Wie wir töten, wie wir sterben (eBook)

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Wie wir töten, wie wir sterben (eBook)
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

MARTIN VON ARNDT





WIE WIR TÖTEN, WIE WIR STERBEN



POLITTHRILLER










Gesund. Rückstandsfrei. Klimapositiv.



ars vivendi verlag schützt das Klima und intakte Ökosysteme durch den Druck dieses Buches beim Ökopionier gugler*, dem weltweit ersten zertifizierten Anbieter für Cradle to Cradle Certified™ Druckprodukte.



• Dieses Buch enthält nur gesunde Substanzen und kann daher – anders als herkömmlich gedruckte Bücher – zu 100 % wiederverwertet werden.



• Alle CO2-Emissionen, die beim Druck dieses Buches entstanden sind, wurden zu 110 % kompensiert. In der Produktion kam ausschließlich Ökostrom zum Einsatz.



• Das Cradle to Cradle Certified™-Zertifikat bestätigt das. ©

gugler.at













Originalausgabe



1. Auflage November 2021



© 2021 by ars vivendi verlag



GmbH & Co. KG, Cadolzburg



Alle Rechte vorbehalten





www.arsvivendi.com





Satz: ars vivendi



eISBN 978-3-7472-0330-9




WIE WIR TÖTEN,



WIE WIR STERBEN




Inhalt





ERSTER TEIL: WIE WIR TÖTEN







Kapitel 1







Kapitel 2







Kapitel 3







Kapitel 4







Kapitel 5







Kapitel 6







Kapitel 7







Kapitel 8







Kapitel 9







Kapitel 10







Kapitel 11







Kapitel 12







Kapitel 13







Kapitel 14







Kapitel 15







Kapitel 16







Kapitel 17







Kapitel 18







ZWEITER TEIL: WIE WIR STERBEN







Kapitel 19







Kapitel 20







Kapitel 21







Kapitel 22







Kapitel 23







Kapitel 24







Kapitel 25







Kapitel 26







Kapitel 27







Kapitel 28







Kapitel 29







Kapitel 30







Kapitel 31







Kapitel 32







Kapitel 33







Kapitel 34







Kapitel 35







Kapitel 36







Kapitel 37







EPILOG







GLOSSAR







ZITATE







GANZ HERZLICHEN DANK AN …







ERSTER TEIL

WIE WIR TÖTEN





»Wir wollen, dass die Algerier freier, brüderlicher, gleicher werden – kurz: französischer.« Max Lejeune, sozialistischer Verteidigungsminister Frankreichs, 1956









1







Spätherbst 1961





Im Alter von sechs Jahren zwang ihn sein Vater dazu, Bleiche zu trinken. Nicht so viel, dass er sich die Speiseröhre dauerhaft verätzt hätte – gerade genug, dass er zwei Tage lang Bauchkrämpfe hatte und sich so oft übergab, bis er Sternchen sah, sogar als er aufgehört hatte, sich zu übergeben.



Vielleicht hatte ihn sein Vater davon abhalten wollen, zum Säufer zu werden wie alle anderen Männer in der Familie. Oder er wollte, dass seine Kinder niemandem blindes Vertrauen entgegenbrachten, nicht mal dem eigenen Vater. Oder, und das war am wahrscheinlichsten, er hatte rein gar nichts damit bezweckt, weil der Vater ständig Blödsinn mit seinen Jungs trieb, wenn die Mutter kein Auge auf sie hatte.



Jetzt fühlte sich seine Magengrube wieder so an, als hätte man ihm Bleiche eingeflößt. Die Attacke war unerwartet, der Schlag hatte ihn mit einer Geschwindigkeit und Härte getroffen, wie er sie nie zuvor erlebt hatte. Es war, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen, alles Blut schien sich aus seinen Beinen zurückzuziehen. Er krümmte sich, würgte, taumelte rückwärts. Er sah, wie der Angreifer abermals auf ihn zustürmte, er musste zwei, drei Schritte zur Seite tun, sonst würde ihn der andere endgültig fertigmachen. Er wich im Krebsgang aus, ihm war unbeschreiblich schlecht, es hörte gar nicht mehr auf. Der Angreifer fokussierte ihn, Entschlossenheit in den Augen. Oder Blutgier.



