Loe raamatut: «Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden»
Martina Leibovici-Mühlberger:
Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden
Alle Rechte vorbehalten
© 2016 edition a, Wien
Cover: JaeHee Lee
Gestaltung: Hidsch
Lektorat: Gudrun Likar
ISBN 978-3-99001-171-3
INHALT
Keine Einleitung, sondern es geht gleich los, denn die Zeit drängt
»Die checken einfach ihren Auftrag nicht!«
Bedauerliche Einzelfälle – oder steckt System dahinter?
Was heißt hier »fit for life«?
Willkommen in der schönen neuen bunten Welt
Wie sich unser Menschenbild verändert hat oder Wer wir heute sind
Kind ja oder nein?
Welches Bild wir uns von Kindheit gezimmert haben und vom Aufruhr in den Erziehungsgrundsätzen
Wohin die neuen Erziehungsparadigmen führen – ein Beispiel
Narzissten haben Hochkonjunktur in der neuen Erziehungskultur
Wie unser Gehirn darüber entscheidet, wer wir sind
Die Tatorte des Verbrechens – Wie Max und Anna begreifen lernen, dass die Welt ihrer Eltern scheiße ist
Peergroup – Ersatzfamilie mit Eigenheiten
Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden
Zwei Welten, die auseinanderdriften
Der Point of no Return ist längst überschritten
Manchmal habe ich einen Traum
Wir leben in der besten aller Welten
Ein Appell an die besonnenen Kräfte
Keine Einleitung, sondern es geht gleich los, denn die Zeit drängt
Wer sich hier einen Erziehungsratgeber der üblichen Sorte erwartet, klappe den Buchdeckel am besten gleich wieder zu. Wer sich auf einen Text einzustellen vermag, der seinen Kompass deutlich in die Richtung einer Publikumsbeschimpfung ausgerichtet hat, möge weiterlesen und später entscheiden, ob er dieses Traktat allzu heftig, einfach übertrieben oder ungebührlich findet. Wer es allerdings schafft, Sachverhalten ins ungeschminkte Auge zu blicken, es versteht, Puzzlesteine zu foresight Szenarios zusammenzusetzen, über ein kämpfendes Herz verfügt und eigenes Grauen in bleischweren Albträumen gewöhnt ist, wer also Schockierung aushält, der wird hier das finden, wozu ich mich bekenne: Herbe Kritik am bestehenden Gesellschaftssystem, also an jedem Einzelnen von uns. Und dieser ist meine Leserin und mein Leser!
Ausschlaggebend für diesen Text, der in den letzten Jahren im Zuge vieler Gespräche, Vortragserfahrungen, Beratungssituationen, Kontakte mit engagierten Journalisten, Eltern, Pädagogen, Ausbildungsteilnehmern und zufälliger Begebenheiten Gestalt angenommen hat, war ein langer, nachdenklicher Blick meiner jüngsten Tochter und ein simpler, messerscharfer Kommentar, den sie beim Abendessen abgab.
Ich kann mich nicht mehr drücken. Ich muss jetzt in Form dieses Textes laut werden. Auch wenn es unangenehm wird, mir scheele Blicke oder auch offene Feindschaft eintragen wird, muss ich das Risiko klarer Worte auf mich nehmen. Denn ich habe mir das, was man »Überblick« nennt, über lange Zeit hinweg in redlicher Beschäftigung mit dem Thema erarbeitet. Ich bin in den letzten fünfzehn Jahren viel in Österreich, aber auch in anderen deutsch oder englisch sprechenden Regionen Europas herumgekommen. Ich leite ein Institut, das sich derzeit in fünf unserer Landeshauptstädte darum bemüht, psychosoziale Beraterinnen und Berater mit dem Schwerpunkt Erziehungsberatung auszubilden. Ich teile mit dem Beratungsteam unserer Onlineberatung das Wissen darum, wie es in österreichischen, deutschen und eidgenössischen Kinderstuben so aussieht. Seit mehreren Jahren tausche ich mich mit Fachkolleginnen und -kollegen aller europäischen Staaten in der Working Group on the Quality of Childhood im EU-Parlament zum Thema Gesellschaftsentwicklung sowie zu Erziehung und zum gesellschaftlichen Verständnis von Kindheit aus. In zahlreichen unserer Sitzungen führt Besorgnis Regie und ist der dringende Wunsch zu vernehmen, bei allen Bürgerinnen und Bürgern ein Bewusstsein dafür zu wecken, wie sehr die Kindheit, in der so viele Weichen gestellt werden und in der man so verletzbar ist, heute unter dem Primat einer rücksichtslosen Steigerungsgesellschaft verwaltet wird, die ihr brutales Gesicht hinter einer verführerischen Karnevalsmaske verborgen hält.
