Loe raamatut: «Glauben - Wie geht das?», lehekülg 4
10. Das Absolute als Person
So kommen wir zurück zu der oben zurückgestellten Frage, ob es möglich ist, dass der letzte Grund von allem und das Absolute, das in allem gegenwärtig „da“ ist, sich auch ausdrücklich, explizit und „persönlich“ in dieser Welt zeigen kann. Und da muss man sagen: Genau davon geht das Volk Israel aus, dass der letzte Grund von allem, das ewige Schweigen, das Absolute und das Unerklärliche sich selbst in dieser Welt gezeigt hat. Das ist die eigentliche Revolution in der Religionsgeschichte. Es sind nicht mehr die vielen Götter, die die Menschen sich entworfen haben (selbst wenn ihre Vorstellungen schon von einem göttlichen Geist getrieben waren), es sind auch nicht mehr die „falschen Gottesbilder“, die der Mensch sich gemacht hat, sondern es ist der eine Gott Jahwe selbst, der aus seiner dunklen Verborgenheit ans Licht tritt. Er allein hat die Macht, sich selbst zu zeigen und damit alle anderen Vorstellungen von Gott, die der Mensch sich macht, zu übertreffen. Er übertrifft alle Vorstellungen des Menschen von ihm und verkehrt sie zum Teil sogar ins Gegenteil.
Dieser letzte Grund spricht und handelt. Er bewirkt etwas. Insofern hat er Züge, die dem Menschen bekannt sind. Was sprechen und handeln heißt, weiß der Mensch aus seiner eigenen Erfahrung. So ist dieser Gott „bekannt“ und unbekannt zugleich, er ist dem Menschen nah, indem er spricht und handelt, und er ist fern und unverständlich zugleich. Dieser Gott ist Geist und er bewirkt etwas: Er schafft die Welt und schafft Ordnung: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.“ (Gen 1, 1) Der Geist Gottes schwebte über den Wassern wie eine Henne über ihren Eiern brütet. So wurde aus dem Tohuwabohu (das griechische Wort dafür ist Chaos) eine geordnete Welt. Es wurde aus dem Nichts etwas ins Sein gesetzt (creatio ex nihilo), und aus dem Chaos Ordnung geschaffen.
Durch Gottes Wort, durch seinen Logos („Logos“ heißt Wort, aber auch Logik, Sinn, Urvernunft) wird etwas ins Sein gesetzt: „Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht.“ (Gen 1, 3)14 Dieser göttliche Geist ist also der Urheber und Urgrund des Seins, er ist Logik, Vernunft und Wort, er hat aber auch Emotionen. Er spricht und denkt, aber er zürnt auch (Gen 6, 6) und hat Gefallen an etwas. Damit ist er auch Urheber des menschlichen Geistes, genauer des Menschen als Ganzes mit seinem Denken und Fühlen. Er hat diese Welt hervorgebracht in dem, was Schöpfung genannt wird.
Der Gott Jahwe wird also gesehen als jemand, der spricht, der handelt, der etwas bewirkt und so der Urheber von allem ist. Er ist der Schöpfer, er versteht sich aus sich selbst heraus, er ist ohne Anfang und ohne Ende, aber er kann Anfang und Ende, Raum und Zeit setzen, und so hat die endliche Welt einen Beginn und wohl auch ein Ende. Ebenso hat das Leben des einzelnen Menschen einen Beginn und ein Ende. So ist die Auffassung von Raum und Zeit von einer gewissen Linearität geprägt (Anfang, Beginn und Ende), während asiatische Reinkarnationslehren eher eine zirkuläre Zeitauffassung vertreten.
Die jüdische Auffassung dessen, den die Juden Jahwe nennen, ist jene eines personalen Gegenübers, das sich aus sich selbst heraus versteht, das aus sich selbst heraustritt und den Menschen anspricht, so dass der Mensch umgekehrt auch ihn ansprechen kann. Der Mensch kann zu diesem Gott beten, er kann ihn anbeten, anrufen und verherrlichen, er kann ihm aber auch seine Not, sein Wehklagen und sein Hadern entgegenbringen. Die Psalmen im Alten Testament geben davon Zeugnis.
