Loe raamatut: «Leben - Wie geht das?»
Matthias Beck
Leben
~
Wie geht das?
Die Bedeutung der
spirituellen Dimension
an den Wendepunkten
des Lebens
Meinem Bruder Wolfgang gewidmet
Inhalt
Cover
Titel
Widmung
Präambel
Vorwort
TEIL A Die biographische Entwicklung des Menschen
1. Hinführung
2. Die Vieldimensionalität des Lebens und der Selbststand
3. Die Frage nach dem letzten Grund
4. Der Lebensbeginn
5. Geburt – Neugeborenes
6. Kindheit
7. Kindheit – Intuition und Fragen
8. Pubertät als Krise
TEIL B Grundreflexionen über die Welt, den Menschen und die Frage nach dem Absoluten
9. Die Brüchigkeit und Zerrissenheit der Welt
10. Der Mensch als Wesen des Geistes und der Transzendenz – Glauben und Wissen
11. Die Frage nach Gott
12. Das befreiende Handeln Gottes
13. Die Offenbarung Gottes im Neuen Testament und seine Wirkungsgeschichte
14. Neuzeit und verändertes Weltbild
15. Gegenwart und moderne Biologie
16. Leben als das Ganze – Die Komplementarität der Wissenschaften
TEIL C Die Berufung des Menschen
17. Pubertät als „Seinsüberstieg“
18. Die Zerrissenheit des Menschen
19. Überwindung der Zerrissenheit – „Stimmigkeit“
20. Gottes Wille – Erfahrbarkeit im Leib
21. Die allgemeine und besondere Berufung des Menschen
22. Die Ablehnung des Rufes
TEIL D Die Biographie der zweiten Lebenshälfte
23. Lebensmitte als existentielle Krise
24. Das Alter
25. Krankheit und Leid
26. Das Phänomen der Zeit
27. Angst, Sünde und Schuld
28. Die existentielle Bedeutung von Sakramenten und Dogmen
29. Zusammenfassung und Ausblick – Wie geht Leben und was ist Christentum?
Endnoten
Anhang
Endnoten: Anhang
Literaturverzeichnis
Impressum
Präambel
Das vorliegende Buch ist in Wien und damit im europäischen Kontext geschrieben. Es verwendet bestimmte Begriffe, die einer christlich geprägten Kultur entstammen. Es will aber den Versuch unternehmen, etwas Allgemeingültiges zu sagen, was alle Menschen betrifft. Vielleicht geht das gar nicht, weil eben doch jeder Mensch in seinem Innenleben, seinen Gefühlen, seinem Gewissen, seinen Denkstrukturen so unterschiedlich geprägt ist, dass allgemeine Aussagen über das Leben gar nicht möglich sind. Möglich sind Aussagen von der Gestalt, dass alle Menschen nach Glück suchen, dass sie leiden, dass sie sich freuen können und weinen, dass sie krank werden und sterben müssen. Dann aber gehen die Unterschiede schon los, wie der Mensch zu seinem Glück findet, wie sein Leben gelingt und was das Glück ist.
Trotz der Vorprägungen, die der Autor ebenso wie jeder andere Mensch mitbringt, bemüht sich das Buch, diesen Fragen näher zu kommen und Phänomene aufzuzeigen, die universal gültig sind und in jedem Menschen auftreten. Allein die Interpretation dieser Phänomene wird in anderen Denkhorizonten und Kulturen unterschiedlich sein. So möge der Leser der Sache gegenüber aufgeschlossen sein und nicht so sehr auf die Begriffe achten, sondern auf die Sache selbst, die sich hinter den Begriffen zeigt. Er kann manche Ausdrucksweise in seine eigene Sprache übersetzen und zuschauen, ob die beschriebenen Phänomene auch in seinem Erleben auffindbar sind. Dann wäre schon ein Stück Universalität gewonnen.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Text nur ein genus verwendet.
