wirksam werden soll, zeigt folgende Anweisung des großen Mystikers und Lehrers Meister Eckhart (1260–1328): „Achte darauf, wie du deinem Gott zugekehrt bist, wenn du in der Kirche bist oder in der Zelle: Diese selbe Gestimmtheit behalte und trage sie unter die Menge und in die Unruhe und in die Ungleichheit.“30
30 Meister Eckhard, Deutsche Werke, Bd. V, 203.3-5; zit. in Eckhard Wolz-Gottwald, Die Mystik in den Weltreligionen, S. 45.
An dieser Stelle muss nochmals betont werden: All die bisher geschilderten christlichen Meditations- bzw. Kontemplationspraktiken – und wir betrachten hier den Zeitraum von ca. 250 bis 1600 – waren für Mönche und in einem geringeren Ausmaß auch für Nonnen gedacht. Das gemeine Kirchenvolk bekam (noch) nichts davon mit. Dies änderte sich bis zu einem gewissen Grad ab dem 17. Jahrhundert. Inzwischen hatte sich der Buchdruck etabliert und die Zahl an Lesekundigen war markant gestiegen. Somit konnten mystische Zeugnisse sowie Berichte über kontemplative Praktiken die Klostermauern verlassen.
In Deutschland war es z. B. der Dichter-Mystiker Angelus Silesius (1624–1677), der Einsichten der großen deutschen Mystiker wie eben von Meister Eckhard sowie Johannes Tauler (um 1300–1361) und Heinrich Seuse (1295–1366) in kurzen und leicht eingängigen Versen unter das Volk brachte. In ihnen wird den Lesern die Suche nach Gott (und somit auch nach Frieden und Erfüllung) nicht im Äußeren, sondern im Innen der Seele nahegelegt. Ein Beispiel:
„Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren
Und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.“31
31 Angelus Silesius, Der cherubinische Wandersmann, das erste Buch, Nr. 61, zit. in Gerhard Wehr, Angelus Silesius, S. 40.
Die nächste Phase (Ende 17. bis Mitte 18. Jahrhundert) lässt sich unter dem Begriff „Quietismus“ zusammenfassen (er steht nicht für eine Bewegung, sondern für eine Haltung, und wurde von dessen Gegnern im abschätzigen Sinn geprägt). Wie es der Name andeutet, wird der Stille eine zentrale Rolle zugewiesen. In der Stille ist die direkte Verbindung zu Gott möglich, wenn man sich nach ihm ausrichtet. Auch hier handelt es sich um eine meditative Praxis, die zuweilen zu mystischen Einsichten und mystischer Ekstase führte. Dies war sowohl den katholischen als auch den protestantischen Kirchenbehörden suspekt. Die katholische Kirche pochte auf ihre Vermittlerstellung zwischen Gott und den Gläubigen, die protestantischen Kirchenoberen pochten auf die Hoheit der Heiligen Schrift. Das gefährliche Gedankengut wurde nun nicht mehr bloß von ein paar Mönchen in der Abgeschiedenheit ihrer Zellen gehegt, es drohte sich unter dem Volk zu verbreiten. Somit schritten die Kirchenoberen, wie die Inquisitoren zuvor, zur Tat: Mystische Schriften wurden verboten und sogar verbrannt, Protagonisten wie der Spanier Miguel de Molinos (1628–1697) oder die Französin Jeanne-Marie Guyon (1648–1717) wurden inhaftiert (das Zeitalter der Hinrichtung von „Ketzern“ war am Abklingen). In England wurde die aus dem gleichen Geiste entstandene Bewegung der Quäker von den Behörden ebenfalls unterdrückt. Die Repression erwies sich überall als (vorübergehend) erfolgreich – meditative Praxis bzw. Mystik als Volksbewegung wurden im Keim erstickt.
Mit dem Anbruch der Aufklärung im 18. Jahrhundert kamen Meditation und Mystik von einer weiteren Seite unter Beschuss, nämlich vom Rationalismus. Es folgte somit eine längere Zeitspanne (grob gesagt vom 18. Jahrhundert bis Anfang der 1960er-Jahre), in der meditative Praktiken an Bedeutung verloren und – wenn sie überhaupt auf dem Radar erschienen – mit Obskurantismus, Schwärmerei und generell einer vorwissenschaftlichen Weltsicht in Verbindung gebracht wurden.