Das alles bereitet mir seit Längerem heftiges Kopfzerbrechen, das weder durch Schönreden noch durch entschiedene Ignoranz zum Verschwinden zu bringen ist. Meinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern geht es übrigens genauso. Das macht es noch viel schwieriger, weiterhin zu schweigen. Immer öfter hängt in Falldiskussionen dieses »Wie weiter?« als ohnmächtiges Schweigen drohend in der Luft. Die Helfersysteme scheinen am Ende zu sein, können gekenterte Boote nur vor dem endgültigen Absaufen retten, aber nie wirklich segeltüchtig für die Lebensregatta machen. Die zukünftige Katastrophe nimmt in vielgestaltiger und vor allem systematischer Form bereits deutlich sichtbare Kontur in den verschiedenen Entwicklungsbiographien an.
Ich gebe in Diskussionsrunden gerne die Optimistin und in mir steigt heiliger Grimm hoch, wenn einer der Altvorderen – zu denen ich jahrgangsgemäß ja auch schon zähle – unsere Kinder und Jugendlichen wieder einmal als weniger oder gar nicht tauglich im Vergleich zu früheren Generationen abqualifiziert. Aber ich kann gewisse Daten und Sachverhalten nicht ignorieren und muss nach den zugrunde liegenden Ursachen fahnden.
Übergewichtig, ja am Rande der Fettleibigkeit, »chillbewusst« und im Gegenzug leistungsverweigernd, bereits am Beginn der Pubertät gefährdet, später einmal an ernsthaften, chronischen systemischen Erkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall oder Diabetes mellitus zu leiden, in großem Umfang suchtgefährdet und psychisch so krank, dass die psychotherapeutischen Kassenplätze für Kinder und Jugendliche gerade erst verdoppelt werden mussten – so treten uns immer mehr Kinder und Jugendliche als Repräsentanten der von der Politik proklamierten und herzhaft geforderten leistungsstarken Zukunftsgesellschaft gegenüber.
Prost Mahlzeit, und das bei der ganzen Mühe, die wir uns geben! Denn so viel Ratgeberliteratur zum Thema Erziehung hat noch keine Gesellschaft vor uns produziert. So gut ist es noch keiner Kindergeneration vor dieser heutigen gegangen. Zumindest wenn man sich die mit allerlei pädagogisch hochwertigem und entsprechend teurem Spielzeug und Konsolen gut bestückten Kinderzimmer anschaut.
Trotzdem ist der Wurm drin! Er sitzt ganz tief, im innersten Kerngehäuse und frisst sich satt an den Seelen unserer Kinder, noch ehe diese die Chance gehabt haben, sich zu entwickeln und genügend Widerstandskraft zu sammeln. Meine jüngste Tochter hat diesen »Wurm« für mich benannt. Präzise und hart, mit jener unverfrorenen Einfachheit, zu der nur große Geister oder Kinder fähig sind.
Das trug sich folgendermaßen zu: Es war ein ganz normaler psychotherapeutischer Praxistag. Die neunjährige Elena war in Begleitung ihrer Mutter zu einem Ersttermin angemeldet. Sie zeigte in der Schule verschiedene Verhaltensauffälligkeiten, die den geregelten Unterricht dermaßen störten, dass die Lehrerin sich außerstande sah, Elena weiter zu unterrichten.