Vorwort
Das Buch ist entstanden aus Vorlesungen, Vorträgen und vielen Einzelgesprächen. Es ist kein wissenschaftliches Buch und nicht für Professoren geschrieben. Es soll jeden erreichen, der in Zeiten der Orientierungslosigkeit Fragen an das Leben stellt. In zahlreichen Gesprächen tauchte immer wieder die Frage auf, wie Leben eigentlich geht, wie es gelingt, wie es glückt und was man dafür tun kann. Außerdem stand häufig das Problem im Mittelpunkt, wie man dem Menschen von heute im naturwissenschaftlich geprägten Zeitalter noch religiöse Inhalte vermitteln kann. In diesen Fragen zeigte sich eine gewisse Furcht vor der Übermacht naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und medizinischer Machbarkeiten und zum anderen die Sorge, dass da für die Frage nach Gott kein Platz mehr sei. Bei dieser Gottesfrage kamen wiederum eigenartige Vorstellungen von Religion, Christentum und Spiritualität zum Vorschein. Oft stand die Frage im Zentrum, ob das Christentum für die Alltagsbewältigung überhaupt noch etwas beitragen kann.
Das Buch will die existentiellen Fragen des Lebens mit naturwissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnissen zusammenbringen. Es will Hinweise geben, wie in Zeiten der Krise gehandelt werden kann; wie der Mensch sich selbst finden kann, ohne sich selbst je neu erfinden zu müssen; wie Umbruchsphasen durchgestanden werden können und wie Krankheiten womöglich mit religiösen und spirituellen Fragen zusammenhängen. Das Buch ist so aufgebaut, dass es sich an den verschiedenen Lebensphasen des Menschen orientiert und zwischendurch Grundsatzreflexionen über die existentiellen Fragen des Lebens anstellt. Dabei werden manchmal vorab Antworten gegeben, die erst später begründet werden.
Das Buch wendet sich im Teil A den Grundfragen des Lebens anhand der biographischen Entwicklung des Menschen bis zur Pubertät zu. Dann geht es im Teil B um einige Grundsatzreflexionen über die Struktur der Welt, den Menschen und die Existenz Gottes, um schließlich im Teil C wieder zum Menschen zurückzukehren, erneut bei der Pubertät anzusetzen und die zweite Lebenshälfte im Teil D mit einigen Detailfragen zu betrachten. Es wird über die Grundbestimmung des Menschen gesprochen, die darin besteht, dass jeder einzelne eine je einmalige Berufung hat.
Das Buch ist also mehrfach interdisziplinär angelegt. Bei diesem interdisziplinären Zugang müssen einerseits die wissenschaftlichen Zugänge zum Menschen klar voneinander getrennt werden, und andererseits muss der Mensch in seiner Leib-Seele-Einheit als ganzer in den Blick kommen. Die verschiedenen Ebenen im Menschen sind unvermischt und ungetrennt zu betrachten.
Teil A
~
Die biographische
Entwicklung
des Menschen
1. Hinführung
Wie geht Leben, woran soll der Mensch sich orientieren? Eine triviale Frage? Menschen aller Zeiten haben diese Frage gestellt. Wie geht das Leben, wie gelingt es, warum scheitert es? Geht das Leben überhaupt, geht es langsam oder schnell, geht es gerade oder schief, geht es an mir vorüber? Soll es „gut“ gehen? Kann es auch scheitern? Geht es nicht immer irgendwie? Soll man diese Fragen überhaupt stellen oder sie lieber verdrängen? Ist es nicht leichter, nicht hinzuschauen und nicht nachzufragen?
Warum geht Leben eigentlich und steht nicht still? Kann man es nicht anhalten? Läuft die Zeit? Geht sie immer weiter? Bis zum Tod? Ist dann Schluss? Soll es immer so weiter gehen, womöglich über den Tod hinaus? Ist das Leben ständig im Werden, ein ständiger Wandlungsprozess? Was ist dieses Werden, wohin geht es? Ist es ein Weniger-Werden, ein Mehr-Werden? Was ist der Ursprung des Lebens, und was ist sein Ziel? Fragen über Fragen. Sollte man nicht einfach in den Tag hinein leben, ohne zu fragen, oder drängen sich die Grundfragen des Lebens so auf, dass man ihnen irgendwann nicht mehr ausweichen kann?