So gesehen ist es keine Überraschung, dass die Wiederentdeckung und Wiederbelebung von meditativen Übungswegen im Westen gegen Ende des 20. Jahrhunderts auf Inspirationen und Erfahrungen aus dem Osten – vor allem aus Indien, Tibet und Japan – angewiesen waren. Pioniere aus der christlichen Welt waren mystisch begabte Mönche des Westens, die sich im Osten jahrzehntelang auf eine mit Meditation verbundene hinduistische oder buddhistische Spiritualität einließen, ohne dabei ihre christliche Grundüberzeugung aufzugeben. Zu ihnen zählen der französische Benediktiner Henri Le Saux/Abhishiktananda (1910–1973) und sein britischer Ordensbruder Bede Griffiths/Swami Dayananda (1906–1993), die beide (unabhängig voneinander) in Indien tätig waren, sowie der jahrzehntelang in Japan wirkende deutsche Jesuit Hugo Enomiya Lassalle (1898–1990). Sie und andere gaben den Anstoß zur Integration (oder Reintegration) von meditativen Praktiken innerhalb der christlichen Glaubenswelt. Dass dies nicht ohne Widerstände aus der Kirchenhierarchie und teils auch aus dem Kirchenvolk vor sich ging, versteht sich fast von selbst. Solche Widerstände halten bis heute an, werden aber auch dank der rasant zunehmenden Akzeptanz von Meditation in breiten, religiösen wie nicht-religiösen Bevölkerungskreisen zusehends schwächer.
Ein Schüler von Bede Griffiths, nämlich John Main (1926–1982), schuf die Basis für die „World Community for Christian Meditation“ (WCCM) mit Hauptsitz in London. Ihre Meditationsform ist weltweit die gleiche: aufrecht sitzen, die Augen schließen und innerlich ein Mantra wiederholen. Empfohlen wird das aramäische Wort MA-RA-NA-THA. Der Wohlklang und der Fluss der vier gleich langen und gleich stark betonten Silben macht es Praktizierenden leicht, dieses Wort mit dem Atemfluss zu verbinden. (Probieren Sie es aus!) Übersetzt heißt es „Komme, Herr“ oder „Der Herr kommt“, aber es geht nicht darum, während der Meditation über die Bedeutung nachzudenken. Das Mantra kann im Lauf der Meditation auch losgelassen und dann wieder herbeigeholt werden, wenn man merkt, dass die Aufmerksamkeit abdriftet. Mit dieser Form wird eine Verbindung hergestellt zwischen dem christlichen Herzensgebets und der indischen Mantra-Tradition, die im Westen unter anderem in der sogenannten „Transzendentalen Meditation“ gepflegt wird. Im Herzen und vielleicht auch auf Verstandesebene ist diese Meditationspraxis also christlich, aber in der Schlichtheit der Form und der Universalität des zugrundeliegenden Geistes trägt sie bereits stark transreligiöse Züge.
Die von Roger Schütz (1915–2005) gegründete interkonfessionelle Gemeinschaft von Taizé in Frankreich hat eine einfache, mit meditativen Elementen durchsetzte Form der Andacht entwickelt (viel Stille und repetitiver, „Chant“-ähnlicher Gesang), die inzwischen auf der ganzen Welt in Gottesdiensten und anderswo zum Einsatz kommt. Sie zieht neben bekennenden Christen ebenfalls nicht religiös gebundene Menschen an, besonders an den regelmäßig veranstalteten internationalen Jugendtreffen.
Mehrheitlich auf den Buddhismus zurückgehen die heute existierenden säkularen Formen der Meditation. Am verbreitetsten in Westeuropa und Amerika ist inzwischen das von Jon Kabat-Zinn (geb. 1944) entwickelte „Mindfulness Based Stress Reduction“-Programm (MBSR), dessen Grundlage die Meditation bildet und das seit Beginn des 21. Jahrhunderts auch erfolgreich in Spitälern, an Schulen sowie in der Geschäftswelt eingesetzt wird.
Die Tendenz im 21. Jahrhundert geht, wie gesagt, dahin, dass die verschiedenen Meditationsformen ihren religionsgebundenen Rahmen immer mehr ablegen. Oder dieser Rahmen wird so stark ausgeweitet, dass sich auch Teilnehmende ohne religiöse Bindung darin wohlfühlen können. Nicht mit abgelegt werden sollten dabei das ethische Grundgerüst sowie der Transzendenzbezug, die von den jeweiligen Religionen tradiert wurden bzw. werden. Während Rituale und Glaubenssätze wegfallen oder zumindest an Bedeutung verlieren, bilden sie – das ethische Grundgerüst und der Transzendenzbezug – sozusagen den diamantenen Kern eines Meditationsweges. Fällt auch dieser Kern weg, könnten moderne Meditationsübungen zu reinen Wohlfühloasen für die gestresste Seele schrumpfen, ähnlich wie manche Yogaübungen bloß noch als Kraft- und Fitnessübungen angeboten werden. Die Zukunft wird es weisen, aber ich wage zu behaupten, dass sich eine Meditationspraxis ohne spirituelles Fundament nicht nachhaltig – idealerweise bis ans Ende des Lebens – aufrechterhalten lässt.