Elena sei hochbegabt und ziemlich unterfordert, hatte mich ihre Mutter gleich beim telefonischen Erstkontakt richtig eingeordnet. Das stimmte, was die akademischen Leistungsmaßstäbe für Neunjährige anlangte, auch wirklich. Doch akademische Leistung allein, im Fall von Elena noch verstärkt durch ein breites Förderungsprogramm für dieses heiß ersehnte Kind eines älteren Akademikerpaars, vermag für sich allein nicht einen ganzen Sommer einer glücklichen, sozial integrierten Kindheit zu begründen.
Ein elfenhaftes, langgliedriges Kind mit milchweißem Teint presste sich eng an seine Mutter, als sie den Vorraum zu meiner Praxis betrat. »Sie grüßt Fremde nicht gerne«, erklärte mir diese sogleich, als meine ausgestreckte Hand ohne Erwiderung in der Luft hängen blieb. Mit Hilfe des Au-pair-Mädchens, das auch mitgekommen war, wurde die stocksteife Elena aus ihrer Jacke geschält und schmiegte sich sogleich wieder an ihre Mutter. Alles klar. Elena war also schüchtern. Damit sollte sich umgehen lassen. Sie war nicht das erste Kind mit einer für ihr Alter überzogenen Scheu in meiner Praxis.
Ich ging also voraus und öffnete einladend die Tür zu meiner Praxis. Vielleicht hätte mich das hastige Atmen einer plötzlich heftig hyperventilierenden Elena warnen sollen. Denn das gerade noch so ängstliche Kind raste an mir vorbei, sprang auf mein rotes breites Sofa und hüpfte dort wie eine Besessene auf und ab, während sie ein Stakkato schriller Schreie und Heultöne ausstieß, die immer wieder in »Nein – nein – nein« mündeten. Damit war schon schwieriger umzugehen!
Mir bot sich ein Bild, das an längst vergangene Psychiatriezeiten gemahnte. Genau in diesem Moment des Tumults öffnete sich ohne Vorwarnung der Hausglocke die Eingangstür und meine jüngste Tochter kam in Begleitung ihrer älteren Schwester von der Schule, um im hinteren Trakt meiner Praxis den Nachmittag zu verbringen und auf mich zu warten. Sie grüßte kurz die vollkommen hilflos beim Eingang stehende Mutter und das Au-pair-Mädchen und ging dann scheinbar ungerührt zum Sofa. Vor der tobenden Elena, die sie überhaupt nicht beachtete, blieb sie stehen. Normalerweise grüßte meine Tochter meine Patienten, interessierte sich ansonsten aber nicht weiter für sie. Doch diesmal musterte sie die knapp ein Jahr ältere Elena, als wäre diese ein Fabelwesen oder ein Kobold aus einer fernen magischen, ungezähmten Welt.
»Du ruinierst das Sofa«, sagte sie dann kurz und mit forscher Stimme, während sie versuchte, Elenas Blick einzufangen. Als das nicht gelang und Elena einfach weitertobte, wandte sie sich mit einem hörbaren Seufzen ab und verschwand gemeinsam mit meiner älteren Tochter im Privatbereich meiner Praxis.
Es dauerte noch eine Weile, bis es uns gelang, Elena mit vereinten Kräften, viel Betteln und dem Versprechen, dass sie nicht in mein Behandlungszimmer musste, zu beruhigen. Das Ganze endete mit einer tränenüberströmten Mutter, die mir ein Referat über Elenas wohlbehütete Kleinkindzeit und ihren unerklärlichen, zunehmenden Aggressionsausbrüchen hielt.
Auch wenn es ein weiter Weg werden würde, so war die Diagnose bereits klar. Elenas Eltern verstanden es schon seit sehr langer Zeit nicht, zwischen Bedürfnissen und Wünschen ihres Kindes zu unterscheiden. Dadurch war Elena in ihrer eigenen Verwirrung von beständig aufsteigenden Impulsen zu jemandem geworden, der rastlos nach Grenzen suchte. Dieses Kind schrie ganz verzweifelt nach Orientierung. Schließlich einigten wir uns darauf, dass Elena eben eine Anlaufzeit brauchte und dieser Termin eine lebensechte Demonstration der Problematik gewesen war.