11. Der Gott des Alten Testamentes
Noch einmal kann man hier rückfragen, ob das nicht alles eine Projektion des Menschen ist. (Feuerbach) Ob das alles wirklich so war, kann doch niemand sagen. Niemand hat Gott je gesehen, heißt es im Alten Testament, also könnten doch die ganzen Geschichten auch Erfindungen des Menschen sein. Das Alte Testament ist ja von Menschen über viele Jahrhunderte aufgeschrieben worden. Es ist in vielen Psalmen und Geschichten die einfache Schilderung der Not des Menschen. Er schreit sie zum Himmel, er weint, er jammert, er klagt. Die einzige Frage lautet: Kommt dem Wehgeschrei des Menschen von Jahwe her Hilfe zu?
Und darauf gibt das Alte Testament eine klare Antwort: Ja, Gott hat unser Schreien erhört. Er hat nicht alles Leid von uns genommen, aber er hat geantwortet und er hat uns von unseren Fesseln befreit, speziell von den Fesseln der Gefangenschaft in Ägypten. (Ex 3, 7)15 Und diese Befreiungstat ist für das Volk Israel nicht anders zu erklären als mit einem Eingreifen Gottes in die Geschichte. Diese Erfahrung des Handelns Gottes ist so überwältigend, dass das ganze Volk davon berichtet. Das ist bis heute das große Fest in Israel: das Pessahfest, die Befreiung des Volkes Israel aus der Knechtschaft Ägyptens. (Ex 20, 2) Diese ist nur zu erklären mit dem Handeln Gottes, der dem Volk signalisiert: Ich bin da, (Ex 3, 14) es gibt mich, ich handle an dir und ich bin der einzige Gott, der diese Macht hat, dir zu helfen. Diese Macht haben die vielen anderen Götter nicht. Das ist die Kurzbotschaft Gottes an den Menschen.
Diese Erfahrung des befreienden Handeln Gottes muss für das Volk Israel so überwältigend gewesen sein, dass es daraus alle seine anderen Zugänge zu Gott ableitet. Aus dieser Erfahrung heraus wird das Alte Testament über mehrere hundert Jahre hinweg verfasst. Es sind die Hinterlassenschaften der Erfahrungen eines Volkes, das seine Erfahrung von der Befreiung nicht anders interpretieren kann als mit dem gewaltigen Handeln Jahwes.16 Er ist in unsichtbarer Ferne, sein Name darf nicht genannt werden und man soll sich von ihm kein Bild machen. Er ist der Unaussprechliche, Unsichtbare, Bildlose, aber er hat als Einziger diese gewaltige Macht, sein Volk gegen alle Widerstände zu befreien.
Er handelt an seinem Volk, schließt einen Bund mit ihm und führt es aus der Knechtschaft Ägyptens in die Freiheit hinaus. Er vermittelt seinem Volk, dass er dessen Knechtschaft nicht ertragen kann, dass er Mitleid mit ihm hat und es befreien will. Gleichzeitig schärft er diesem Volk ein, dass es diese Freiheit nur dann aufrechterhalten kann, wenn es an der Erhaltung dieser Freiheit mitarbeitet und sich an einige Regeln hält. Diese Regeln sind die Zehn Gebote. Sie dienen der Freiheit des Volkes und jedes einzelnen Menschen. Diese befreiende Tat Gottes führt zur Handlungsfreiheit des Menschen.17 Diese äußere Befreiung wird später im Christentum fortgesetzt hin zur inneren Befreiung jedes einzelnen Menschen von seiner inneren Knechtschaft.18
Es geht hier religionsgeschichtlich um den Umbruch vom gedachten und projizierten Gott hin zu jenem Gott, den es „wirklich“ gibt. Es ist der Umbruch geschehen vom gedachten, vorgestellten und in den Himmel hineinprojizierten Gott hin zum wahren Gott, der sich selbst zeigt, der da ist („Ich-bin-da“) und der in dieser Welt handelt. Das Volk Israel geht davon aus, dass es möglich ist, dass der letzte Grund allen Seins, also der Schöpfer des gesamten Universums, anfängt, sich selbst zu zeigen und den Menschen anzusprechen. Das Sein und das Absolute haben sich schon immer ausgedrückt in dem Seienden, in den Dingen und den Ereignissen der Welt. Das Neue aber ist, dass jetzt nicht mehr nur das Sein im Seienden „spricht“, sondern dass der Grund von allem, der Schöpfergott selbst, der allem Sein zugrunde liegt, anfängt zu sprechen und zu handeln. Er ruft das Volk und einzelne Menschen in einen besonderen Dienst (Abraham, Moses, die Propheten).
