Der Actinidische Götze

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Wie beiläufig hatte sie sich in Bewegung gesetzt, um zu dem schwarzen Schrein hinüberzugehen. Keine zehn Schritte trennten uns von dem goldbeschlagenen Kasten auf seinem Postament aus gelber Seide.

Die vier Mönche, die die Tür bewachten, standen stramm. Zwei von ihnen präsentierten die silbergeschmückten Hellebarden, deren Spitzen bedrohlich aufleuchteten. Tsen gab ihnen ein Zeichen ihre Position beizubehalten. Dann beeilte er sich, Jennifer zu überholen und sich zwischen ihr und dem Schrein aufzubauen.

»Was haben Sie vor, mein Kind?«, fragte er schnarrend. »Ihnen ist klar, dass der Götze nicht vor dem nächsten turnusgemäßen Anlass wieder enthüllt werden wird.«

Er stand jetzt unmittelbar vor dem Kultgegenstand und stieß mit dem Rücken an den mit gelber Seide verkleideten Unterbau. Aus zusammengekniffenen Augen funkelte er Jennifer herausfordernd an.

»Keine Macht des bekannten Universums wird das Behältnis des Actinidischen Götzen vor dem kommenden Gu Tsechu-Fest öffnen«, zischte er. »Es sei denn, über meine Leiche.«

Jennifer begriff, dass sie sich zu weit vorgewagt hatte. Sie trat wieder einen Schritt zurück und hob begütigend die Hände.

»Das weiß ich, Ehrwürdiger Lama«, sagte sie und legte ihren ganzen Charme in ein gewinnendes Lächeln.

Tsen hatte abwehrend die Hände vorgestreckt. Jetzt ließ er sie langsam sinken, nicht ohne ein leises Schulterzucken anzudeuten. Anhaltendes Misstrauen und Irritation kämpften in ihm. Da er einen Kopf kleiner war als Jennifer, konnte sie über ihn hinweg den Schrein mustern. Ich sah, wie ihr konzentrierter Blick die Schatulle scannte, und es war jetzt auch wieder der gefasste, scharfe und präzise Blick der Wissenschaftlerin, den sie auf den schwarzen Gegenstand heftete, nicht der verschwommene Brei, den sie während der gestrigen Zeremonie anstelle des Gesichts getragen hatte.

»Zum Beispiel die Beschläge ...«, dachte sie laut nach. »Findet Ihr nicht, dass sie ein wenig angelaufen wirken?«

Tsen hielt sie mit der rechten Hand auf eifersüchtiger Distanz, während er sich behutsam umwandte und die goldenen Beschläge des Schreins zu betrachten vorgab.

»Sie wurden vor dem Fest poliert«, stieß er hervor.

Ein unwilliger Ruck ging durch ihn. Ich erwartete unwillkürlich, dass er wie ein trotziges Kind aufstampfen würde, als er quengelnd ausrief:

»Liebste Jennifer, ich verstehe wirklich nicht, worauf Sie ...«

»Umso merkwürdiger«, fiel sie ihm ins Wort, »dass sie schon wieder schwarz und trübe sind!«

Wir erstarrten. In einem unbedachten Moment ließ ich mich von Neugierde hinreißen und ging jetzt meinerseits näher an den schwarzen Schrein heran. Die beiden Mönche, die mit übermannshohen Hellebarden bewaffnet waren, marschierten quer durch den Raum auf uns zu. Ihre Gesichter waren steinerne Abbilder der Entschlossenheit, Kriegerfratzen, wie sie bei den Maskentänzen Verwendung fanden. Sie ließen jedenfalls keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie nicht zögern würden, uns und sogar den Lama in der Luft zu zerfetzen, wenn wir Anstalten machen sollten, den Götzen aus dem Behältnis zu nehmen.

Jennifer hob die Hände und verschränkte sie dann demonstrativ hinter dem Rücken.

»Vertrauen Sie mir«, sagte sie. Dabei wandte sie sich ausschließlich an den alten Lama und würdigte die beiden Männer, die nun unmittelbar neben ihr standen, keines Blickes.

Ich sah, dass Tsen am ganzen Körper zitterte und dass ihm der Schweiß auf die Stirne trat. Bei einem Großmeister des Prana Bindu hatte diese Beobachtung eine alarmierende Aussagekraft. Jennifer hatte sich sehr weit vorgewagt. Sie rührte hier an ein Tabu, bei dem alle Argumente und alles Zureden gegenstandslos wurden. Aber was beabsichtigte sie überhaupt?