Noch Stunden später trug ich eine tiefe Nachdenklichkeit, die dieses offensichtlich leidende und gleichzeitig so unbeherrschbare, gar nicht altersgemäß reagierende Kind in mir ausgelöst hatte, mit mir herum. Auch meine jüngste Tochter schien an diesem Abend in Gedanken versunken. Unser gemeinsames Abendessen verlief ungewöhnlich ruhig.
»Wir haben auch solche Kinder«, meinte sie schließlich.
Es war mir klar, dass sie damit Bezug auf ihre Schulklasse nahm.
»Lucca springt auch manchmal wie ein Irrer auf unserem Sofa rum, einfach so, wenn ihm etwas nicht passt. Sonja wirft ihre Snackbox auf den Boden, wenn ihre Mutter ihr nicht das Richtige mitgibt. Und Daniel hat voriges Jahr einfach so immer wieder jemanden gebissen, wenn er sich geärgert hat«, ergänzte sie ihre Schilderung und rief mir jene Zeit in Erinnerung, in der die Klassenelternschaft Tendenzen einer Zusammenrottung gezeigt hatte, um ihre Kinder vor dem tollwütigen Daniel zu schützen.
»Hm«, machte ich fragend. Ich hatte den Eindruck, dass sie noch etwas zum Phänomen »Verhaltensoriginelle Kinder« sagen wollte. »Und was denkst du dir dabei?«, fragte ich sie schließlich direkt.
»Die gehen einem schon ziemlich auf den Geist, obwohl sie irgendwie nicht anders können«, versuchte sie das Dilemma zu beschreiben. »Aber mein Klassenlehrer ist da echt super. Der ist total cool und hat alles im Griff.«
Jetzt war meine Neugier tatsächlich geweckt. Dass Pädagogen neuerdings auch therapeutische Funktion hatten, war in informierten Kreisen ja bereits ein intensiv diskutierter Sachverhalt.
Ich versuchte, aus meiner Tochter den methodischen Ansatz zu destillieren. »Was macht er denn?«, fragte ich.
»Wenn sich einer aufführt, dann geht er einfach zu ihm hin, schaut ihm direkt in die Augen und sagt, dass jetzt Schluss damit ist, weil wir hier eine Gemeinschaft sind und nicht gestört werden wollen«, sagte sie.
Die ruhige, beständige Autorität ihres Lehrers, die auch ich an ihm so schätzte, war in ihrer Stimme als vertrauensvolle Selbstverständlichkeit, dass seine Führung in solchen Fällen undiskutierbar war, deutlich zu spüren. Damit wandte sie sich wieder ihrem Essen zu und das Thema schien erledigt.
Doch plötzlich sah sie mir sehr direkt ins Gesicht. In ihren Augen erkannte ich diesen »Jetzt will ich es wissen, jetzt musst du mir Rede und Antwort stehen«-Blick!
»Was machst du eigentlich mit diesen Kindern, wenn du Psychotherapie mit ihnen machst, Mama?«, fragte sie und ich fühlte mich auf den Prüfstand gestellt, ob das, was ich denn da so in meiner Praxis Tag für Tag trieb, denn etwas taugte.
»Ich therapiere diese Kinder und ihre Eltern eben.« Eine hochgezogene Augenbraue machte mir sogleich klar, dass sie das kaum als befriedigende Antwort akzeptieren würde. »Ich bemühe mich, herauszufinden, warum die Kinder so geworden sind und wie sich das auf ihr Verhalten auswirkt«, fuhr ich deshalb fort.
Doch ihrem Blick nach zu urteilen, war es mir auch damit keineswegs gelungen, ihre Zweifel an der Sinnhaftigkeit meines Tuns auszuräumen. Ich fühlte mich wie damals, als ich vor der ganzen Klasse Tonleitern hatte vorsingen sollen und das nie geschafft hatte.
»Also, ich versuche herauszufinden, warum das Ganze so geworden ist, wie es eben ist …«, setzte ich erneut zu einer Erklärung an. Irgendwie hatte ich das Gefühl, einfach nicht auf den Punkt zu kommen. Verdammt, wie erklärt man einer Achtjährigen, was Psychotherapie ist?