Er atmete dreimal durch, so tief es ging. Seine Beine hatten die bleierne Schwere verloren, der andere würde es jetzt nicht mehr so leicht haben, ihn zu überrumpeln. Dann traf ihn ein Schlag auf das rechte Ohr. Es blitzte in ihm auf, als ob etwas in seinem Hirn geplatzt wäre, und er ging zu Boden. Schwärze breitete sich von der Brust bis zu den Haarspitzen über seinen Kopf, er hörte seinen eigenen rasselnden Atem, spürte das Herz bis in die Schläfen klopfen. Unter ihm war eine Lache aus Schweiß, die ihn am Boden festzukleben schien. Er hörte die Stimme seines Angreifers, aber er verstand die Worte nicht, sie kamen aus weiter Ferne, waren von einem überlauten Echo verzerrt oder langten rückwärts bei ihm an.



Dann merkte er, dass es nicht sein Angreifer war, der sprach.



»Drei – vier …«



Sein Kopf strebte nach oben, er machte den Nacken lang, aber seine Arme und Beine hatten vergessen, dass sie sich am Aufstehen beteiligen mussten, und er wusste ums Verrecken nicht, wie er ihnen klarmachen sollte –



»Fünf …« Er rollte sich auf die Seite, sein Oberkörper klebte nun nicht mehr am Boden und er konnte ihn aufrichten. »Sechs …«



Er stellte ein Bein auf, dann das andere, drückte sich mit aller Kraft in die Vertikale. Die Worte waren verstummt, dafür hörte er jetzt das Geschrei der Halle. Ein hundertstimmiger Chor begann etwas zu skandieren, das nach »Auf–die–Knie–auf–die–Knie« klang.



Er brachte die Fäuste mühsam vors Gesicht, sie hielten Schläge ab, die eher spielerisch kamen. Endlich ertönte der Gong.



Auf dem Weg in seine Ecke musste er sich mühevoll ausbalancieren, ließ sich auf das Polster fallen, spürte, wie ihm der Sekundant Blut aus dem Gesicht wischte und Wasser in den Mund spritzte. Er war unendlich dankbar für die Flüssigkeit, auch wenn er das meiste wieder ausspuckte.



In der kleinen Halle in Hamburg saßen die Zuschauer gedrängt. Es roch nach zu vielen erregten Menschen, zusammengepfercht auf zu engem Raum. Blaue Rauchfäden aus Zigaretten vermischten sich mit dem dicken grauen Qualm der Zigarren und zogen in Schwaden zum Ring hinauf. In den ersten drei Reihen Typen mit gemusterten Sakkos und bunten Hemden, die bis zum Bauchnabel aufgeknöpft waren. Alles Milieu, dachte er, Luden, die ihre Goldketten und Goldzähne spazieren führten. Dahinter erkannte er Kleinbürger in schäbigen blauen oder grauen Anzügen. Das zurückgekämmte Haar strotzte vor Brillantine, die das Deckenlicht reflektierte. Dazwischen junge Männer in Matrosenanzügen, die bei jedem Schwinger mitgingen und fast von den Stühlen fielen. Die meisten waren besoffen, sie gingen erst zu den Boxkämpfen und versumpften dann auf der Reeperbahn, bis ihr Landurlaub vorbei war.

 



Sein Sekundant musste etwas zu ihm gesagt haben, aber er hatte nicht darauf geachtet. Er stellte sich vor, er wäre jetzt da unten, inmitten dieser Männermeute, in einem Dunst aus Bier und Schweinebraten, aus Schweiß, Tabak und ungewaschenen Klamotten. Und er ließ den Gedanken an sich vorüberziehen, was all diese mittelalten Überlebenskünstler da unten vor zwanzig Jahren gemacht hatten – ob sie in Polen und Russland jüdische Frauen und Kinder in die von ihnen selbst ausgehobenen Gräben geschossen hatten. Es war nicht gut, darüber nachzudenken. Schluck deinen Stolz runter, er macht dich nicht satt, hatte sein Vater immer gesagt. Also schluckte Vanuzzi seinen Stolz runter und begann, sich in der für die Pause verbleibenden Zeit den bisherigen Kampf zu vergegenwärtigen.