Eine letzte Frage: Warum muss man eigentlich überhaupt leben, kann man nicht auch tot sein? Niemand hat je gefragt, ob wir leben wollen. Das Leben ist jedem zugemutet worden. Jeder einzelne ist in das Leben hineingeworfen worden, er ist der Geworfene (Heidegger). Über seine Existenz oder Nicht-Existenz wurde von anderen entschieden. Es kann die Liebe der Eltern gewesen sein, ein Zufall, ein „Unfall“, eine Herstellung im Reagenzglas, vielleicht sogar eine Herstellung, um später einem Geschwisterkind Knochenmark zu spenden. Vielleicht gehört es zum guten Ton, Kinder zu haben, womöglich Wunschkinder. Ohne Kinder könnte das Leben sinnlos sein. Eltern wollen sich in den Kindern fortzeugen, die Gene in die nächste Generation weitergeben. Die Sehnsucht nach Bleibendem ist groß. Das eigene Leben kann nicht alles gewesen sein, es muss doch weiter gehen. Hat das Leben einen Sinn und wenn ja, welchen? Kann man sich das Leben nehmen im doppelten Sinn? Kann man es an sich reißen, statt es sich schenken zu lassen, oder kann man sich das Leben nehmen, indem man es beendet? Wenn das Leben gelingt, kann der einzelne es als Geschenk erfahren, wenn es misslingt, erlebt er es womöglich als große „Last“.
Das vorliegende Buch ist ganz einfach und für den „normalen Menschen“ geschrieben. Es ist der Versuch, Antworten zu finden auf diese Fragen, die jeden beschäftigen. Ein solcher Versuch ist nicht neu, es gab schon viele zuvor. Das Buch will das Einfache und Selbst-verständliche ans Licht holen, über das Innerste des Menschen nachdenken, über seine Biographie und schließlich über die Verschränkung von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft.
Das Selbst-verständliche ist oft das Große, das niemand bemerkt und das sich aus sich selbst heraus versteht. Aber was versteht sich aus sich selbst heraus? Versteht sich nicht alles vom anderen her: von der Familie, vom Geschlecht, von der Nationalität, von der Bildung, von naturwissenschaftlichen Zusammenhängen her? Gibt es in all dem Verständnis vomanderen-her auch ein Verstehen aus-sich-selbst-heraus? Gibt es etwas ursprünglich Aufspringendes im Menschen, Originäres, Neues, Einmaliges, noch nie Dagewesenes, Absolutes, Selbst-verständliches? Verweist das Selbstverständliche und Ursprüngliche im Menschen auf einen letzten Ursprung? Ist das Ursprüngliche jenes eigenartige „Phänomen“, das man kaum bemerkt, weil es so still ist? Ist das Selbstverständliche in allem zu finden? Ist es versteckt, muss man es erst ent-decken? Das Buch versucht, dieses Selbstverständliche ans Licht zu heben und die Frage zu beantworten, wie der Mensch dazu hinfindet.
Eigenartig: Das Selbstverständliche soll ans Licht gehoben werden, als wäre es verborgen? Ist es verborgen und muss erst ent-borgen und entdeckt werden? Muss die Decke erst weggezogen werden? Das Wegziehen dieser Decke und der Prozess des Entdeckens ist ein Weg vom Verborgenen ins Entborgene und damit ein Weg zur Wahrheit. Der griechische Begriff für Wahrheit meint genau dies: A-letheia ist das Unverborgene. Die Wahrheit ist das Unverborgene. Die Wahrheit ist verborgen und muss ans Licht geholt werden, sie ist schon da und muss entdeckt werden.