»Eigentlich will ich nur, dass es den Kindern besser geht, denn du hast ja selbst vorher gesagt, dass diese Kinder irgendwie nicht anders können. Manche sind ja auch nicht laut oder beißen und schlagen andere, sondern sind sehr zurückgezogen, ängstlich, haben ständig schlechte Träume, machen ins Bett oder in die Hose, obwohl sie schon viel zu alt dafür sind oder können sich gar nicht über ihr Leben freuen. Ich will, dass sie in ihrem Kindergarten oder ihrer Schule besser zurechtkommen, Freunde finden, ihre Fähigkeiten und Talente entwickeln und sich freuen können. Und dass die Kinder und ihre Eltern einfach gut miteinander auskommen. Sie sollen spüren, dass sie einander wirklich lieb haben, damit die Kinder sich geborgen fühlen .«
So, jetzt war ich endlich zufrieden. Ich legte Messer und Gabel auf meinen leeren Teller und gratulierte mir innerlich. Doch der gedankenschwere Blick war trotz meiner brillanten, pädagogisch wohlgeformten Erklärung nicht aus dem Gesicht meiner Tochter gewichen.
Sie schien sehr ernsthaft über meine Worte nachzudenken, um schließlich zu meinen: »Wenn du das wirklich willst, Mama, dass die Kinder Freunde haben und Spaß bei dem, was sie tun und dass sie sich aufgehoben und von ihren Eltern lieb gehabt fühlen, dann musst du den Eltern doch nur sagen, dass sie sich um ihre Kinder einfach richtig kümmern sollen. Die Kinder sind ja nicht krank, die spinnen doch nur! Die Eltern müssen ihre Kinder doch einfach nur erziehen!« Sie sah mich an und ihr Blick verriet, dass sie gerade ihrer vollsten Überzeugung Ausdruck verliehen hatte.
Wir schwiegen beide, doch dann machte sie nach einer kurzen Pause noch eine Bemerkung, die mich in ihrer Einfachheit und Direktheit so traf, als würde der Lichtkegel eines Scheinwerfers gerade in jenem Moment auf mich gerichtet werden, in dem ich in finsterer Nacht unerlaubt über eine Mauer zu klettern versuchte: »Oder können die Eltern das nicht?«
Oder können die Eltern das nicht? Verstehen es Eltern also nicht mehr, Eltern zu sein? Können Eltern, die ihre Elternschaft so ausüben, wie die heutige Gesellschaft es fordert und wie es ungeschriebenerweise heute »Mode« ist, in der Beziehung zu ihren Kindern nicht mehr die nötige Kraft entwickeln, ihnen Sicherheit, Klarheit und eine ihrem Alter entsprechende Führung zu geben? Damit sie in dem geschützten Raum, der dabei entsteht, nach und nach heranreifen können? Ist das »gängige Handbuch« elterlichen Verhaltens, der Code, wie Elternschaft im 21. Jahrhundert anzulegen ist und welche Rechte, Verantwortlichkeiten und Pflichten das bedeutet, der Entwicklung unserer Kinder vielleicht nicht mehr förderlich? Denn was sonst signalisieren die vielen Baustellen kindlicher Entwicklungsprobleme – von Verhaltensoriginalität über Hyperaktivität, Autoaggressivität, Selbstregulationsstörungen bis hin zu kindlicher Anorexie und Fettleibigkeit?
Genau das hatte meine Tochter mit ihrer schlichten, naiven Frage gemeint: Läuft hier etwas schief? Wisst ihr Erwachsenen eigentlich nicht mehr, was wir Kinder brauchen? Eine infam anmutende Grundhinterfragung, denn dass wir alle »geborene Eltern« sind, scheint ja doch eine unantastbare Grundvariable zu sein.
Aber eigentlich brauchte es mich gar nicht zu verwundern, dass der berühmte Kindermund die Wahrheit kundgetan hatte: »Deutet nicht mit dem Finger auf die lauten Kinder, sondern schaut euch selbst an.« Schließlich war es ja auch im Märchen ein Kind gewesen, das es als Einziges gewagt hatte, die Nacktheit des Kaisers anzusprechen, während der gesamte Hofstaat das Werk des tückischen Hofschneiders bewunderte.