»Großer Vater«, wiederholte sie. »Ich garantiere Euch, dass ich den Götzen nicht anrühren und den Schrein nicht öffnen werde. Aber erlaubt mir, von den Beschlägen eine Probe zu nehmen.«

Alle vier Mönche stießen ein dumpfes Murmeln aus, das nicht freundschaftlich klang. Tsen Resiq atmete hörbar durch. Ich wusste ja, auf was es hinauslaufen würde, aber auch er schien Jennifer gut genug zu kennen, obwohl er sie nur einige Monate lang unterrichtet hatte und obwohl das zwanzig Jahre zurücklag, um zu wissen, dass er sie anders nicht loswerden würde, als indem er ihr nachgab.

»Liebe Jennifer«, sagte er. »Dieser Schrein birgt das Heiligste, das unsere Religion besitzt. Und bei allem Respekt vor Ihrer Wissenschaft hätte ich kein gutes Gefühl, wenn Sie mit Ihrem Instrumentarium auch nur an die äußere Hülle dieses Objektes der Verehrung herangehen würden. Proben nehmen, analysieren, auswerten ... - Sie sind tief genug in unseren Glauben eingedrungen, um zu wissen, dass schon ein solcher Gedanke, eine solche Absicht diesen Ort entweiht. Es wäre, als würden sie mich bei lebendigem Leib sezieren, mein schlagendes Herz in der Hand halten und mit ungeschütztem Blick betrachten.«

Jennifer lächelte und schwieg.

Der Alte breitete die Arme aus und trat einen Schritt nach vorne, um uns weiter von der Schatulle wegzudrängen.

»Die Beschläge sind schwarz«, sagte Jennifer leise, als spreche sie mit sich selbst. »Der ganze Schrein ...«

»Er besteht aus Obsidianholz«, fiel Tsen ihr ins Wort. »Dem härtesten und dunkelsten Holz von Musan. Es verschluckt alles Licht. Keine Politur kann es zu eitlem Glanz verleiten.«

»Aber seht es Euch doch an«, insistierte Jennifer. »Die Fugen, die Ecken und Kanten.«

Tsen dachte gar nicht daran, sich den Schrein näher zu besehen. Er hätte ihr dazu den Rücken kehren müssen. Stattdessen versuchte er uns weiter abzudrängen.

Plötzlich wand sich Jennifer an ihm vorbei, schnellte vor und baute sich vor dem schwarzen Kasten auf.

»Seht doch«, sagte sie, während sie mit dem Zeigefinger der rechten Hand prüfend über eine Kante und einen Eckbeschlag der Schatulle fuhr. »Hier! Und diese Nieten.«

Die Mönche stürmten vor, die Hellebarden im Anschlag. Tsen konnte sie nur zurückhalten, indem er seinerseits herumwirbelte und Jennifers Hand wegschlug.

Als habe sie sich zu einer unbesonnenen Handlung hinreißen lassen, kehrte sie an meine Seite zurück.

»Entschuldigen Sie mich«, säuselte sie und setzte ihr unschuldigstes Lächeln auf. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.« Und mit fröhlicher Miene fügte sie in meine Richtung hinzu: »Ich glaube, es ist besser, wenn wir jetzt gehen.«

Die beiden Mönche zogen sich langsam und knurrend zurück. Tsen blickte uns starr an. Wir gingen Seite an Seite einige Schritte rückwärts, deuteten eine Verbeugung an und wandten uns dann zur Tür.

»Sie haben recht«, sagte Jennifer zu Tsen. »Glauben und Wissen sind zwei getrennte Welten. Man soll die Sphären nicht mischen.«

»Leben Sie wohl, mein Kind«, erwiderte Tsen Resiq kalt. Erst als er sah, dass wir uns tatsächlich zu gehen anschickten, wurde seine Miene wieder weicher. »Sie beide«, sagte er noch. »Und kommen Sie einmal wieder.«

Die Mönche zerhackten uns mit blutunterlaufenen Blicken, als sie auseinandertraten und uns die Tür öffneten.

»Was sollte denn das?«, fragte ich atemlos, als wir durch das Labyrinth aus Gängen, Treppen und Höfen zu unserem Zelt eilten.

»Das wirst du schon noch sehen«, sagte sie fröhlich.

Wir duckten uns unter zwei schweren Vorhängen durch, die anstelle einer Tür ein wuchtiges Portal verschlossen, und liefen über den menschenleeren Freihof, der sich dahinter anschloss.