Das Finden und Entbergen dieser Wahrheit ist ein lebenslanger Prozess. Es ist ein dialogischer Prozess nach außen zur Welt, nach innen zu sich selbst und letztlich zur Wahrheit hinter allem. Die Wahrheit selbst ist dialogisch, sie ist lebendig, sie bewegt sich, sie zeigt sich und entzieht sich, sie drängt ans Licht und verbirgt sich. Wenn man sich ihr öffnet, öffnet sie sich, wenn man sich ihr gegenüber verschließt, verschließt sie sich. Augustinus hat es so ausgedrückt: Die Wahrheit bricht sich Bahn. Dem, der sich ihr öffnet, eröffnet sie sich, dem der sich ihr verschließt, verschließt sie sich.
Wenn man die ans Licht drängende Wahrheit zurückhalten will, bricht sie sich auf anderen Wegen Bahn. Zurückhalten kann man sie auf Dauer nicht, dazu ist ihre Dynamik zu groß. Es liegt in ihrem „Wesen“, in die Unverborgenheit zu drängen. Sie ist der Horizont, an dem man sich orientiert bei allen Fragen, die da lauten: Wie ist das eigentlich, wie verhält es sich, wie sind diese und jene Zusammenhänge, aber auch bei der Frage: wer bin ich eigentlich und was soll das Ganze? Die Wahrheit ist Anzeige ihrer selbst und ihres Gegenteils, sie bringt auch die Unwahrheit ans Licht. Wenn man sich ihr nicht öffnet, verbirgt sie sich. Dann hört der Mensch zwar äußerlich, aber er hört nicht die tiefere Botschaft, er sieht die Phänomene und sieht doch nicht durch sie hindurch, es geht ihm letztlich kein Licht auf. Er hat die Wahl: er kann sich der Wahrheit öffnen oder sich ihr verschließen. Insofern ist er seines Glückes Schmied. Wer die Wahrheit erkennt und das Erkannte auch umsetzt, kommt zum Licht (Joh 3,21).
Die Wahrheit hat verschiedene Aspekte. Es kann die Wahrheit des eigenen Lebens sein, die Wahrheit im Gegensatz zur Unwahrheit, es kann die Wahrheit der Welt sein, die „Wahrheit“ der Mathematik oder die Wahrheit in allem, in jedem Moment oder die Wahrheit hinter allem. Selbst der Naturwissenschaftler sucht implizit nach dieser Wahrheit. Er will wissen, wie die Dinge sich verhalten, wie sie sind. Er will herausfinden, wie Natur, Pflanze, Tier und Mensch funktionieren. Zwar bringen Naturwissenschaften keine Wahrheit hervor, aber sie versuchen, dieser Wahrheit näher zu kommen: mit Modellen und Hypothesen, die sich bewahrheiten oder als falsch herausstellen, die sich verifizieren oder falsifizieren lassen. Naturwissenschaften suchen implizit nach dem Sein der Dinge, nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, aber sie können es nicht finden.
Denn ihre Methode ist nicht dazu geeignet, diese letzten Dinge zu erfassen, das bleibt der Philosophie und Theologie überlassen. Die moderne Naturwissenschaft stellt solche letzten Fragen auch nicht ausdrücklich. Die Philosophie eines Aristoteles hat es noch getan. Die Beschäftigung mit dem Lebendigen heißt bei ihm Physik (von physis die Natur) und die Wissenschaft, die sich mit den Grundfragen des Seins beschäftigt, Metaphysik. Diese versucht, wie es bei Aristoteles heißt, das Seiende als das Seiende zu erfassen, also nach dem Wesen der Dinge zu suchen, nach dem, was die Dinge an sich, in sich und aus sich heraus sind. Sie sucht nach den innersten Zusammenhängen, nach dem, was sich in allem und hinter allem zeigt.