Sein Gegner war ein verdammter Rechtsausleger. Vanuzzi hatte schnell begriffen, dass der gewohnt war, gegen Linksausleger gut auszusehen. Mit jeder im Uhrzeigersinn ausgeführten Bewegung drohte Vanuzzi, in die Schlaghand des Deutschen zu laufen. Mehrmals hatte der Southpaw ihm schon linke Haken verpasst, die gesessen, ihn aber nicht ausgeknockt hatten. Aber da Vanuzzis rechte Augenbraue aufgeplatzt und das Auge darunter angeschwollen war, hatte er Mühe, die Schlaghand des anderen rechtzeitig zu sehen. Vor einer Minute wäre das beinahe schiefgegangen.



Im Infight war Vanuzzi dem Deutschen überlegen, doch seine Uppercuts hatten bislang keinen Erfolg erzielt. Mittlerweile hielt ihn der Kerl auf größerer Distanz – Kunststück!, er war fast zehn Zentimeter größer als Vanuzzi, ein Hüne von zwei Metern Körperlänge.



Es war nicht sein erster Kampf in den letzten Monaten – aber der erste, dessen Ausgang tatsächlich offen war. Bei den anderen hatte ihm irgendeiner dieser schmierigen Typen wenige Stunden vorher gesagt: »Du gehst runter, Ami, aber nicht vor Runde vier, kapiert?«



8–9–2. Acht Siege, neun Niederlagen, zwei Unentschieden. Seine Bilanz musste ausgeglichen sein, sonst wäre mit den Wetten auf ihn kein Geld zu verdienen gewesen. Mit seinem italienisch klingenden Namen hätte er hier gar nicht erst aufzutauchen brauchen, also hatte er sich einen echten Ami-Namen verpasst: Ted Jackson. Das Publikum, das vermutlich aus Leuten bestand, die immer noch an die Überlegenheit der arischen Rasse glaubten, wollte sehen, wie sein teutonischer Held den verdammten Besatzer vermöbelte. Doch das passierte nur hin und wieder, wenn die mit der Brillantine im Haar ihre Wetten im Vorfeld entsprechend platziert hatten.



Beinahe fünfzig Minuten ging dieser Kampf bereits – lange genug für Vanuzzi, um den Southpaw zu studieren. Und als eine Handbewegung des Ringrichters die beiden Kontrahenten wieder in die Mitte rief, glaubte er, endlich die Lücke in der Verteidigung des Deutschen gefunden zu haben. Ödön, Vanuzzis Sekundant, klatschte ihm zweimal aufmunternd mit den Handflächen auf die Trapezmuskeln. Sofort begannen die Boxer, einander zu belauern, tauschten einige harmlose Jabs aus. Der Deutsche, der zuvor so siegessicher gewesen war, schien durch die Pause aus dem Rhythmus gekommen zu sein. Seine Schläge wurden langsamer, verrieten sich durch eine vorangehende Bewegung in der Schultermuskulatur.



Es war Zeit!



Zwei, drei weitere Jabs, dann setzte Vanuzzi einen Cross, der den Deutschen schwanken und direkt in seinen Powerpunch rennen ließ, einen rechten Haken. Sein Gegner ging auf die Bretter, der Ringrichter schickte Vanuzzi in die neutrale Ecke. Der Deutsche versuchte, sich wieder zu fangen, krabbelte im Kreis, während der Ringrichter zählte und das Publikum johlte, buhte und pfiff. Dann war es vorbei. Vanuzzi spürte, wie eine Hand nach seinem verschwitzten rechten Arm griff, abglitt, noch einmal fester zugriff, um ihn in die Höhe zu befördern. Er stand da, den Arm gereckt, pumpte unentwegt und schaute mit so verengtem Blickwinkel Richtung Publikum, dass er den Ringrichter an seiner Seite kaum erkannte.



Vanuzzi drehte eine Ehrenrunde, trollte sich dann zu seinem Sekundanten. Die beiden verließen den Ring und strebten dem Umkleideraum zu. In weniger als fünf Minuten würde der nächste Kampf beginnen.