Die Globalisierung bringt nicht nur Welthandel sowie weltweite Lieferketten und Dienstleistungen, eine weltweite Durchmischung der Völker und einen weltweiten Austausch an Wissen. Sie bringt auch eine weltweite Verbreitung und zum Teil Durchmischung von spiritueller Weisheit und spirituellen Praktiken (die teils einen säkularen Mantel erhalten). Zu diesen Praktiken zählt auch die Meditation.
Fassen wir zusammen: Historisch gesehen entwickelte sich Meditation in all ihren Varianten ausschließlich im religiösen Umfeld. Nicht nur das, sie entwickelte sich und gedieh praktisch ausschließlich in Klöstern oder in Abgeschiedenheit, wo der Alltag grundsätzlich in Stille eingebettet ist (siehe Kapitel 6.2). Einen großen Unterschied gibt es jedoch zwischen der christlichen und buddhistischen monastischen Tradition. Während in den buddhistischen Klöstern die Meditation einen zentralen Pfeiler bildete, waren die christlichen Meditationsformen stets Randerscheinungen, die zudem von den Kirchenoberen immer wieder hinterfragt oder gar bekämpft wurden.
Meditation in Stille und Abgeschiedenheit pflegten und pflegen nicht nur christliche und buddhistische Mönche, sondern auch Ashram-Gemeinschaften im Hinduismus sowie Wanderderwische der Sufis und Yogis in Indien, die immer wieder an abgelegenen Orten verweil(t)en. Sie, liebe Leserinnen und Leser, werden sich in absehbarer Zeit wohl weder in ein Kloster noch in einen Ashram (es sei denn für eine Retraite) noch in eine Berghöhle im Himalaya zurückziehen. Schaffen Sie sich also etwas Eigenes. Machen Sie für 20 Minuten pro Tag einen Raum zu Ihrer Klosterzelle. Ziehen Sie sich dorthin zurück – allein, ohne Störung von außen, ohne Buch, Handy oder Laptop als Ablenkungsmöglichkeit. Oder machen Sie einen Ort in der Natur zu Ihrem Rückzugsort. Sie werden auf innere Widerstände stoßen. Aber wenn Sie dranbleiben, werden Sie Wunder erleben.
2.2.2 Arten der Meditationspraxis
Nach dem Überblick über die historische Entwicklung verschiedener Meditationstraditionen machen wir jetzt einen Schritt von der Geschichte zur Gegenwart und von der Theorie zur Praxis. Gerade in unseren Tagen werden Meditationspraktiken empfohlen sowie Treffen und Kurse angeboten, die Elemente aus verschiedenen der beschriebenen Traditionen kombinieren. In diesem Kapitel werden nun einzelne Methoden und Techniken – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – beleuchtet, die von allen interessierten Personen angewandt werden können, unabhängig von ihrem Hintergrund oder ihrer religiösen Einstellung.
Eine einheitliche und weitherum anerkannte Einteilung der Meditationstechniken gibt es nicht. Das mag daran liegen, dass in der Praxis die eine Art des Übens oft in eine andere überfließt, die Unterschiede also nicht in Stein gemeißelt sind.
Der Buddhismus kennt drei sich ergänzende Grundtypen der Meditation (neben anderen):

 Samatha, die Konzentrationsmeditation, bei der wir die Aufmerksamkeit auf ein äußeres oder inneres Objekt richten (klassischerweise auf den Atem) und aus dem ruhelosen Umherschweifen immer wieder zu diesem zurückkehren. Das Ziel ist die Beruhigung des Geistes.

 Vipassana, die Achtsamkeitsmeditation, bei der wir ohne bestimmtes Objekt nur beobachten, was in uns drinnen an Gedanken, Bildern, Emotionen, Wünschen, Anfechtungen und Körperempfindungen hochkommt – und wieder vergeht. Das Ziel ist Einsicht in die Natur unseres Geistes.

 Metta, bei der wir das Wohlwollen uns selbst und anderen gegenüber dadurch stärken, dass wir in der Meditation die Person oder Personen „ins Herz nehmen“ und durch speziell gewählte Zusprüche unsere Gefühle ihnen gegenüber zum Positiven wenden. Das Ziel ist die Kräftigung und Ausdehnung von Mitgefühl und Herzensgüte.

€13,99

Žanrid ja sildid

Vanusepiirang:
0+
Objętość:
595 lk 9 illustratsiooni
ISBN:
9783991073642
Õiguste omanik:
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