Die Frage nach dem Wesen der Dinge ist heute weithin verloren gegangen, aber gerade eine moderne Wissenschaft braucht wieder beide Zugänge zur Interpretation der Welt: den naturwissenschaftlichen und den geisteswissenschaftlichen. Beide sind von ihrer Methode her klar zu unterscheiden, sie sollten sich aber komplementär ergänzen. Sonst ist die Struktur der Welt nicht mehr hinreichend zu erfassen und ethische Fragen sind nicht mehr adäquat zu beantworten. Die moderne Ethik im Kontext von Biologie und Medizin enthält schon dieses komplementäre Zueinander von Natur- und Geisteswissenschaften. Zur Beantwortung aktueller medizinethischer und bioethischer Fragen bedarf es des naturwissenschaftlichen Sachverstandes, der Einordnung in ein konkretes Menschenbild (Anthropologie) und der ethischen Urteilsbildung zum richtigen und guten Handeln. Auch die Forschung sollte von ihren Ansätzen her bereits interdisziplinär und komplementär arbeiten. Es gilt, eine transdisziplinäre Forschung zu entwickeln, die von vornherein die verschiedenen Wissenschaften in Forschungsprojekte einbindet.
Die moderne Naturwissenschaft sucht nach Einzelerkenntnissen und Lebensgesetzen, Philosophie und Theologie hingegen suchen nach dem Ganzen des Lebens und der Frage, warum es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts (Leibniz). Deswegen können sich Naturwissenschaft und Theologie auch nicht widersprechen, weil ihre Fragen und Methoden ganz unterschiedlich sind. Zum Beispiel kann man bei der Frage von Schöpfung oder Evolution sagen, dass Schöpfung sehr wohl evolutiv vonstatten gehen kann. Gott kann etwas ins Sein setzen, das sich dann von selbst weiter entwickelt.
Die Evolutionstheorie versucht, mit ihrer naturwissenschaftlichen Methode, den Werdeprozess der Welt zu erklären. Sie kann als Theorie verändert, ergänzt oder im Sinne eines Paradigmenwechsels ganz neu geschrieben werden. Sie wird bereits durch neuere Forschungen ergänzt. (Die neuere Forschungsrichtung „EvoDevo“, evolutionary development, versucht Erkenntnisse aus der Embryonalentwicklung auf jene der Evolutionstheorie zu übertragen.)1 Naturwissenschaften können nur Theorien und Hypothesen an die Welt herantragen und zusehen, ob die Phänomen sich mit diesen Theorien hinreichend plausibel erklären lassen. Solange die Sternenkonstellationen noch ausreichend mit der Annahme interpretiert werden konnten, dass die Erde im Mittelpunkt der Welt steht und die Sonne sich um sie herum dreht (daher bis heute die Rede von Sonnenaufgang), wurde nicht weiter darüber nachgedacht.
Als aber klar wurde, dass durch genauere Meßmethoden die Unerklärbarkeiten zunahmen, ging Kopernikus von einer neuen Annahme aus, dass die Sonne im Mittelpunkt unseres Sonnensystems steht und die Welt sich rotierend um die Sonne dreht. Und siehe da, bestimmte Phänomene und Konstellationen konnten jetzt besser erklärt werden. Das nennt man einen Paradigmenwechsel. Man stellt sich auf einen neuen Standpunkt und findet bessere Erklärungen für bestimmte Phänomene. Solche Paradigmenwechsel geschehen häufiger in naturwissenschaftlichen Theorien. Ein solcher geschah auch beim Übergang von der Newtonschen Mechanik zur Quantenphysik, und er geschieht heute in gewisser Weise im Kontext der Genetik. Diese dachte bis vor kurzer Zeit, dass die Informationen für den Organismus und für Krankheiten in den Genen alleine liegen. Inzwischen wird aber immer klarer, dass Gene aktiviert und inaktiviert werden müssen und dass dafür verschiedene Faktoren in der Umwelt, aber auch im Lebensstil des Menschen, seinem Denken und Fühlen sowie seinen zwischenmenschlichen Beziehungen liegen. Diese Faktoren nennt man epigenetische Faktoren.