Der Satz meiner Tochter ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Und wie es nun einmal so ist mit Dingen, die knapp unter der Oberfläche des Alltagsbewusstseins darauf lauern, wieder ans Tageslicht geholt zu werden, sollte er mir in näherer Zukunft immer öfter einfallen. Er entpuppte sich als der fehlende Puzzlestein, der das ganze Bild erklärte.
»Die checken einfach ihren Auftrag nicht!«
Das war, wieder einmal, mein innerlicher Kommentar, als ich knapp eine Woche später die Eltern von Phillip in mein Behandlungszimmer bat. Wie so oft erwartete mich eine jener Situationen einer familiären Misere, die sich in dem zugegeben markigen Kondensat so treffend widergespiegelt fand.
Auf den ersten Blick sind sie ein Erfolgsduo Ende vierzig, Phillips Altvordere, und sie bemühen sich auch sehr, genau diesen Eindruck zu vermitteln. Als müssten sie sich gerade bei einem Hearing von sich selbst überzeugen. Der Anlass, der sie zu mir geführt hat, hat ihren Lebenskosmos so schwer erschüttert, dass sie nicht länger an die Unversehrtheit ihres eigenen strahlenden Lebensmodells glauben können. Dabei mutet alles wie eine Hollywood-Story in alpenländischem Format an.
Beate ist Nobeldermatologin mit Nebenschwerpunkt Anti-Aging und versorgt in ihrer Innenstadtpraxis nur die beste Klientel. Das gute Dutzend an Wiener Zinshäusern, das ihr ewig unberechenbarer, cholerischer Vater, der sie und ihre Mutter immer abgewertet hat, ihr letztendlich doch vererbt hat, schafft einen behaglichen wirtschaftlichen Hintergrund.
Robert, ihr Mann, wirkt mit seiner Selfmademan-Haltung und seinem forschen Auftreten wie die ideale Ergänzung. Er hat sich karrieremäßig dem Entrepreneurship verschrieben. Er erklärt mir, die beste Entscheidung seines Lebens sei gewesen, sein Betriebswirtschaftsstudium zu »versemmeln« und stattdessen ein Großhandelsunternehmen für Badezimmerarmaturen aufzuziehen. Mit seinem Gespür für die richtige Gelegenheit, Einsatz und dem angeborenen Verkäuferinstinkt gelang es ihm, Großkunden im Hotel- und Spitalsbau an Land zu ziehen und in der Branche ganz oben mitzumischen. Er macht auch gleich klar, dass er Akademiker für beschränkt, reich an Buchwissen, aber realitätsfern und in der freien Wirtschaft für wenig überlebenstauglich hält.
Selbstwert ist für den guten Mann also offenbar ein großes Thema. Beate muss sich permanent rechtfertigen und Robert spielt den Bewerter. In dieser Ehe gibt es also gewisse Grundturbulenzen, doch die Bedrohlichkeit der gegenwärtigen Situation vereint die beiden. Bis auf gelegentliche wechselseitige Seitenhiebe wird Harmonie demonstriert. Am Ende der Sitzung ist klar, dass beide zwar den Ernst der Lage und die möglichen Konsequenzen erkennen. Doch keiner von beiden hat genügend positive Veränderungskompetenz aufzuweisen, um das eigentliche Grundproblem anzupacken. Denn Beate hat es längst aufgegeben, ihrem Sohn als weisungsgebende Mutter entgegenzutreten. Sie bemüht sich in erster Linie um einen minimalen Frieden, indem sie ihm seine Wünsche erfüllt und möglichst konsequent über seine Präpotenz hinwegsieht.
Roberts erzieherische Inkonsequenz ist noch drastischer. Er erklärt mir: »Eigentlich müsste man das Ganze ja aus einem viel breiteren Blickwinkel betrachten. Natürlich war das nicht in Ordnung, was er getan hat, aber es war ja eine ganze Menge Alkohol im Spiel. Im Prinzip ist er ja sehr couragiert für sein Alter, hat sich überhaupt nicht in die Hosen geschissen. Peng, zack, einfach sein Ding durchgezogen.« Er unterstreicht seine Worte damit, dass er mit der Handkante die Luft zwischen seinem und meinem Sessel durchschneidet.