Jahwe tritt aus seinem Versteck heraus und erweist seine Macht gegenüber allen anderen Göttern und Völkern durch seine Befreiungstat. Besonders dieses machtvolle Handeln überzeugt das Volk, dass hier Gott selbst am Werk sein muss. Daher sprechen auch alle Befreiungsgeschichten (Auszug aus Ägypten, Durchzug durchs Rote Meer) von der gewaltigen Befreiungstat Gottes, die gewalttätig klingt: Die Ägypter werden total vernichtet. (Ex 14, 26–31) So ist zwar das Alte Testament von Menschen aufgeschrieben worden, aber ihre Erfahrung ist für sie nicht anders zu interpretieren als durch das machtvolle Handeln Gottes.
Es wurde schon erwähnt, dass im Hebräischen das Sprechen und Handeln sehr nahe beieinander liegen. Das hebräische Wort „dabar“ für „Wort“ und „Sprechen“ ist sehr viel wirklichkeitsnäher als das griechische Pendant, Logos. Logos ist eher abstrakt und wirklichkeitsfern während „dabar“ geradezu Wirklichkeit schafft, und daher heißt es im Buch Genesis: „Gott sprach, es werde Licht! Und es wurde Licht.“ (Gen 1, 3) Das Sprechen Gottes schafft Wirklichkeit. Die Erfahrung des Volkes Israel ist eben das Sprechen, Handeln und Wirken Gottes. Gott wirkt mit Macht, er ist wirklich. Und so ist es nur zu verständlich, dass Gott auch der „Bewirker“, der Schöpfer der Welt ist. Er erschafft die Welt aus dem Nichts durch sein Wort. Gottes Sprechen ist Handeln, und dies bewirkt eine Initialzündung, sodass die Welt sich dann von selbst weiterentwickeln kann.19
Gott spricht und das Ganze wird. Er gibt sein Vermögen an die Welt weiter, sodass die Welt aus sich selbst heraus werden und sich selbst übersteigen kann. Dieser Werdeprozess ist Ausdruck der großen Wirk-, Entwicklungs- und Entfaltungskraft des Göttlichen. Jahwe setzt etwas in Gang, was dann alles Weitere aus sich selbst heraus entlässt und von selbst weiterentwickeln kann. Das „von selbst“ ist fast ein göttliches Prinzip. Die Welt entwickelt sich von selbst evolutiv weiter, die Sonne scheint von selbst, die Embryonalentwicklung geht von selbst, das Herz schlägt von selbst und vieles mehr. Gott ist der Schöpfer dieses riesigen Kosmos, der sich nach wie vor ausdehnt und weiterentwickelt.
An diesem Wort, Sprechen und Handeln des Schöpfers, an seinem Logos hat die menschliche Vernunft Anteil. Logos ist nicht nur Wort, sondern auch Ur-Vernunft, Ur-Wort, Ur-Sinn. Dieser Logos liegt der Welt voraus, er liegt ihr zugrunde und findet sich in allem: in den Gesetzen der Natur, in der Logik der Vernunft, im Sprechen des Menschen, sogar in den Begriffen der verschiedenen Sprachen. Da dieser Logos dem Menschen und der Natur innewohnt, kann der Mensch die Logik der Sprache und des Denkens verstehen lernen, er kann die Logik der Welt mit ihren Naturgesetzen schrittweise begreifen, er kann Naturwissenschaft betreiben und so die Logik der Welt immer besser verstehen. Er kann den Logos aber nicht nur im Denken, in der Welt und ihren Gesetzen finden, sondern auch tief in seinem Inneren als das innere Wort (Gadamer) und den Seelengrund in sich, den er als die Stimme Gottes identifizieren kann. Der Mensch soll an diesem Logos, der in allem zu finden ist, sein Maß nehmen. Von ihm her soll er seinen eigenen Sinn finden.
Wenn der Schöpfergott mit seinem Logos die Welt erschafft und sie durch diesen Logos im Sein erhält, dann ist dieser Gott keiner, der ständig wie ein Baumeister an der Entwicklung von Tieren oder Pflanzen herumbastelt oder sich Naturgesetze ausdenkt und diese dann in der Welt umsetzt. Wenn Gott der Schöpfer ist, dann ist mit seinem Logos im Schöpfungsakt und in jedem Moment alles gegeben: die Möglichkeit zur Expansion des Kosmos, die Entstehung von Leben und menschlichem Geist, die evolutive Entwicklung der Welt, die Naturgesetze, schließlich alles, was diesen Kosmos ausmacht und im Innersten zusammenhält. Gott ist nicht jemand, der im Laufe der Zeit an der Welt herumkorrigiert.