»Anfangs hatte ich wirklich nur einen leisen Verdacht«, plauderte sie, während wir durch verwinkelte Gänge weiterhasteten. »Vor allem die Beschläge der kleinen Tür, durch die der Götze entnommen wird.«

Sie verstummte, als uns eine Gruppe von Mönchen entgegenkam. Wir erwiderten ihren Gruß und ihr freundliches, aber unpersönliches Lächeln und warteten, bis wir eine Ecke zwischen sie und uns gebracht hatten.

»Richtig neugierig wurde ich«, fuhr Jennifer fort, »als ich sah, wie nervös er wurde.«

Ohne ihren Lauf zu verlangsamen, sah sie mich von der Seite an. Sie strahlte, als habe sie mir soeben eine revolutionäre Entdeckung mitgeteilt.

»Der Mann ist Großmeister und oberster Lama des Prana-Bindu-Ordens«, sagte sie. »Er könnte sich mit einem glühenden Dolch die Eingeweide zerschneiden und dich dabei ansehen, ohne eine Miene zu verziehen, Frank.«

»Das ist mir auch aufgefallen«, keuchte ich. »Der Götze ist eben sein wichtigstes Heiligtum. Das hast du mir doch selbst erklärt.«

Sie schüttelte nur den Kopf und bog in den Seitenflügel ab, der uns zu unserem Zelt bringen würde.

»Da war noch etwas anderes.«

Durch eine einfache Tür aus nacktem Holz verließen wir das Gebäude und traten ins Freie. Wir befanden uns auf der Rückseite des Klosterkomplexes, unweit unseres Lagerplatzes. Die Fläche zwischen den Mauern der Großen Gompa und der Steilwand, die im Norden hinunterstürzte, war wieder so gut wie leer. Die meisten Pilger hatten schon gestern Nachmittag, unmittelbar nach Abschluss der Zeremonie, den Rückweg angetreten. Die übrigen waren heute morgen aufgebrochen. Nur die Abgesandten anderer Klöster, die sich, wie wir, von Tsen Resiq persönlich verabschiedeten, waren noch da. Sie wohnten aber im Hauptgebäude. Wir schlenderten durch den Staub und Schmutz des aufgelassenen Lagers zu unserem Zelt, das einsam am äußersten Punkt der Klippe stand und im Wind knallte. Wo der Blick an den Gipfelfelsen der Bergpyramide vorbei in die Tiefe ging, sahen wir die Karawane der heimkehrenden Pilger, die sich dort unten als schwarzer Wurm der Talsohle des Kaligan entgegenwälzte. Sie alle mussten wieder durch das Tor des Todes, diesmal dem Sturm entgegen.

Die Umgebung des Klosters sah wie ein Schlachtfeld aus. Menschliche Exkremente und tierischer Dung hoben sich vom nackten Felsgrund ab. Die schwarzen Narben der offenen Feuer waren in regelmäßigen Abständen in die Landschaft gesprenkelt. Skelette von toten Tragtieren, die hier oben den Strapazen erlegen waren, ragten aus dem Geröll auf, und die Überreste von Wollhühnern, Ilagänsen und anderem lebenden Proviant bildeten blutige Klumpen. Auch zerfetzte Zelte und zurückgelassene Ausrüstungsgegenstände flatterten am Boden. Es würde noch eine Weile dauern, bis die Sonne, die Trockenheit und der unbarmherzige Wind die Einöde außerhalb der Klostermauern in ihrer ursprünglichen Reinheit wiederhergestellt hatten.

 

Wir hatten beschlossen, noch eine Nacht hier zu verbringen, auch wenn uns das Innere der Gompa nach dem Ende des Festes und unserer offiziellen Verabschiedung durch Tsen Resiq verschlossen bleiben würde. Ohnehin würden wir das Ende der Karawane bald eingeholt haben, wo sich die Alten, Kranken, Familien mit Kindern und Leute, deren Tragtiere verendet waren, unter unglaublicher Mühsal wieder in ihre Heimatdörfer zurückschleppten.

»Jedenfalls haben wir jetzt alles, was wir brauchen«, sagte Jennifer, als wir ins Zelt gekrochen waren und den Eingang versiegelt hatten.

Aus dem Tornister holte sie einen Spatel und einen kleinen Elastinzylinder hervor, wie man sie benutzt, um auf wissenschaftlichen Missionen Bodenproben zu nehmen. Ich bemerkte jetzt erst, dass sie den rechten Zeigefinger im Inneren der Hand geborgen hatte. Jetzt streckte sie ihn aus und schabte den Belag ab, der wie schwarzer pudriger Ruß aussah. Sie klopfte das Pulver in den Zylinder und verschloss ihn sorgfältig.