Phillip hat seinem Vater mit seiner Aktion, die immerhin ein Verfahren für mehrere strafrechtliche Delikte nach sich zu ziehen droht, also imponiert. Ich frage mich, ob Robert sich eigentlich darüber im Klaren ist, was es für seinen Sohn bedeutet, wenn er als Vater die laut Strafgesetzbuch eindeutig kriminellen Handlungen seines Sohnes bagatellisiert und sein fragwürdiges Draufgängertum sogar bewundert. Bevor ich das jedoch thematisieren kann, krönt er seinen Gedankengang mit einer abschließenden Bemerkung, die mich daran zweifeln lässt, ob dieser Mann überhaupt selbst erwachsen und erziehungsfähig ist: »Eigentlich war das Ganze ja eine Art Mutprobe und dafür muss ein Richter, der halbwegs Grips im Kopf hat, Verständnis haben. Es gibt ja keine Rituale für junge Männer mehr, in denen sie sich beweisen können. Die Guten müssen sich dann eben selbst Herausforderungen schaffen und die Weicheier bleiben auf dem Sofa sitzen.«
Es würde also eindeutig ein weiter Weg werden, wenn wir für Phillip etwas zum Positiven verändern wollten.
Das Gleiche denke ich mir rund eine Woche später, als Phillip persönlich in meinem Behandlungszimmer Platz nimmt. Der »diagnostische Kommentar« meiner Tochter zum psychosozialen Status all dieser Kinder und Jugendlichen kommt mir wieder in den Sinn: »Mama, die sind ja nicht krank, die spinnen doch nur!«
Genau dieses »Der spinnt doch einfach« schießt in mir während dieser ersten Sitzung mit Phillip immer wieder auf. Er wird in ein paar Wochen siebzehn werden, ist also schon gut in der Kohorte der Jugendlichen installiert und im Outlook, auf den es heute bekanntlich vor allem ankommt, ein formidabler Bursche. Dünner, lässiger Kaschmirpullover einer edlen Marke, Jeans, die so kunstvoll zerfetzt sind, dass sie sicher ein Vermögen gekostet haben, und sockenlose Pubertätsfüße, die ein wenig seinem Körperwachstum vorausgeeilt zu sein scheinen – so präsentiert er sich mir, als ich ihm die Tür zu meiner Praxis öffne. Seine extrakorporale Identitätsquelle in Gestalt des neuesten Handymodells in der Hand, schreitet er aufrecht und mit federndem Gang in meinen Behandlungsraum.
Wie so manche seiner Altersgruppe ist er nicht freiwillig hier, sondern auf den guten und auch teuren Rat des Anwalts seiner betuchten Familie hin. Denn mit Einsicht und Bereitschaft zur Selbstreflexion ließe sich die Härte des Gesetzes ja vielleicht noch abfedern. Er lässt mich seinen Widerwillen spüren und deutlich durchblicken, dass der Anlass für unseren Termin eigentlich nicht der Rede wert ist. Damit will er auch gleich seinen Rahmen abstecken, dass es, wenn es nach ihm ginge, nicht viele solcher Rendezvous geben würde.
Ich bin anderer Meinung, doch ich muss ihm in dieser sensiblen ersten Phase Leine geben und höre einfach zu. Seiner Meinung nach handelte es sich um einen Spaß, einen Scherz, der bloß aufgebauscht worden sei. Mittlerweile sei das Ganze geradezu ein Witz, wenn auch ein schlechter, geworden.
Ich gebe mich weiter abwartend, mit einem Lächeln, das ihn zum Erzählen ermuntern soll, aber nicht meine Augen erreicht. Das gestriegelte Bürschchen im Fauteuil mir gegenüber ist ein Taktiker. Er will ganz offen mit mir konspirieren, um einer Gerichtsbarkeit, die er nicht respektiert, die lange Nase zu drehen. Das sagt er auch gleich ganz deutlich.
Am liebsten wäre ihm, ich würde ihm jetzt sofort eine Bestätigung über 20 absolvierte Sitzungen ausstellen und seine hohe reflexive Potenz und die daraus folgende Einsichtsbildung attestieren. Danach würden wir auf ein Bier gehen und uns köstlich darüber amüsieren.
