Loe raamatut: «Erstflug»

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Matthias Falke

Erstflug

© 2016 Begedia Verlag

© 2015 Matthias Falke

Umschlagbild – Alexander Preuss

Lektorat, Satz und ebook-Bearbeitung – Harald Giersche

ISBN-13 – 978-3-95777-091-2 (epub)

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Das ENTHYMESIS-Universum

Eine Science-Fiction-Saga in sieben Trilogien

1. Laertes

-Erstflug

-Persephone

- Lombok

2. Exploration

3. Gaugamela

4. Zthronmic

5. Tloxi

6. Jin-Xing

7. Rongphu

Kapitel 1. Der Brief

Immer am Zaun entlang. Einmal um den ganzen Komplex. Einmal um den Gulag. Das half zwar auch nichts. Man musste ja doch wieder hinein. Aber man wusste dann wenigstens, dass es ein Außerhalb gab.

Immer dem Zaun nach. Genau genommen waren es sogar drei: ein elektrischer, ein Stacheldraht, ein normaler, von außen nach innen. Außerdem die Kameras, die Infrarotsensoren und Bewegungsmelder, die Selbstschussanlagen. Die Fabrik war gesichert wie die nationalen Goldreserven. Oder wie ein KZ, letzteres in umgekehrter Richtung. Aber das spielte keine Rolle. Undurchdringlich war undurchdringlich. Wer drin war, kam nicht raus, wer draußen war, kam nicht hinein. Die Pforte öffnete sich nur dem Eingeweihten.

Er gehörte dazu. Er war zugelassen. Was früher das Brandzeichen, die Ziffernfolge auf dem Unterarm, war jetzt der implantierte Chip, in etwa an derselben Stelle, dicht beim linken Handgelenk. Das war der Türöffner. Damit kam man hinein.

Und jetzt knisterte der Brief in seiner Tasche. Damit würde er wieder hinaus kommen.

Sie hatten tatsächlich einen physischen Brief geschickt. Per Einschreiben. Er musste auf drei verschiedenen Pads quittieren. Ein wattierter Umschlag. Das Wappen der Union und das Logo der Mission. Er musste ihn nicht öffnen, um zu wissen, was darin stand. Er hatte damit gerechnet. Er hatte lange darauf gewartet. Der Brief war überfällig, sie hatten sich Zeit gelassen! Aber jetzt war er da. Endlich!

Einmal um das Gelände, immer am Zaun entlang. Er wusste nun auch, welcher Tag es war, den er nie wieder vergessen würde. Dieser! Der hohe wolkenlose Himmel. Ringsum die gelben erntereifen Wiesen und Felder. Die Hummeln und Bienen über den Ähren, der Mohn und die Kornblumen zwischen den Halmen, die ergeben auf den Schnitt warteten. In der Ferne das mondblaue Gebirge. Sein Kamm bezeichnete genau die Wasserscheide. Ein Regentropfen, der auf dieser Seite fiel, strömte durch diesen Bach in diesen Fluss und weiter in dieses Meer. Einer auf der anderen Seite, und wenn es nur eine Handbreit war, in einen anderen Bach, einen anderen Fluss, ein anderes Meer. Erst im Ozean wären sie wieder vereint. Der Ozean war der Tod. Dort konnten sie nur auf die Wiedergeburt in Form einer Gewitterwolke hoffen.

September. Nachsommer. Es war noch immer heiß. Aber die Tage wurden kürzer, die Nächte waren schon empfindlich kalt. Alles neigte sich, alles ging hinüber.