Es heißt ausdrücklich „Im Anfang (Herv. v. Verf.) war der Logos und der Logos war bei Gott, und der Logos war Gott“ (Joh 1, 1) und nicht „Am Anfang“. „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, heißt es bei Herrmann Hesse, also ist der Logos in allem Anfanghaften und in allem Ursprünglichen und Anwesenden „da“ und gegenwärtig. Der Schöpfergott schafft alles aus diesem Logos heraus und hält alles im Sein. Er ist der Ursprung schlechthin, aus dem alles je neu ursprünglich aufspringt. Man spricht auch von der „creatio continua“, von der kontinuierlichen Schöpfung, die in der „creatio ex nihilo“, in der Schöpfung aus dem Nichts, schon grundgelegt ist.
Diese Schöpfung aus dem Nichts wird im Buch Genesis als ein Sechs-Tage-Werk geschildert. (Gen 1, 1–31) Man darf sich das wohl nicht so vorstellen, dass Gott die Welt in sechs Tagen aus Einzelteilen zusammensetzt, dass er jeden Stern einzeln und die Sonne und den Mond und jedes einzelne Tier erschafft. Aus dem Vielen wird durch Zusammensetzung keine Einheit, sondern umgekehrt: Die Vielheit entfaltet sich aus dem Einen. So ist wohl mit der Schöpfungsgeschichte eher ein kontinuierlicher Werdeprozess und Entfaltungsprozess gemeint. Insofern ist der Gedanke der Schöpfung durchaus mit dem Gedanken einer evolutiven Entwicklung der Welt zu vereinbaren.
Allerdings kann die naturwissenschaftliche Theorie, die diese evolutive Entwicklung verstehen helfen will – wie im Kapitel über Christentum und Naturwissenschaften näher ausgeführt wird –, zwei Übergänge kaum erklären: den Übergang vom Unbelebten zum Belebten und vom tierischen Bereich hin zum menschlichen Geist. Theologisch kann man es sich hier leicht machen und sagen: Wenn sich aus dem Unbelebten etwas Belebtes entwickelt und vom Belebten eine Entwicklung hin zum menschlichen Geist stattfindet, dann muss beides schon von Anfang an in der Schöpfung verborgen da gewesen sein, das sich dann evolutiv herausbildet. Es fragt sich nämlich, wo und wie das wirklich Neue entsteht, also die lebendige Pflanze aus unbelebter Materie und der menschliche Geist aus dem Tier. Rein innerweltlich stellt sich die Frage, ob sich das Leben aus der unbelebten Materie herausentwickeln kann und ob der menschliche Geist aus dem Tier entsteht? Das Phänomen der Evolution mit dem Entstehen von Neuem, des Belebten aus Unbelebtem und des Geistes aus Nicht-Geistigem wird mit dem Begriff der Emergenz belegt. Dazu mehr im Kapitel über Christentum und Naturwissenschaft.
Aristoteles verwendet für die Entfaltungsdynamik des Lebendigen den Begriff der Selbstbewegung. Er hat diese Vorstellungen in seiner Physik entwickelt (von „Physis“, „Natur“). Er sah, dass alles Lebendige in der Welt sich verändert und dass Veränderung ein Phänomen von Raum und Zeit ist. Auf der Suche nach dem letzten Grund schloss er, dass es hinter allem Veränderlichen einen letzten Grund geben müsse, der selbst nicht veränderlich ist. Dieser Grund ist jenseits von Raum und Zeit und somit der Veränderung nicht unterworfen. So kam er auf den unbewegten Beweger als den letzten Grund des Seins. Das klingt aus seiner Perspektive plausibel. Von einem Schöpfergott im hier beschriebenen Sinn wusste er wohl nichts.
Das Judentum geht mit der Konzeption des Schöpfers und der Schöpfung, die in der Lage ist zur aktiven Selbstentfaltung, Selbstbewegung und Selbsttranszendenz (Selbstüberstieg) des Lebendigen, wohl darüber hinaus. Das Göttliche ist von hier aus nicht der unbewegte Beweger, sondern – so könnte man sagen –, der aus sich selbst heraus seiende Schöpfer, der sich aus sich selbst heraus versteht und insofern selbst-verständlich ist, der das Leben anstößt und im Leben etwas anstößt, das dann „von selbst“ weiter werden kann.