»Irgendetwas stimmt da nicht«, kicherte sie und strahlte mich fröhlich an.

Am nächsten Morgen brachen wir das Zelt ab, schulterten die Rucksäcke und begannen mit dem Rückmarsch. Der Weg war nicht zu verfehlen. Tote Lasttiere, zurückgelassenes Gepäck, tote und sterbende Menschen säumten die unbefestigte Piste. Immer wieder kamen wir an Menschen vorbei, die von den ihren aufgegeben worden waren. Sie lagen im Staub und warteten auf das Ende. Keiner flehte um Hilfe oder nahm uns überhaupt zur Kenntnis, und Jennifer zog mich, der ich ihnen wenigstens etwas zu trinken geben wollte, unbarmherzig weiter.

»Was ist das für ein Wahnsinn?!«, fluchte ich, als wir in zügigem Tempo weitermarschierten, direkt auf den tiefsten Einschnitt der Kaliganschlucht zu. »Wie viele kommen um von denen, die diese Reise antreten, jeder Zehnte, jeder Fünfte?«

Jennifer ging unbeeindruckt weiter, am Körper einer alten Frau vorbei, mit deren schwarzer Kapuze der Wind spielte.

»Sie haben das Pranavana gesehen«, brummte sie unwirsch. »Die Ewigkeit. Der Actinidische Götze ist das Pranavana. Jetzt kann ihnen nichts mehr etwas anhaben. Selbst der Tod ist nur noch eine Erlösung für sie.«

»Es ist ein Wahnsinn«, rief ich dem Wind entgegen, der mit jedem Schritt, den wir nach Süden kamen, stärker wurde und der uns Sand und glühenden Staub entgegenschleuderte.

Bald waren wir auf das Ende der Karawane aufgelaufen. Es glich einem Exodus, einem Bild von alttestamentarischer Wucht und Grausamkeit. Männer, die verzweifelt auf ihre Tiere einschlugen und sie dem peitschenden Sturm entgegenprügelten. Greise, die am Wegesrand sitzen blieben, um auf den Tod zu warten. Ehemänner, die ihre schwangeren Frauen zu schieben und zu tragen versuchten und sie schließlich liegen lassen mussten. Ich hätte einem Mann helfen können, dessen Karren bis über die Radnabe im Sand stecken geblieben war, oder ich hätte das Kind tragen können, das von seiner Mutter auf einer flimmernden Düne abgesetzt wurde, weil sie es nicht mehr schleppen konnte. Sie wollte bei ihm bleiben, um gemeinsam mit ihm zu sterben, aber ihr Mann zog sie weiter. Und so ging es nun tausenden. Wir hasteten daran vorüber, blind und erstickt von dem tobenden Wind, der uns entgegenstand, und benommen von der Uferlosigkeit des Leidens, das wie ein unfassbares Panorama menschlichen Elends an uns vorüberzog. Auf diesem Teil des Weges marschierten wir, so rasch wir konnten, und gönnten uns nur die nötigsten Pausen, so dass wir die fünftägige Strecke des Aufstieges in weniger als der Hälfte der Zeit hinter uns brachten. Am Abend des zweiten Tages rasteten wir oberhalb des Einstiegs zum Tor des Todes. Ein dunkles Heulen, Grollen und Sausen drang aus dem Felsenmaul. Das Monster fletschte die Zähne und brüllte um Nahrung. Kilometerhoch über uns glühten die Zinnen der Ilaya-Kette im Abendrot auf, dann senkte sich die blauschwarze Nacht über das Gebirge. Wir warteten weiter ab, bis der Orkan, der uns aus dem Engpass entgegenschrie, sich ein wenig legte und die brennenden Felswände sich etwas abgekühlt hatten. Dann stiegen wir in die Schlucht ein. Wir achteten nicht mehr auf die Pilger, die sich hier erschöpft und verzweifelt vorwärtskämpften, sondern marschierten so schnell wie möglich, um den tiefsten Teil des Kaligan bis Sonnenaufgang passiert zu haben. Eine Stunde vor Tagesanbruch, als der Wind an den breiteren Stellen der Talsohle fast eingeschlafen war, schleppten wir uns durch das Tor des Todes, wo die senkrecht aufsteigenden Felswände fast aneinander stießen und der Sturm immer noch so stark war, dass wir uns Schritt für Schritt vorwärts zwingen mussten. Als der Himmel über uns aufflammte und die Bergspitzen lotrecht über uns wie frisches Blut erglänzten, hatten wir den Durchgang hinter uns gebracht. Wir wichen sofort in die Flanke eines Seitentales aus, wo wir den Tag verbrachten, und setzten dann am Abend den Rückmarsch fort. Vier Tage später kamen wir in Feba an, wo wir zwei Nächte in einem Bungalow am See verbrachten, um uns zu regenerieren. Hier gestattete Jennifer mir auch wieder das Beilager. Pem Ba und sein Sohn brachten uns schließlich mit ihrem roststarrenden Gleiter zum Raumhafen.