Die Umkleide der Boxhalle war eine ehemalige Waschküche. Sie roch nach Schimmel, der die Wände in abstrakten Mustern bedeckte, nach Chlor und Urin. Kaum einer der Boxer ging zum Pinkeln vor die Tür, sie benutzten einfach die beiden Waschbecken, in denen sich nachfolgende Kämpfer ihre Gesichter wuschen. Der Harngeruch ging nicht mehr weg, so viel Lauge sie auch in die Leitungen kippten.



Vanuzzi ließ sich auf eine wacklige Holzbank fallen, die unter seinem Gewicht ächzte. Sein getrübter Blick fiel auf die gegenüberliegende Wand, auf eine Ankündigung aus dem vergangenen Jahr. Eine englische Musikgruppe namens The Beatles trat allabendlich in einem Stripclub auf der Großen Freiheit auf. Es klang nicht nach Jazz, und so verlor Vanuzzi umgehend das Interesse.



Ödön zog ihm schweigend die Handschuhe ab und versorgte seine Wunden. Der junge Mann ließ sich immer wieder zu diesen Freundschaftsdiensten überreden. »Wer soll mich sonst nach den Kämpfen zurückbringen? Mit verklebten Augen kann ich nicht Auto fahren«, erklärte Vanuzzi jedes Mal, und Ödön gab jedes Mal nach, obwohl er das Boxen verachtete. Vanuzzi konnte es ihm nicht verdenken. Er selbst hatte für diese Gladiatorenkämpfe in der Hamburger und Kölner Unterwelt nichts übrig. Aber er brauchte das Geld. Es war zuletzt eine mehr oder weniger sichere Einkommensquelle gewesen. Die einzige.



Vanuzzi hustete, winzige Tröpfchen Blut landeten auf seinen nackten Oberschenkeln.



Dann ging die Tür auf, und ein Mann trat ein, den er hier noch nie gesehen hatte. Anfang vierzig, gelocktes hellbraunes Haar, Bartschatten, der Mund ein Strich.



»Zutritt nur für Boxer und Betreuer«, schnauzte Ödön.



Der Mann reagierte nicht, trat direkt vor Vanuzzi hin und sagte: »Wohin sind die Wildgänse gezogen?«



Vanuzzi betrachtete ihn skeptisch. Teures Jackett, bis obenhin geschlossenes Hemd und Krawatte – der gehörte eindeutig nicht zur Klientel hier. Außerdem stimmte etwas an seinem Deutsch nicht.



»Die Wildgänse sind nicht gezogen. Sie sind hier und dort und überall.«



»Eine Sekunde nach der Geburt, eine Sekunde vor dem Tod.«



Vanuzzi nickte, schickte Ödön mit einem Blick aus dem Raum und warf sich ein Unterhemd über. Er hasste es, mit bloßem Oberkörper Verhandlungen führen zu müssen.



Der Mann zog eine Packung filterlose Gauloises Caporal und hielt Vanuzzi eine hin.



»Lungentorpedo. Aber Sie können das ab.«



Er gab Vanuzzi Feuer, steckte sich selbst eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.



»Also?«, fragte Vanuzzi.



»Nennen Sie mich Sélestat.«



»Nennen Sie mich Jackson.«



Sélestat lachte.



»Sie glauben, dass ich das mit den beschissenen Wildgänsen weiß und dann nicht mal Ihren wirklichen Namen kenne, Vanuzzi?«



Sie maßen einander.



»Gruß von Monty. Aber das dürfte klar sein, oder?«



»Was haben Sie für mich, Sélestat?«



»Sie sind ein Kämpfer, Vanuzzi. Aber sind Sie auch ein Jäger?«



»Kommt auf das Wild an.«



»Zwei kriminelle Elemente, die großen Schaden angerichtet haben und noch größeren Schaden anrichten werden, wenn man sie lässt. Es wäre gut, wenn jemand sie für uns findet und stellt. Nicht, weil wir es selbst nicht könnten … aber es gäbe – gewisse Verwicklungen, wenn wir es tun, und die müssen wir vermeiden.«



»Wer ist ›wir‹?«



»Erst die Antwort, dann die Details.«



»Antwort gibt’s erst, wenn ich weiß, für wen ich arbeite.«



»Sie können hier«, Sélestat führte die Arme weit auseinander und beschrieb einen Kreis, »als mittelmäßiger Boxer weitertingeln oder für uns arbeiten. Ihre Entscheidung.«



Vanuzzi fixierte den anderen.