So kann man die Gottesvorstellungen des Volkes Israel wie folgt zusammenfassen: Der Grund allen Seins, der die Dinge überhaupt erst zu dem macht, was sie sind, zeigt sich nicht nur in den Dingen, sondern er tritt explizit aus sich selbst heraus und beginnt zu sprechen. Das ist ein Paradigmenwechsel in der Weltgeschichte. War der Mensch bisher von sich aus auf der Suche nach dem letzten Grund und den innersten Zusammenhängen der Welt, beginnt nun dieser letzte Grund sich selbst als eine Person zu zeigen. Er kommt dem Menschen „von drüben“ entgegen. Er geht auf den Menschen zu. Sein Wirken wird aufgeschrieben im Alten Testament in menschlichen Worten. Und dieses machtvolle Wirken ist Indiz seiner Existenz und seines wirklichen und wirkenden Da-seins. Das „Ich-bin-Da“ ist eine Bezeugung seines eigenen Daseins. Aber dieses Dasein Gottes, nach dem die Menschen so lange gesucht haben, ist nicht so „da“ wie ein Ding, sondern eher in der Weise des Vorübergangs, des unerkannten und oft auch unbemerkten innerweltlichen und innerseelischen Wirkens, des indirekten Anwesend-Seins.
Die Schriften des Alten Testamentes entstanden über viele Jahrhunderte. Es sind Erfahrungen von Menschen mit einer anderen Dimension des Seins, mit Erfahrungen, die sie rein innerweltlich nicht erklären können und die sie ihrem Gott zuschreiben. Das Aufgeschriebene ist nicht mehr nur Wort des Menschen, sondern ein von der Erfahrung göttlichen Handelns inspiriertes Menschenwort. So stammen die Antworten auf die Fragen des Menschen nicht mehr nur aus seinen eigenen Überlegungen, sondern vom Schöpfergott selbst. Die unglaubliche Größe und unfassbare Dimension der Schöpfung20 und des Schöpfergottes kommen auf den Menschen zu. Es mussten womöglich erst einige Milliarden Jahre vergehen, bis der Mensch das aushalten konnte. Er selbst, der Mensch, kam vor ca. zweihunderttausend Jahren auf diese Welt. Erst vor 3500 Jahren war er so weit evolutiv herangereift, dass er dieses Sprechen und die beginnende Nähe Gottes aushalten konnte.
Noch im Alten Testament heißt es: „Wer Gott sieht, stirbt.“21 Moses (1250 v. Chr.) hat Gott nur schemenhaft gesehen. Er fragt Gott nach seinem Namen, und es wird ihm gesagt, er solle dem Volk sagen, dass der Name des unbekannten Absoluten ist: „Ich-bin-da.“ (Ex 3, 13–20) Dies ist eigentlich eine philosophische Antwort. „Ich-bin-da“ heißt einfach ausgedrückt: Es gibt mich. Ihr Menschen habt so lange nach mir gesucht, und nun zeige ich mich und offenbare der Welt, dass es mich gibt. Mit dieser Selbstoffenbarung tritt Gott erstmals in der Geschichte an die Öffentlichkeit und offenbart sich selbst als Da-sein.
Der Mensch beginnt seinerseits langsam, sich auf diesen personalen Gott einzulassen. Erst jetzt kann der Mensch offenbar diese „Direktheit“ Gottes ertragen. Der Mensch hat Gott gesucht, und Gott lässt sich finden, indem er seinen Namen preisgibt. Es findet ein dialogisches Geschehen statt: Der Mensch sucht und findet Gott, Gott gibt sich zu erkennen und der Mensch beginnt, sich auf diesen personalen Gott einzulassen. Der Gott führt sein Volk durch die Wüste in die Freiheit, aber das Volk versteht nicht genau, was Gott von ihm will, es murrt. Da entschließt sich Gott – wenn man das so menschlich sagen darf –, sich noch genauer der Welt zu zeigen: Er wird Mensch. Man kann es auch philosophischer ausdrücken: Das Göttliche verdichtet sich in dieser Welt und zeigt, was es ist: menschlich. Das Dasein wird zum So-sein. Und das heißt im Umkehrschluss: Das Menschliche muss vergöttlicht werden, damit es wirklich menschlich wird. Das allein Menschliche steht in der Gefahr, hinter dem Menschlichen zurückzubleiben.