Sin Pur

»Interessant«, sagte Jennifer, »jetzt sehe ich schon klarer.«

Sie kam aus dem winzigen Labor des Shuttles, das nicht größer war als eine Küchenzeile in einer Junggesellenwohnung. Es diente nur bei kleinen Einsätzen als erste Anlaufstation für rasche Analysen. Bei größeren Missionen verwendeten wir selbstverständlich einen Explorer der Enthymesis-Klasse, bei dem ein ganzes Deck mit wissenschaftlichem Equipment vollgestopft war. Jetzt ergab es sich rein zufällig, dass das Shuttle, das wir für diesen Trip benutzten, überhaupt über eine primitive Ausstattung zur Untersuchung von Materialproben verfügte.

Jennifer ließ sich in ihren Gravipander fallen und spielte mit dem durchsichtigen Zylinder, in dem sich die schwarze pudrige Substanz befand. In der Rechten hielt sie außerdem den Gelatine-Chip, auf dem die Ergebnisse der Scans angezeigt wurden.

»Ein Sporenpilz«, verkündete sie. »Allerdings keine Spezies, die in der Taxonomie dieses Systems verzeichnet ist.«

Sie ließ den Chip in ihrer Brusttasche verschwinden und rollte den Zylinder, in dem flockiger Staub rieselte, zwischen den Fingerspitzen.

»Die Biometrie der Zellkerne deutet auf gewisse Anomalitäten.« Sie sah mich fröhlich an, als habe sie eine umwälzende Entdeckung gemacht. »Vermutlich eine aggressive, schnellwachsende Mutation.«

Ich fand das ziemlich ekelhaft. Und das hatte sie nun auf der ungeschützten Haut gehabt, und wir hatten es eine Woche lang mit uns herumgetragen. Außerdem wusste ich nicht, warum ich die wenigen Tage, die wir ungestört miteinander verbringen konnten, mit biochemischen Exkursen über entarteten Schimmel zubringen sollten. Lieber hätte ich mich mit Jennifers körpereigener Biochemie befasst und diese noch ein bisschen durcheinander gebracht.

»Ich sehe schon«, sagte sie, »deine Begeisterung hält sich in Grenzen.«

Es gelang mir nicht, zu widersprechen. Ich verzog das Gesicht zu einer müden Grimasse der Gleichgültigkeit.

»Aber ich kann dich beruhigen«, fuhr sie fort. »Mit der Ausrüstung dieses romantischen Wohnmobils kommen wir sowieso nicht weiter. Ich habe die Ergebnisse der Analyse an die MARQUIS DE LAPLACE geschickt. Vielleicht fällt Rogers ja was dazu ein.«

»Wenn er nichts anderes zu tun hat«, brummte ich.

Das Mutterschiff lag nach astronomischen Gesichtspunkten einen Katzensprung entfernt in einer Parkbahn, wo es überholt und für die nächste interstellare Mission vorbereitet wurde. Ich konnte mir vorstellen, dass der oberste Planetologe genug um die Ohren hatte, bis er die Materiallisten für die anstehende Expedition, die von Laborkitteln und einfachen Reagenzien bis hin zu wissenschaftlichen Drohnen, hochspezifizierten Satelliten, die die MARQUIS DE LAPLACE in neu zu erkundenden Systemen absetzte, und dem schweren Gerät für die Einsätze der Enthymesis-Explorer reichten, abgearbeitet hatte.

»Deinen Entdeckergeist hast du wohl völlig auf Urlaub geschickt«, nörgelte Jennifer, und ich stellte wieder fest, dass ihr nichts besser stand als ein süßer Schmollmund.

»Ich bin hier in Urlaub«, stellte ich fest. »Meinen Entdeckergeist habe ich auf dem Schiff gelassen, im stand by.«

Sie schnipste mit den Fingern durch die Luft, warf ihren gravimetrischen Sessel herum und beugte sich über die Konsole.

»Gutes Stichwort«, murmelte sie, während sie die Anzeigen studierte und hier und da kleine Korrekturen vornahm.