»Wir zahlen allerdings besser als die hier.«



Sélestat hatte das starke französische Kraut hastig aufgeraucht und schnipste den Zigarettenstummel in ein Waschbecken.



»Natürlich müssen Sie sich erst einmal bei Ihrem Case Officer rückversichern, ob alles seine Richtigkeit hat. Ich bitte sogar darum, Vanuzzi.«



»Wie kann ich Sie kontaktieren?«



»Gar nicht. Wir treffen uns übermorgen, wenn Sie wieder bei Kräften sind. Dreiundzwanzig Uhr. Merken Sie sich den Ort, der in diesem Brief steht. Da finden Sie auch die Summe, die wir für Sie springen lassen. Ich bin überzeugt, dass dies Ihre Entscheidung beschleunigt.«



Er drückte Vanuzzi einen Umschlag in die Hand und wandte sich zum Gehen. Dann drehte er sich noch einmal um und sagte: »Übrigens: Sie sollten mehr auf Ihre Deckung achten. Ist Ihre große Schwäche, Vanuzzi!«



Er sah, wie der andere aus der Tür verschwand. Dann fanden seine Augen wieder das Plakat aus dem letzten Jahr. The Beatles. Was für ein dämlicher Name! Damit würden es die Jungs nie zu etwas bringen.







2





Der bestirnte Himmel über ihm und das Gaspedal unter ihm. Sein Taunus 15M hatte zigtausend Kilometer auf dem Tacho und so einiges mitgemacht, dennoch lief der Motor, ohne zu mucken. Als er ihn gekauft hatte, hatte Ödön ihn ausgelacht, ob’s nicht vielleicht etwas sportlicher gehe. Vanuzzi hatte abgewinkt. Einen Sportwagen musste man sich leisten können, außerdem wäre der viel zu auffällig gewesen. Vanuzzi wollte ein amerikanisches Fabrikat fahren, eines, an dessen Ersatzteile er mühelos herankam und das zugleich verlässlich war. Er hatte den Wagen selbst frisiert, sodass er, wenn es hart auf hart kam, auch mal hundertsechzig Sachen machte. Damit gab es nur wenige Autos in diesem Land, die ihn abhängen konnten.



Vanuzzi war wieder einmal auf der Autobahn von Köln nach Bonn unterwegs. »Diplomatenrennbahn« nannte man sie ironisch – seit Gründung der Bundesrepublik tobten sich auf ihr vorwiegend die nationale und internationale Politik und das Diplomatische Corps aus. Vielmehr: deren Chauffeure. Früher hatte Vanuzzi diese Strecke drei- bis viermal die Woche zurückgelegt, um seinen Case Officer in Bonn zu treffen. Mittlerweile gab es kaum mehr eine Notwendigkeit dafür.



Er war jetzt im zehnten Jahr »unabhängiger Informationsbeschaffer«, wie er sich selbst nannte. Hatte all diese Jahre dem britischen Auslandsnachrichtendienst MI6 zugearbeitet, aber keinen Volltreffer mehr gelandet, seit er 1956 wichtige Dokumente aus dem kommunistischen Ungarn geschmuggelt hatte. Alle interessanten – und daher lukrativen – Geschichten hatte die CIA abgegriffen. Es war ein Teufelskreis: Je weniger Erfolg, desto weniger verwertbare neue Infos, je weniger Infos, desto weniger Chancen auf Erfolg. Das MI6 ließ ihn am ausgestreckten Arm verhungern, und das war nicht bildlich gesprochen.