Teil B
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Das Christentum
1. Das Neue Testament, ein erster Zugang
Im Christentum bekommt der absolute Gott eine konkretere menschliche Dimension. Der ferne Gott Jahwe, dessen Namen man nicht aussprechen und von dem man sich kein Bild machen darf, kommt nach christlicher Auffassung dem Menschen noch mehr entgegen: Sein wirkendes Wort wird Mensch. Diese Weise des Da-seins Gottes konkretisiert sich nun in der Weltgeschichte in seinem So-sein. In kleinen Schritten zeigt Gott immer mehr, wer er ist und wie er ist. Der Mensch gewordene Gott ist das Bild Gottes in dieser Welt. Der Christ darf sich jetzt ein Bild von Gott machen, Jesus Christus ist die Ikone Gottes.
So offenbart sich Gott in der Geschichte schrittweise und in kleinen Dosen. Die Wahrheit kommt prozesshaft ans Licht. Der Mensch kann sie offenbar nur in dieser Dosierung ertragen, sonst würde er von ihrer geballten Kraft erschlagen. Der Mensch kann die ganze Wucht Gottes nicht aushalten, sonst würde er auf der Stelle sterben. Der langsamen und schrittweisen Offenbarung Gottes entspricht das langsame Heranreifen des Menschen, der Gott entgegenreift. Das scheint in der Weltgeschichte so zu sein und auch in jeder einzelnen Biografie. Damit entstehen viele Fragen, die schrittweise beantwortet werden sollen.
Es ist, wie zwischen zwei Menschen, die sich kennenlernen. Mit jeder Begegnung lernt man einander besser kennen und verstehen. Es ist ein gegenseitiges Sich-Öffnen. So ist es auch in der Beziehung des Menschen zu Gott. In dem Maße sich der Mensch für Gott öffnet, kann sich auch Gott dem Menschen öffnen. Nach dem Satz von Augustinus: Die Wahrheit bricht sich Bahn. Dem, der sich ihr öffnet, eröffnet sie sich, dem, der sich ihr verschließt, verschließt sie sich. Dieses dialogische Geschehen scheint sich auch in der Geschichte ereignet zu haben: Der Mensch wird reif für die Öffnung auf die Nähe Gottes hin, und Gott entspricht dieser Öffnung durch seine Menschwerdung. So kommt er dem Menschen näher.
Gott zeigt also in der Geschichte nicht nur, dass es ihn gibt, sondern auch, wie es ihn gibt und was für Wesenszüge er hat. Das Dasein Gottes konkretisiert sich in dem So-sein des Mensch gewordenen Sohnes durch die Menschwerdung des göttlichen Wortes. Der Logos Gottes wird Mensch. Die Urlogik Gottes, der Logos Gottes lebt das Leben eines Menschen. Das ist die Auffassung des Christentums. Bisher war das Da-sein Gottes bekannt, aber doch eher aus der Ferne, distanziert, schemenhaft. Niemand kann Gott sehen und am Leben bleiben. „Du kannst mein Angesicht nicht sehen; denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben.“ (Ex 33, 20) Jetzt wird das Wort Gottes sichtbar in der Person Jesus Christi. Er wird der Sohn genannt und nennt seinerseits Jahwe seinen Vater. Durch diese Menschwerdung zeigt Gott sein Gesicht und Antlitz. Das So-sein Gottes zeigt sich als Liebe und Barmherzigkeit. Gott ist menschlich, Gott ist gut, er ist kein strafender Gott.
Dieses Geschehen kann man interpretieren als eine Verdichtung und Konkretisierung des göttlichen Geistes in das Wort und des göttlichen Wortes in menschlicher Gestalt. Gott lässt sich als Mensch auf die Bedingungen von Raum und Zeit ein. Der göttliche Geist verdichtet sich nicht nur im Wort, das Mensch wird, sondern in anderer Weise auch in jedem Menschen und in wieder anderer in jedem Begriff. Jeder Begriff in den vielen Sprachen der Welt enthält den göttlichen Geist.22 Und dieser göttliche Geist wohnt auch in jedem einzelnen Menschen, man nennt ihn den göttlichen Geist, den Heiligen Geist (später mehr dazu). Dieser ist dem Menschen innerlicher als er sich selbst sein kann (Augustinus), also nahezu noch näher im Menschen als der göttliche Geist im Sohn als Gegenüber.