Einmal außenrum dauerte dreißig Minuten. Eine Mittagspause. Aber man konnte den Gang auch während der Kaffeepause wagen. Sie waren keine Angestellten, die nach der Uhr arbeiteten. Keiner von ihnen konnte nach acht Stunden nach Hause gehen. Was sie an Freiheit im Großen entbehrten, das genossen sie im Kleinen. Sie konnten aufstehen und einmal um den Block laufen, einfach so, während der ›Arbeitszeit‹. Kein Hahn krähte danach. Der Aufsicht war es vollkommen egal. Auch die Aufsicht war lax, wie alles hier. Dass sie Gefangene waren, Sklaven, Geiseln, hatten sie sich selber zuzuschreiben. Sie waren Galeerensklaven, die sich selber angekettet hatten. PoW’s in einem Krieg, in dem keine Gefangenen gemacht wurden. Ihre Ketten, das war ihre eigene Begeisterung, das Fieber, in dem sie für ihre Sache brannten. Die Sache aber, um die dieser Krieg geführt wurde, das war der Gegenstand, der hier in höchster Abgelegenheit herangezüchtet wurde. Das Produkt dieser Fabrik.

Parallel zum Zaun, an seiner Außenseite, verlief ein zehn Meter breiter Streifen kurz gemähter Wiese. Dann kamen die Felder, die sich nach allen Seiten dehnten. Der nächste Hof, das nächste kleine Dorf war eine Stunde entfernt, ein paar Minuten mit dem Scooter, aber hier hatte niemand einen Scooter. Zu weit, als dass man hätte rufen können. Hinlaufen war gänzlich aussichtslos. Man wäre aufgegriffen worden, ehe man die Hälfte der Strecke überwunden hatte. Im übrigen hatte niemand die Absicht zu fliehen.

Er war einer der wenigen, der einmal am Tag nach draußen ging, um frische Luft zu schnappen. Um sich zu vergewissern, dass es das Draußen noch gab. Ein paar seiner Kollegen traten ab und zu vor die Pforte, um zu rauchen. Manche reagierten ihren Frust in lauten Schreien ab, die ungehört über den Getreidefeldern verhallten. Die meisten waren voller Unverständnis für dieses Bedürfnis, der Arbeit auch nur fünf Minuten den Rücken zu kehren. Freiwillig!

Sie hockten krummgeschlossen vor ihren Konsolen, nuschelten in ihre Headsets, fingerten sich zitternd und mit schielenden Augen, als stünden sie unter Drogen, durch die holografischen Displays. Vielleicht nahmen sie wirklich etwas ein. Zumindest Psychopharmaka waren weitverbreitet, aber auch Schlimmeres. Abends mussten die Wärter sie ermahnen, die Ruheräume aufzusuchen. Zwölf Stunden, in Ausnahmefällen vierzehn Stunden, das war das Maximum. Mehr duldete die Leitung nicht. Man wollte die Leute, die besten ihrer Art auf diesem Planeten, nicht vorschnell verschleißen. Man brauchte sie noch. Das Produkt war nicht fertig. Jedenfalls noch nicht marktreif. Es würde auch noch eine Weile dauern.

Einmal am Zaun entlang, die Sonne auf dem Scheitel spüren. Den Wind in den Ähren hören, das Summen der Insekten. Würde er Sehnsucht danach haben? Würde er sich danach verzehren?

Der Brief brannte in seiner Jackentasche. Das war der Schlüssel. Jetzt würde er die andere Seite kennen lernen. Er würde erfahren, ob sich all die irrsinnige Arbeit gelohnt hatte. Sechs Jahre seines Lebens steckten in dem Projekt. Sechs Jahre in diesem Komplex, der sich nur wenig von einem Gefangenenlager unterschied. Sechs Jahre Einsamkeit. Abends eine Stunde per Videostream, alle paar Monate ein Wochenende. Er war frei, er konnte über seine Zeit verfügen! Dann trafen sie sich in irgendeiner Stadt. London, Rom, Sidney, Doha. Aßen zu Abend in sündhaft teuren Restaurants. Geld spielte nicht die geringste Rolle. Verbrachten Nächte in den ausgesuchtesten Hotels, die so perfekt und austauschbar waren, dass er am Morgen nicht wusste, in welcher Stadt, auf welchem Kontinent sie diesmal abgestiegen waren. Die Welt war klein geworden. Manche behaupteten: zu klein!