Es zeigt sich also, dass naturwissenschaftliche Theorien sich ändern können, und dass Naturwissenschaften keine absoluten Wahrheiten hervorbringen. Naturwissenschaften stellen – wie erwähnt – Hypothesen auf und sehen zu, ob diese sich bewahrheiten (verifizieren) lassen oder sich als falsch herausstellen (falsifizierbar sind). Die Theologie stellt hingegen keine Theorien auf, ob es Gott gibt oder nicht und versucht dann, eine solche Theorie zu verifizieren oder falsifizieren (das geht gar nicht), sondern sie geht im Judentum und Christentum davon aus, dass Gott der Schöpfer der Welt ist und sich in dieser Welt gezeigt hat, und sie versucht unter anderem darüber nachzudenken, ob eine solche Vorstellung von Schöpfung und Offenbarung möglich ist und sinnvoll gedacht werden kann. Sie macht als Geisteswissenschaft auch keine Experimente, und die Bibel ist kein naturwissenschaftliches Buch.
So ist die Evolutionstheorie ein naturwissenschaftlicher Zugang zur Interpretation der Welt und die Theologie ein geisteswissenschaftlicher. Beide haben unterschiedliche Methoden und Problemstellungen. Die Evolutionstheorie fragt, wie die Welt sich womöglich entwickelt hat und die Theologie fragt, warum es sie überhaupt gibt. Beide können sich also gar nicht widersprechen, weil ihre Fragen ganz andere sind. Aus theologischer Sicht schmälert es nicht die Größe Gottes, wenn man davon ausgeht, dass er etwas ins Sein setzt, was sich dann selbst weiter entwickelt und transzendiert (Selbsttranszendenz), und was das heliozentrische Weltbild mit der Sonne im Mittelpunkt angeht, ist es sogar plausibler davon auszugehen, dass die Sonne als Licht der Welt im Zentrum steht und nicht die Erde. Naturwissenschaftliche Theorien können das theologische Denken befruchten, das Staunen vor der Größe Gottes befruchten und sogar neue Aspekte eines Gottesbildes aufzeigen.
Bei ihrer Suche nach der „Wahrheit“ entdeckt die Naturwissenschaft immer wieder Neues, aber die ganze „Wahrheit“ erkennt sie nie. Das Ganze entzieht sich ihrem Zugriff. Das Ganze ist nur vom Ganzen her zu erkennen und nicht aus der empirischen Forschung von den Einzelteilen her. In allen „Einzelerkenntnissen“ zeigt sich aber eine andere Art von Wahrheit, die eigens reflektiert werden kann: Die Naturwissenschaft und die Naturwissenschaftler gehen nämlich implizit davon aus, dass die Welt geordnet ist, sonst könnten sie gar keine Naturwissenschaft betreiben. Nur wegen dieser Ordnung ist es möglich, weltweit Forschungsergebnisse zu vergleichen: Zellen, Gewebe, Organe wachsen bei gleichen Bedingungen in Europa genauso wie in den USA und in China. Das ist ja der Siegeszug der modernen Naturwissenschaften. Sie funktionieren auf der ganzen Welt, unabhängig von kulturellen Kontexten.
Allerdings bedeutet diese Ordnung nicht, dass alle physiologischen Abläufe bereits genau festgelegt sind. Die Ordnung im Lebendigen ist keine festgelegte Starrheit, sondern höchste Form von Flexibilität, Komplexität, ständiger Wechselwirkung und Dialog. Gerade die Erkenntnisse der modernen Biologie bringen im Kontext der Genetik viel von diesem Wechselwirkungsgeschehen ans Licht. Denn die Gene enthalten nicht die ganze Information für den Organismus. Sie sind nur die Grundinformation und müssen ständig an- und abgeschaltet, aktiviert und inaktiviert werden. Nur in diesem ständigen Wechselwirkungsgeschehen entsteht Information für den Organismus (worauf später genauer eingegangen wird.) Diese Prozesse sind hochkomplex und laufen in jeder Sekunde im Organismus milliardenfach und unbemerkt ab. Sie geschehen „von selbst“, selbstverständlich und ohne Geräusch. Erst wenn die Prozesse entgleisen, nimmt man sie als Krankheit oder Schmerz wahr. Gesundheit merkt man nicht, Krankheit wird spürbar.