Bevor dieses Zueinander von Vater, Sohn und Heiligem Geist genauer betrachtet wird, kann man noch einmal einen Schritt zurücktreten und die Menschwerdung des göttlichen Wortes anders betrachten: Gott offenbart sich dem Volk Israel, aber das Volk Israel versteht nicht genau, was Jahwe von ihm will und widersetzt sich seinen „Anordnungen“. Seine Regeln sind zu schwer einzuhalten. Lieber fällt es wieder in seine alten Abhängigkeiten im Haus Ägypten zurück, als den Weg in die Freiheit weiterzugehen. Denn diese Freiheit muss immer wieder mühsam erkämpft werden, sie führt auch durch die Wüste.
Die Mühsal des Weitergehens in die Freiheit führt immer wieder in die Versuchung, umzukehren und zu den Fleischtöpfen Ägyptens zurückzukehren. Da war zwar Knechtschaft und Gefangenschaft, aber es war bequemer. Freiheit und Eigenverantwortung erfordern tägliche Arbeit, gehen durch Einsamkeit und Wüste hindurch und machen auch Angst. Der Weg in die Freiheit ist beschwerlich. Aber er geht unaufhaltsam weiter und ist nahezu unumkehrbar.23 So wie ein Kind, das gezeugt wurde, geboren werden muss, da es sonst, wenn es im Geburtskanal stecken bleibt, stirbt und den Organismus der Mutter vergiftet, so muss sich auch Freiheit immer weiter nach vorne entwickeln auf mehr Freiheit hin.
Bevor genauer bestimmt wird, was diese Freiheit ist, soll noch einmal festgehalten werden, dass der Mensch auch in der Geschichte erst langsam zu dieser Freiheit heranreift. Er wird erst langsam durch seine eigene Entwicklung hindurch freiheitsfähig. Wie in der Kindheitsentwicklung ein Werdeprozess stattfindet vom Gehorsam des Kindes seinen Eltern und anderen Über-Ich-Strukturen gegenüber hin zum Freiwerden des jungen Menschen zur Selbstbestimmung (was dann auch mehr Verantwortung bedeutet), so gibt es auch einen Reifungs- und Befreiungsprozess des Menschen in der Weltgeschichte hin zum Mündigwerden des Einzelnen und zu seiner Autonomie.
Man kann den Prozess der inneren Reifung des Menschen hin zur Befähigung zum Freiheitsvollzug auch so nachzeichnen: Der Auszug des Volkes Israel aus Ägypten mit der befreienden Tat Gottes ist in der Weltgeschichte relativ jung. Erst vor etwa 3500 Jahren beginnt Gott, sich ganz langsam dem Volk Israel mit seinem Befreiungshandeln zu nähern. Es beginnt seine Selbstoffenbarung. Und erst vor etwa 2000 Jahren verdichtet und konkretisiert sich der göttliche Logos zu einer menschlichen Gestalt mit dem Ziel, den Menschen auch innerlich zu befreien.
Erst jetzt beginnt nach der äußeren Befreiung im Alten Testament der lange Prozess der inneren Befreiung des Menschen im Neuen Testament. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“ (Gal 5, 2) Auch dieser Prozess dauert in der Weltgeschichte einige Zeit. Was in der Biografie des Einzelnen zehn oder 20 Jahre dauert, dauert in der Weltgeschichte vielleicht 1000 oder 2000 Jahre. Nach dem alten Satz, „dass beim Herrn ein Tag wie 1000 Jahre und 1000 Jahre wie ein Tag sind.“ (2 Petr 3, 8) Auch die europäische Geschichte musste sich erst mühsam über viele Kriege zu dieser Befreiung hin durchkämpfen. In Nordafrika und in den muslimischen Ländern beginnt sie gerade erst.
Es sieht so aus, als würde die äußere Befreiung, die im Judentum begonnen hat und die sich als innere Befreiung des Menschen im Christentum weiterentwickelt, erst jetzt in der Gegenwart ganz langsam beim Menschen ankommen. Der Mensch befreit sich mehr und mehr von Über-Ich-Strukturen und äußeren Autoritäten. Das hat mit der 68er Generation begonnen und setzt sich fort im Raum der Kirche. Der Mensch emanzipiert sich von äußeren Über-Ich-Strukturen. Er will sich von äußeren Autoritäten nichts mehr sagen lassen. Er möchte selbst entscheiden können, was er tut, und er möchte selbst herausfinden, worum es im Leben geht.