Seit drei Jahren hielt er sich vor allem mit Boxen über Wasser. Es waren Showkämpfe, weit davon entfernt, professionell organisiert zu sein, sonst hätte er auch nicht mithalten können. Das Gros seiner Gegner waren Männer, die ihren Zenit vor mehr als zehn Jahren überschritten hatten und nichts anderes konnten oder wollten als boxen. Doch keiner von ihnen war vierundfünfzig Jahre alt wie Vanuzzi. Noch konnte er durch Erfahrung und Schlaghärte ausgleichen, was ihm an Schnelligkeit, Reflexen und Kondition allmählich zu fehlen begann. Aber das Training musste immer umfangreicher werden, um den Status quo seiner Möglichkeiten zu erhalten, und die Blessuren brauchten ewig, bis sie ausheilten. Wenn er ehrlich mit sich selbst war, gab er sich keine zwei Jahre, bis sie ihn ausrangierten. Die Kämpfe mussten, wegen der Wetten, mit denen die Veranstalter gutes Geld verdienten, einigermaßen realistisch wirken; doch die Zocker, Luden hin oder her, würden riechen, dass etwas faul sein musste, wenn ein Mann wie er einen fünfzehn Jahre Jüngeren nach fünf Runden ausknockte.



Hin und wieder war er als Trainer eingesprungen, um ein paar Mark dazuzuverdienen. Aber seit er massive Schulden bei einem der Veranstalter hatte, reichte auch das nicht mehr. Und Schulden hatte er, weil … normalerweise hatte er kein Problem damit, wenn man ihm sagte, dass der Kampf nach fünf oder sechs Runden für ihn zu Ende sei. Und meist hatte er auch keines damit, gegen einen Deutschen zu verlieren – er schluckte seinen Stolz runter. Aber an diesem Tag war sein Gegner ein ehemaliger SS-Mann gewesen. Er hatte ihn an der ausgebrannten Blutgruppentätowierung am Oberarm erkannt. Etwas in ihm war an diesem Tag ausgerastet. Der Deutsche war ein Bulle, hatte gut und gern zehn Kilo mehr auf den Rippen. Fett, nicht Muskeln. Dadurch war er langsam. Zugleich überheblich und siegessicher, weil auch er wusste, wie der Kampf ausgehen würde. Vanuzzi hatte sich fünf Runden lang ans Drehbuch gehalten. Als er auch in der sechsten Runde keine Anstalten machte, in die behäbigen Schwinger seines Gegners zu rennen, zischte ihm der Deutsche ein ums andere Mal zwischen den lädierten Zähnen etwas zu. Nicht, dass er ihn wirklich verstanden hätte, doch glaubte er das Wort »Drecksjude« herausgehört zu haben. In Runde sieben war die SS sichtlich am Ende, schwitzte, dass bei jedem Schlag die Tropfen spritzten, keuchte pfeifend und hielt mühsam die Fäuste zur Deckung. Vanuzzi machte Schluss. Er ließ seinen Gegner in eine Gerade laufen, von der er sich nicht mehr erholte. Nach dem Kampf hatten sie ihn zu acht am Hinterausgang abgepasst und zusammengeschlagen. Sie hatten ihm nur deshalb nicht alle Knochen gebrochen, weil sie ihn für weitere Kämpfe brauchten und er ihnen versichert hatte, dass er ihre verlorenen Wetteinsätze einschließlich des verlorenen Gewinns mit Zins und Zinseszins zurückzahlen würde.

 



Doch wie …?!



Vanuzzi brauchte Geld. Viel Geld. Und er brauchte es dringend. Die Summe, die Sélestat in den »Brief« geschrieben hatte, war so groß, dass er auf einen Schlag nicht nur seine Schulden zurückzahlen konnte, er würde damit auch sich und Ödön die nächsten zwei Jahre durchbringen. Da Ödön gerade mal wieder seinen Job verloren hatte, war das auch bitter nötig.



Sie waren noch letzte Nacht aus Hamburg ins Ruhrgebiet zurückgekehrt.