Das Shuttle schwebte antriebslos, von der Automatik überwacht, im freien Raum. Wir hatten die Hälfte der Strecke von Musan nach Sin Pur zurückgelegt, so dass die beiden Planeten in gleichen Abständen vor und hinter uns im Kosmos hingen, beide als deutliche Kugelkörper. Der Abstand zwischen den beiden Welten betrug nur 0.07 Astronomische Einheiten. Eine lächerliche Entfernung, die wir selbst mit dem kleinen Shuttle in wenigen Minuten hätten hinter uns bringen können, wenn wir auf Große Fahrt gegangen wären. Aber wir hatten es ja nicht eilig. Die beiden Planeten bildeten ein Zwillingssystem, in dem sie einander in einem Abstand von rund 1 000 000 Kilometern umkreisten. Streng genommen hätte man das etwas kleinere Musan auch als den Mond Sin Purs ansprechen können, aber da beide Weltkörper annähernd gleich groß waren und da sie zudem beide eine Atmosphäre und eine dünne Besiedlung aufwiesen, wurden sie als gleichberechtigte Zwillingsplaneten in den Karten der Union geführt. Allerdings hätte der Kontrast zwischen diesen beiden Welten kaum größer sein können. Dem kargen lebensfeindlichen Gebirgsplaneten Musan stand in Sin Pur eine tropische Wasserwelt gegenüber, auf der es keine Kontinente gab und selbst an den Polen gemäßigte Temperaturen herrschten. Entlang des Äquators war eine Perlenschnur winziger Atolle in den warmen türkisfarbenen Ozean gesprenkelt, die seit einigen Jahrzehnten verstärkt als Erholungsparadiese entdeckt und auch von den Schiffen der interstellaren Flotte gerne angeflogen wurden, um ihren Mannschaften Entspannung und Abwechslung zu bieten. Selbst das größte dieser Eilande hatte künstlich aufgeschüttet und stabilisiert werden müssen, um Pura City, die Hauptstadt des kleinen Reiches, und den Raumhafen dieser Welt tragen zu können.

Dort hatte man uns mittlerweile längst auf den Schirmen, ein Leitstrahl war auf die Automatik unseres Shuttles geschaltet worden, der uns nun langsam in eine parabelförmige Umlaufbahn und schließlich in den Landeanflug dirigieren würde. Jennifer blieb wenig mehr zu tun, als diese Vorgänge zu überwachen. Allmählich wurde der Wasserplanet, der als feine blaue Sichel am Himmel über Musan gestanden hatte, zum beherrschenden Objekt. Indem das Shuttle seitlich wegsackte und kurz die Backborddüsen zündete, drehte Sin Pur uns die Tagseite entgegen. Nichts als Wasser. Ein einziges zusammenhängendes Meer, das tiefblau und glänzend im Licht der weißen Sonne des Systems dalag. Die tropischen Wolkentürme, die hoch über den winzigen Atollen dahinzogen, schienen aus dieser Perspektive unmittelbar auf der Haut des Ozeans zu kleben, dessen riesige Flächen von Windsystemen gekräuselt wurden. Wir sahen deutlich die symmetrischen Federbäusche von Passat und Antipassat, die sich in der tropischen Konversion über dem Äquator vereinigten und die meisten der silbrig schimmernden Korallenriffe verdeckten. An den Polen nahm das Meer einen stumpferen Farbton an, während es in den niedrigen Breiten von einer Tiefe und Reinheit zu sein schien, dass man sich unwillkürlich danach sehnte, sich schon aus dieser Höhe hineinzustürzen.

»Sieht schön aus, nicht?«

Ich konnte den Blick nicht von dem einladenden Panorama abwenden. Erst als Jennifer nicht antwortete, sah ich zu ihr hinüber. Sie hatte gedankenverloren den Zylinder, in dem schwarzes Pulver Flocken und Klumpen bildete, auf der flachen Hand gerollt. Jetzt ließ sie ihn schuldbewusst in ihrer Hemdtasche verschwinden und lächelte mich zerstreut an.