Ordnung und Spielraum, Ordnung und Zufall, Ordnung und Freiheit gehen Hand in Hand. Gerade dieses Zusammen von Ordnung und Spielraum, Ordnung und Zufall macht das Lebendige aus. Gäbe es die Ordnung nicht und herrschte nur der Zufall, gäbe es den Zufall nicht mehr. Denn gäbe es nur Zufall, wäre der Zufall aufgehoben. Zufall kann es nur im Kontext von Ordnung geben. Außerdem würde im Kontext des dauernden Zufalls kein Organismus mehr funktionieren. Das Herz muss immer schlagen und das Auge immer sehen. Es darf nicht plötzlich anfangen zu hören. Gäbe es andererseits innerhalb der Ordnung nicht den Spielraum, die Veränderbarkeit und die „Freiheit“, gäbe es keine Weiterentwicklung. Alles wäre starr festgelegt. Beides also ist notwendig: Ordnung und Freiraum. Noch einmal anders: Wäre alles zufällig und beliebig, käme die Ordnung durcheinander und der Mensch hätte nie entstehen können. Eine derartige Unordnung zeigt sich zum Beispiel bei Krebserkrankungen.2 Bei diesen Erkrankungen ist die Ordnung gestört und Zellen aus der Lunge tauchen plötzlich im Gehirn auf. Da gehören sie nicht hin. Diese Zellen nennt man Metastasen. Eine solche Unordnung ist mit dem Leben nicht vereinbar.
Auch im Kosmos herrscht diese Ordnung: die Sonne geht jeden Morgen im Osten auf und nicht mal im Süden, mal im Westen oder mal im Norden. (Wir wissen längst, dass die Sonne überhaupt nicht aufgeht, sondern dass die Erde sich dreht und es so aussieht, als ginge die Sonne auf.) Ginge sie morgen im Süden und übermorgen im Westen auf, hörte die Welt auf zu existieren. So gibt es eine Ordnung im Kosmos, in der Natur, im Organismus, im Inneren des Menschen, auch im menschlichen Geist. Dort ist es die Ordnung der Logik und des logischen Denkens, das sich nicht in Widersprüchen bewegen darf. So ist die Ordnung auf jeder Ebene eine andere und dennoch durchzieht sie das ganze Sein. Sie besteht im Kosmos in der Ordnung der Planeten und Sterne, im Lebendigen in einem ständigen Wechselwirkungsgeschehen zur Aufrechterhaltung eines dynamischen Gleichgewichtes im Organismus und im menschlichen Geist in der Logik des Denkens und der Ausrichtung auf den logos.
Die Ordnung ist im biologisch Lebendigen vorgegeben und muss gleichzeitig im Lebensvollzug immer wieder eingeholt werden. Das erfordert Aufwand und „Arbeit“. Das Tote neigt zur je größeren Unordnung, wie die Physik herausgearbeitet hat. Diese Tendenz zur Unordnung wird als Entropie bezeichnet. Im Lebendigen muss dieser Neigung zur Unordnung durch Energiezufuhr immer wieder entgegengewirkt werden. Daher spricht man auch von negativer Entropie im Lebendigen.3 Diese Ordnung und die Tendenz zur Unordnung gibt es in anderer Weise auch im Seelischen und im Geistigen. Auch dort neigt das „Tote“ im übertragenen Sinn zu Unordnung, Zerstreuung und Desintegration. Dieser Tendenz zur seelisch-geistigen Zerstreuung und Desintegration muss ebenfalls durch je neue Integrationsarbeit entgegengearbeitet werden.
Im Griechischen wird die Kraft zur Desintegration und Zerstreuung mit dem Begriff des Dia-bolos belegt (dia-bolos kommt von dia-ballein: zerstreuen, auseinanderreißen). Diesem Begriff steht jener des Sym-bols (von sym-ballein zusammenwerfen) gegenüber. Er weist auf die integrierenden Momente des Lebens hin. Es wird im Laufe des Buches zu zeigen sein, wie die desintegrierenden Kräfte im Menschen je neu zusammengehalten und integriert werden können und was diese Integrationsarbeit mit dem Begriff des Symbols zu tun hat.