Sélestat hatte Ödön vom ersten Augenblick an missfallen. Kaum war der Franzose gegangen, war Ödön wieder zurückgekehrt und hatte mit zusammengebissenen Zähnen gefragt: »Was war ’n das für ein Typ?«



»Einer, der mir Tipps für meine Defense geben wollte.«



Wie immer, wenn er auswärts kämpfte und danach längere Rückfahrten vor sich hatte, hatte ihn Ödön chauffiert, und wie immer hatte Vanuzzi die Fahrt komplett verschlafen, auch wenn sein Tagesrhythmus normalerweise ein anderer war und er nachts erst auf Touren kam. Die Kämpfe machten ihn so fertig, dass er, sobald das Adrenalin abgeflaut war, schlief wie ein Stein. Gegen Mittag hatte er Monty ein Telegramm geschickt, das dieser umgehend beantwortet und Vanuzzi um zwanzig Uhr in den Kurpark von Bad Godesberg bestellt hatte. Ein viel besuchter, dazu warmer Ort, Restaurant oder Kneipe, wie es bei früheren Treffen üblich gewesen war, wäre Vanuzzi allerdings lieber gewesen.



Er stellte sein Auto in der Nähe des Kurparks ab. Vanuzzi war mehr als eine halbe Stunde zu früh dran. Monty war Pünktlichkeitsfanatiker, hasste es, wenn seine Leute mehr als fünf Minuten zu spät zu Treffen kamen. Aber er hasste es noch mehr, wenn sie zu früh dran waren. Monty musste die Situation kontrollieren, musste derjenige sein, der bereits vor Ort war.



Vanuzzi drehte den Innenspiegel seines Wagens zu sich her und sah sich ins Gesicht. Er hatte Cuts an Unterlippe und Augenbraue, ein Auge war ein wenig geschwollen, aber nicht dramatisch. Nach anderen Kämpfen hatte er schlimmer ausgesehen.



Er wirkte noch immer deutlich jünger als seine Jahre. Das dunkelblonde, kurze Haar hatte erst wenige Silbersträhnen. Wässrig-graue Augen, die tief im Kopf steckten, und ein schmaler Mund mit je einer perfekt symmetrisch stehenden Falte rechts und links verliehen ihm mehr das Aussehen eines norwegischen Wintersportlers als das des italienischstämmigen Chicagoer Straßenkinds, das die Ereignisse der Kriegs- und Nachkriegsjahre zufällig nach Deutschland gespült hatten.



Ein schönes Curriculum Vitae: ein Chicago-Mobster, der zu Prohibitionszeiten kanadischen Alkohol schmuggelt. Er meldet sich zur US Army, als die dringend Leute braucht und deshalb keine strenge Musterung vornimmt. Heuert beim US-Heeresnachrichtendienst CIC an, übernimmt heikle Missionen in der Kriegs- und Nachkriegszeit in Italien und Deutschland. Lässt sich vom Mossad als Doppelagent rekrutieren und wechselt nach einem Alleingang nach Israel. Er legt sich in Tel Aviv einmal zu oft mit seinen Vorgesetzten an und steht plötzlich allein da. Seitdem arbeitete er auf eigene Faust.



Vanuzzi warf einen letzten Blick in den Innenspiegel, drehte ihn wieder zurück.



Was hielt ihn eigentlich so jung? Seine Jobs konnten es nicht sein.



Vielleicht der Umstand, dass er sich so ruhelos und unstet fühlte wie mit Mitte Zwanzig? Oder dass etwas in ihm dieses Leben, wie es seit ein paar Jahren lief, gründlich satt hatte und sich nach etwas ganz anderem sehnte? Sich sehnte nach etwas, das wirklich zählte … aber Vanuzzi hatte keinen Schimmer,

was

 wirklich zählte und wie er der Antwort auf diese Frage überhaupt näherkommen sollte.



Er verwarf den Gedanken, schnappte sich die dunkelbraune Fliegerjacke aus Leder, die er seit Jahren trug, sobald die Temperaturen unter zehn Grad fielen, verschloss das Auto und ging Richtung Kurpark. Es war dunkel, Lampen erhellten nur notdürftig die Wege. Er sah den Lehne an Lehne stehenden Parkbänken entgegen und entdeckte Monty, Zeitung lesend, auf einer von ihnen.