Er möchte Zusammenhänge verstehen lernen sowie innere geistliche Erfahrungen machen, und nicht mehr nur Befehlen, Geboten oder Verboten folgen. Er braucht Argumente, um einsehen zu können, warum er so oder so handeln soll, und er bedarf der Reflexion über seine inneren Erfahrungen, um sein Innenleben verstehen zu können und zu erkennen, was in ihm vorgeht. Es ist der Überstieg von der äußeren Autorität hin zur inneren Autorität. Dies ist die wahre Autorität (von „augere“: „wachsen lassen“). Denn diese innere Autorität macht den Menschen nicht klein und unterdrückt ihn, sondern macht ihn groß und führt ihn in die Freiheit und Autonomie.
Und so gehört beides zusammen: Ethik und Spiritualität. Es ist eine zentrale Aufgabe für das Christentum, dem Menschen ethische Argumente für sein Handeln zu liefern und ihm zu helfen, seine inneren Erfahrungen und Seelenregungen verstehen zu lernen. Das eine ist die äußere Autorität der Normen, und das andere ist die innere Autorität der Wahrheitsstimme, des Gewissens, der Stimme Gottes. Die verschiedenen Stimmen und Seelenregungen im Menschen unterscheiden zu lernen (s. u.), nennt die Tradition die „Unterscheidung der Geister“. Gerade diese Kenntnis ist heute von zentraler Bedeutung für konkrete Entscheidungsfindungen im Alltag. In beiden Bereichen müsste der Mensch von heute besser unterrichtet werden.
Es scheint so zu sein – allem Wehklagen zum Trotz –, dass Gott dem Menschen heutzutage noch näher kommt als im Judentum und im bisherigen Christentum: Der Mensch kann Gott und sein Wirken in seiner leiblichen Verfasstheit erspüren. Aber er braucht „Lehrer“, die ihm helfen, das zu entdecken. Es scheint nämlich so zu sein, dass das Normalste und Selbstverständlichste in der Welt zu etwas Göttlichem wird: dass man sich über etwas freuen kann, dass man sich irgendwie fühlt, dass man irgendwie in Stimmung ist, dass man – wie Heidegger sagt – immer irgendwie gestimmt ist: fröhlich, traurig, gelangweilt, interessiert, zerrissen oder ganz bei sich, in seiner Mitte oder „außer sich“. All diese Stimmungszustände haben etwas mit dem Verhältnis des Menschen zu Gott zu tun. Diese inneren Gestimmtheiten verstehen zu lernen, wäre heutzutage ein wichtiges Desiderat für die Vermittlung von christlicher Spiritualität. Denn Gott zeigt sich ganz still und ganz verborgen, er will gefunden und entdeckt werden. Vielleicht sollte man deswegen auch nur ganz sparsam über ihn reden, umso mehr mit ihm.
Eine solche christliche Spiritualität sollte dem Menschen durch konkrete Alltagsanleitungen helfen, gute Entscheidungen zu treffen. Es ist eine Spiritualität der richtigen Entscheidungen und des Handelns aus der inneren Mitte heraus. Diese Entscheidungen wären nicht von außen aufoktroyiert, sondern von innen her als richtig und tragfähig erkannt (vgl. das Kapitel über die Unterscheidung der Geister). Anders gesagt: Wenn Gott dem Menschen innerlicher ist als er sich selbst ist, (Augustinus) dann kann der Mensch aus dieser inneren Mitte heraus bessere Entscheidungen treffen als ohne diese Anbindung – und die Wahrheit nicht nur besser erkennen, sondern sie vor allem tun, und das heißt, das Richtige tun! Daher heißt es im Neuen Testament: „Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht.“ (Joh 3, 12)
Vielleicht kann man als Zwischenresümee Folgendes feststellen: Es hat den Anschein, als würde die Welt immer säkularer. Ein Teil davon ist auch sicher richtig. Aber vielleicht gibt es auch eine andere Seite der Medaille: Gott rückt dem Menschen innerlich immer näher. Es ist die Zeit der Suche nach innerer Erfahrung, die Zeit der Mystik, zumindest eine Zeit der Sehnsucht danach. Wieder anders betrachtet wird die Welt scheinbar immer unabhängiger von Gott oder bestimmten Gottesbildern. Man braucht Gott offensichtlich nicht in der Medizin, weil vieles machbar geworden ist, man braucht ihn nicht als Erklärungslückenbüßer in der Natur, weil vieles naturwissenschaftlich erklärbar geworden ist, man braucht ihn kaum noch in der Ethik, weil sehr vieles philosophisch durchreflektiert wurde (Menschenwürde, Menschenrechte, Personencharakter des Menschen, Schutz des Individuums).