 

Der Andrang war gewaltig. Obwohl Pura nicht nur an wenigen Vormittagsstunden sondern rund um die Uhr angeflogen werden konnte, herrschte ein noch viel größeres Chaos als am Raumhafen von Feba City. Im Minutentakt gingen große Schiffe nieder, während auf zahllosen anderen Schneisen kleinere Objekte wie unser Shuttle zu ihren Landepositionen gelotst wurden. Viele Millionen Besucher kamen Jahr für Jahr, um, verteilt auf zehntausende winziger Inseln, die tahitischen Annehmlichkeiten dieser klimatisch so begünstigten Welt zu genießen. Dass es hier sonst wenig zu tun oder zu sehen gab, keine großen Städte, keine Landschaften, keine Kulturdenkmäler, schien der Attraktivität Sin Purs keinen Abbruch zu tun, im Gegenteil. Die Erholungssuchenden, die hierher kamen, wollten alles, aber kein Sightseeing. Im Grunde, besagte ein Puranisches Sprichwort, ist es hier wirklich angenehm; es gibt nichts, was stört. Tatsächlich gab es nur die weißstrahlende Sonne, die allabendlich zu spektakulären Untergängen ansetzte, den tropisch warmen Ozean und die ungezählten Koralleninseln, von denen die meisten eben groß genug waren, um einen Bungalow und zwei davor aufgestellte Liegestühle zu tragen. Ein Paradies für honeymooners, und ein Werbespruch lautete auch darauf, dass auf keiner anderen Welt des Bekannten Universums so viel Liebe gemacht wurde wie hier.

Ein Robocar eskortierte uns zu einem der Hangars, die in kilometerlanger Flucht das Start- und Landefeld flankierten. Wir versorgten das Shuttle und nahmen unser Gepäck auf. Hier würden wir noch weniger benötigen als auf Musan. Dann sahen wir uns um. Das Robocar war längst verschwunden. In ununterbrochener Folge senkten sich große Maschinen auf das Hafengelände herab, während zahllose? anderer Fahrzeuge, Gleiter, Shuttles und Drohnen den Luftraum und die Asphaltbahnen bevölkerten. Lärm und Gestank waren betäubend. Niemand kam, um uns abzuholen. Die Hitze ließ das Atmen schwer werden. Ich hatte nur noch einen einzigen Wunsch: so bald wie möglich an das offene Wasser zu kommen. Nachdem weiterhin nichts geschah, bestiegen wir einen der personenbefördernden Robocars und ließen uns zum Hauptportal des Raumhafens bringen. Wir betraten die riesige Halle, in der zehntausende von Gästen zwischen ebenso vielen Bediensteten und Angestellten, vom Frachterkapitän bis zum Schuhputzerjungen, durcheinanderwuselten. Durchsagen in Dutzenden Sprachen verwandelten die stickige Luft in ein Inferno. Nach einer Weile fanden wir den Schalter von Scubex, der Agentur, bei der wir unseren Aufenthalt gebucht hatten. Ein schweißglänzender Mann fläzte sich auf einem fleckigen nichtgravimetrischen Stuhl. Ein speckiges Namensschild, das an seiner Jacke klebte, bezeichnete ihn als Ay Nkula. Dem schütteren, ölig schimmernden Haar und den kleinen, weit auseinanderliegenden Augen nach war er ein Laya. Die Layas bezeichneten sich selbst als die Ureinwohner Sin Purs, was bei einer Welt, die mehrere Parsec von der Erde entfernt war, nicht viel mehr besagte, als dass sie einige Jahre vor den ersten offiziellen Kolonisatoren der Union da gewesen waren. Ich bemühte mich, ohne rechten Erfolg, die Vorurteile zu unterdrücken, die über die Layas im Schwange waren, und spürte, wie Jenny ebenfalls verkrampfte. Sie nahm eine Körperhaltung ein, die im Prana-Yoga »Auf alles gefasst sein« heißt.

»Sie sind schon da?«, nuschelte der Scubex-Assistent, als wir unsere Chipkarten auf den Tresen knallten.

»Seit zwei Stunden«, sagte Jennifer. Ihre Stimme war so kalt, dass sie den gesamten tropischen Ozean des Planeten in einen Eisblock hätte verwandeln können.

Der Laya glotzte sie nur gelangweilt an und tippte träge unsere Kennung in seine abgegriffene Konsole.

»Der Flug war sehr angenehm«, setzte sie noch hinzu, »danke der Nachfrage.«

Keine Reaktion.

Mir fiel auf, dass das Eingabefeld, an dem der Laya sich abmühte, als müsse er bei jedem Tastendruck zentnerschwere Gegengewichte überwinden, so speckig und abgeschliffen war, dass man die Zeichen der einzelnen Tasten nicht mehr erkennen konnte. Der Schweiß rann mir aus allen Poren und verwandelte meinen Körper samt Kleidung in einen schleimigen Cocon, in dem ich umherglitschte wie eine Paraschnecke in ihrem Nest. Die Luft war so staubig, dass ich mich schon nach den klaren Frostnächten von Musan zurücksehnte, in denen ich umgekehrt voller Ungeduld zur blauen Sichel Sin Purs aufgesehen hatte.