Ich trinke leider kein Bier und auch mein Humor folgt einem anderen Kompass. Meine sanfte, aber bohrend unausweichliche Nachfrage ist jetzt unvermeidlich. Was den Tathergang anlangt, hat er eine Art inneren Hollywood-Streifen à la »Stirb langsam 3« mit sich selbst in der Hauptrolle gespeichert. Dazu passt auch, dass er nicht das geringste Unrechtsbewusstsein hat. Er bringt sich in meinem Fauteuil in die passende, also lässig hingegossene, Position. Es war maximal ein Lausbubenstreich, also nicht der Rede wert. In Wirklichkeit ziemlich cool, mega-cool sogar, wenn man es genau nimmt und er sich an die ganze Action und das Gefühl dabei erinnert.
»Es war an einem Samstag, spät abends, eigentlich war es schon so gegen halb zwei Uhr«, beginnt er, als ich ihn auffordere, mir die ganze Sache nochmals zu schildern. Eigentlich war es ein ganz chilliger Abend gewesen. Jo-Jo, sein bester Freund, und er hatten ziemlich viel Bier getrunken und sich die Zeit mit Computerspielen, Warcraft und so, vertrieben. Sie waren allein im Haus seiner Eltern, die in ihr Wochenendhaus gefahren waren. »Uns ist dann das Bier ausgegangen«, eröffnet er mir in einem Ton, als würde das das Folgende bereits völlig selbstredend erklären.
Sie beschlossen also, zu einer Nachttankstelle auszureiten, um sich mit weiterem Bier einzudecken. Der Range Rover seiner Mutter schien in der elterlichen Garage nur darauf zu warten. Der zu diesem Zeitpunkt bereits recht hohe Alkoholisierungsgrad ließ nicht nur das geplante Unternehmen plausibel erscheinen. Er war auch dafür verantwortlich, dass die Fahrt in einer engen, beidseitig zugeparkten Seitengasse des 13. Wiener Gemeindebezirks mit einem großflächigen Schaden an gut einem Dutzend Fahrzeugen endete, als Phillip mit dem Wagen seiner Mutter die anderen Autos abrasierte. Durch kluges Gegensteuern war es ihm sogar gelungen, dabei auf beiden Seiten kein einziges Fahrzeug auszulassen. Doch damit nicht genug. Nach dem Eintreffen der Polizei kam es zu turbulenten Szenen, als Phillip sich mit einem von einem Fahrzeug kurzerhand abgebrochenen Scheibenwischer der Festnahme durch mehrere Beamte widersetzte. »Den Bullen habe ich es gezeigt«, sagt er zu mir, noch immer von sich selbst überzeugt und ohne jeden Ansatz von Reue.
Es ist zum Haare raufen! Da sitzt dieses Milchbubi vor mir, das in seinem ganzen Leben laut Aussage seiner Eltern keine größeren Härten als einen Zahnarztbesuch hat erleben müssen, trägt Kleidung, die ein durchschnittliches Monatsgehalt eines Normalverdieners kostet, gehört zur sogenannten Zukunftselite und hat nur ein Achselzucken dafür übrig, dass er neben einer ganzen Reihe von Delikten auch noch mindestens zwei Polizisten schwer verletzt hat. Das ist dem Polizeibericht leider unmissverständlich zu entnehmen.
Eigentlich ist Phillip streng genommen als soziopathisch einzustufen. Doch gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass hier vor mir ein großer Dreijähriger sitzt, der schlicht und einfach noch nicht imstande ist, die Tragweite seines Handelns zu begreifen, sondern in seiner Unbedarftheit immer noch meint, das Ganze würde als Scherz durchgehen.
Dass sich hinter Phillips vorgeschobener Coolness ein tief verunsicherter, sehr verwirrter junger Mensch verbirgt, der bereits seit Langem vergeblich nach Führung sucht, die ihm Handlungsanleitung und Orientierung gibt, wird sich in seiner ganzen dahinter liegenden Verzweiflung erst in den nächsten Sitzungen eröffnen. Im Moment denke ich mir bloß: »Der spinnt doch einfach.«