Montgomery Cuthred Hanson, seit zehn Jahren Vanuzzis Case Officer, der Mann, der ihn zum MI6 gebracht hatte, war das Abziehbild eines Engländers: Er trug sogar im Sommer Melone und Handschuhe, dazu Harris-Tweed-Dreiteiler, die er sich, wie er nicht müde wurde zu betonen, aus Hawick schicken ließ. Auch seinen Regenschirm betrachtete er – eingedenk des nicht besonders regnerischen Wetters in Bonn – als Zeichen der Distinktion. Mittelgroß, früh ergraut, glattrasiert, ging von ihm bei jeder Bewegung ein Hauch seines Eau de Toilette von Floris London aus, das Vanuzzi kräftig in der Nase kitzelte.



Vanuzzi ging einige Schritte in Montys Rücken an der Bank vorbei, streckte sich und blickte in den Himmel. Mit Ausnahme des Großen Wagens konnte er keine Sterne entdecken. Dann hörte er das Umblättern von Zeitungsseiten, schlenderte zurück und setzte sich Rücken an Rücken mit seinem Case Officer.



»Ich weiß wirklich nicht, was Sie gegen Restaurants haben, Monty.«



»Dies ist kein offizieller Fall, schon gar keiner von uns. Es ist besser, wenn meine Kollegen nichts mitbekommen, sonst tratschen sie bloß.«



Wieder raschelte es, wahrscheinlich faltete der Brite seine Gazette.



»Man sieht kaum die Hand vor Augen, das mit der Zeitung ist albern.«



»Ich komme immer um diese Zeit hierher und tue so, als würde ich lesen. Dann muss ich nicht mit den Leuten reden. Sobald die einen englischen Akzent hören, fangen sie an, sich zu rechtfertigen, was sie im Krieg getan oder nicht getan haben. Aber niemand quatscht einen Irren an, der im Dunkeln Zeitung liest.«



»Keeping a low profile geht trotzdem anders.«



»Ich wäge ab zwischen meinem Seelenfrieden und der richtigen Haltung zu meinem Job. Ich bin jetzt in einem Alter, in dem mir mein Seelenfriede wichtiger wird. Warten Sie zehn Jahre, Dan, dann geht’s Ihnen auch so.«



Vanuzzi schnaubte amüsiert. Monty tat immer noch so, als ob er der wesentlich Ältere und Lebenserfahrenere wäre, dabei trennten sie kaum drei Jahre.



»Ein Franzose, eins fünfundsiebzig, hellbraune Locken –«



»Sélestat. Ich habe ihm gesagt, wie er Sie erreichen kann.«



»Vermutlich Résistancekämpfer, die haben als Nom de guerre oft die Stadt genommen, aus der sie stammen. Wo auch immer dieses Sélestat liegt.«



»Im Elsass.«



Das erklärte allerdings das schleppende, kehlige Deutsch des Mannes.



»Wie heißt er wirklich?«



»Thierry. Den Nachnamen weiß ich nicht.«



»Monty …?«



»Ich habe ihn vergessen. Vielleicht habe ich ihn auch nie gewusst. Er war immer Sélestat. Arbeitet für den französischen Auslandsgeheimdienst.«



»SDECE? Im Krieg haben sich eure Dienste gegenseitig beharkt. Ich wusste gar nicht, dass Briten und Franzosen seit Neuestem Liebesheiraten eingehen.«



»Das tun sie auch nicht. Franzmänner sind paranoid, sie glauben, dass die Queen ihnen höchstpersönlich die Kolonien wegnehmen möchte. Sie vergessen, dass auch wir kaum mehr Land in Afrika besitzen. Was für eine Schande!«



»Ja, früher war einfach alles besser. Zurück zu Sélestat –«



»Ich möchte es Goodwill nennen, Dan. Seht her, ihr Franzosen, wir helfen euch, die Kolonien zu behalten, und schicken euch sogar unsere Leute dafür.«



»Wie haben Sie sich kennengelernt?«



»1940, in Dünkirchen. Die Nazis hatten uns eingekesselt, wir wären alle verreckt oder in Kriegsgefangenschaft gekommen – und dann auch verreckt, nur bedeutend langsamer. Ich ganz sicher. Ich hatte einen Granatsplitter im Bein, es drohte, brandig zu we