»Mr. und Mrs. Norton?«, fragte Nkula nuschelnd, ohne von seiner Konsole aufzusehen.

Wir bejahten. Es ging lediglich darum, unsere Identität klarzustellen. Zwar hatte Jennifer offiziell ihren Geburtsnamen behalten, wir hatten aber beschlossen, uns unter gemeinsamem Namen bei der Agentur anzumelden, um jegliches Aufsehen zu vermeiden. Sin Pur war für die ausufernde Prostitution bekannt, von der der Planet im wesentlichen lebte, und wenn wir unter verschiedenen Namen eingecheckt hätten, hätte das automatisch bedeutet, dass wir ein Freier mit seiner käuflichen Begleitung und kein Ehepaar waren.

Irgendwann schien der Laya beschlossen zu haben, dass wir jetzt eingecheckt waren. Er kam hinter seinem Schalter hervor, baute sich vor uns auf und streckte die Hand aus. Wir weigerten uns beide, sie zu schütteln. Trotzdem blieb sie vor uns schweben.

»Wir haben nicht viel Gepäck«, sagte Jennifer irgendwann, als die Situation peinlich zu werden begann. »Das tragen wir gerne selber.«

»Ich werde Sie jetzt zu Ihrem Bungalow bringen«, erwiderte der Mann und hob uns die Hand nachdrücklich unter die Nase.

Jetzt begriff ich erst, worauf er hinauswollte. Jennifer war mir einen Sekundenbruchteil voraus. »Das schaffen wir schon so«, knurrte sie. »Geben Sie uns einfach den Kennchip.«

Der Laya ließ die Hand langsam sinken. Seine Augen funkelten drohend.

»Das ist leider nicht möglich«, zischelte er in seiner undeutlichen Aussprache, die klang, als bearbeite er ständig irgendwelche Fischgräten mit den Zähnen. »Ich muss Sie persönlich zu Ihrer Unterkunft führen.«

»Bemühen Sie sich nicht«, stieß Jennifer hervor.

Mit einer blitzschnellen Bewegung schnappte sie sich den Chip vom Tresen und warf sich dann so abrupt herum, dass der Laya unwillkürlich zurückweichen musste, um nicht von ihrem Rucksack an die Wand geschleudert zu werden. Mit knallenden Schritten ging sie zum Ausgang. Der Laya schluckte einen Fluch in einer unverständlichen Sprache herunter. Als er ihr nachsetzen wollte, hielt ich ihn an der Schulter fest und schob ihn zur Seite.

»Das würde ich nicht tun«, sagte ich freundlich. »Sie ist eine Prana-Bindu-Meisterin.«

Damit drückte ich ihn aus dem Weg und folgte Jennifer. Diese Flitterwochen fingen an, mir richtig Spaß zu machen. Vor der Abfertigungshalle des Raumhafens fanden wir uns mitten im quirligen Zentrum von Pura City wieder. An einer automatischen Verleihstation mieteten wir einen zweisitzigen Amphigleiter. Wir gaben die Kennung unseres Bungalows ein und schossen mitten durch den Nachmittagsrush der brodelnden Metropole davon. Nach wenigen Minuten erreichten wir eine Ausfallstraße, die zum Meer hinunterführte. Eine flache Rampe katapultierte uns über das Wasser. In irrwitziger Geschwindigkeit, durch ein Generatorfeld vor der Gischt und dem Fahrtwind geschützt, jagten wir über die türkisfarbenen Wellen, die sich, sowie wir die Brandung hinter uns gelassen hatten, in gleichmäßiger Dünung hoben und senkten. Bald hatten wir das kleine Eiland und den Bungalow erreicht, den wir für die kommenden acht Tage reserviert hatten. Die nierenförmige Insel maß kaum mehr als dreißig Meter im Durchmesser. Eine Gruppe von Seepalmen spendete etwas Schatten. Vom Bungalow führte ein Steg direkt ans Wasser. Wir befanden uns hier noch auf dem Hauptatoll. Pura City mit seinen Wolkenkratzern, Bürotürmen und den Towern des Raumhafens war gerade noch am Horizont zu erkennen. Wir parkten den Gleiter in der dafür vorgesehenen Bucht. Mit der Karte schlossen wir den Bungalow auf und warfen unser Gepäck hinein. Dann rissen wir uns die Kleider vom Leib und stürzten uns in das weiche, warme, jadegrüne Wasser.

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