Was würde sie dazu sagen? Er schob den Gedanken von sich. Es würde sich alles irgendwie ergeben.

Sonderbarerweise gab es genau auf der Rückseite des Komplexes auch ein Firmenschild. Es wies grell in die menschenleere Weite dieser Felder, die in ein paar Tagen nur noch Stroh und Stoppeln sein würden. Nachts wurde es sogar angestrahlt. Er war eigens einmal spät, nach Schichtende, herausgekommen und hatte seinen täglichen Gang nicht mittags, sondern in der blauen Stunde absolviert, um das zu sehen. Und tatsächlich: das riesenhafte Schild, leuchtend und flimmernd, schrie seine Botschaft den Mücken und Nachtfaltern entgegen. Sonst war niemand da. Oder gab es einen Gott, der alles sah? War die Firmenleitung so vermessen, auch ihn beeindrucken zu wollen?

Die Besucher waren beeindruckt. Nicht von dem Schild, aber von der Fabrik. Ihre Delegationen kamen ohne Unterlass, an manchen Tagen dicht und unaufhörlich wie die Touristengruppen in einem Freizeitpark. Dann wurde einer von ihnen abgestellt, die Standardführung und die offizielle Präsentation zu begleiten, auch wenn es dafür eigentlich die Frauen von der PR-Abteilung gab. Es machte mehr her, fand die Geschäftsführung, es war etwas anderes, wenn einer der Ingenieure mit den interessierten Gästen sprach. Sie alle hassten diesen Job. Er kostete Zeit, die man anschließend wieder hereinholen musste. Eine Stunde mindestens, um die man abends die Konsole später herunterfahren konnte. Außerdem waren sie alle introvertiert. Eigenbrötler. Workaholics. Sie wollten ihre Arbeit machen und um Himmels Willen nicht gestört werden. Die meisten waren faktische Autisten, manche auch tatsächliche. Sie waren Einzelkämpfer in einer Legebatterie des Geistes, in der es nur um eines ging: die Hervorbringung des Produkts. Wenn die Besucher kamen und sie an der Reihe waren, nuschelten sie ihren Text herunter, klickten sich viel zu schnell durch die immergleiche Präsentation und verabschiedeten sich dann, die Herren und Damen internationaler Großkonzerne den Hostessen überlassend, die mit Sekt und Canapées bereitstanden.

Er hatte die Runde geschlossen, sog noch einmal die würzige Luft dieses Tages ein, von dem er wusste, dass er in seinem Gedächtnis nun ein für allemal einrasten und stehen bleiben würde, und ging dann durch die Pforte. Der Türöffner reagierte auf den Chip in seinem Handgelenk. Der menschliche Wachmann salutierte und nickte ihm freundlich zu. Er mochte ihn. Manchmal tranken sie abends ein Bier zusammen an der kleinen Bar unten im Freizeitkeller. Auch die beiden Türsteher-Droiden sonderten ihre simplen Sprüche ab. Es waren Jahrmarktroboter, billige Blechgehäuse mit primitiver Personenerkennung und ein paar einfachen Protokollfunktionen. Die Geschäftsführung liebte sie, und die Gäste ließen sich bereitwillig davor fotografieren. Als Ausweis der Expertise, die in diesem Gebäudekomplex versammelt war, waren die Dinger eigentlich eher kontraproduktiv. Sie hatten die Leitung immer wieder einmal darauf aufmerksam gemacht. Aber es hatte nichts gefruchtet. Das Management hatte seine eigenen Vorstellungen und wich von ihnen nicht ein Jota ab.

Manchmal fragte er sich, ob die Oberen überhaupt eine Vorstellung davon hatten, was sie herstellten, an was sie arbeiteten. Konnten diese Herren in den teuren Anzügen und die Damen in den schicken Kostümen begreifen, was für einer Unternehmung sie vorstanden? Es ging nicht um die Details. Die verstanden sie sogar untereinander nur zum kleinsten Teil. Es ging um das Grundsätzliche. Ihm schwindelte ab und zu, wenn er ein wenig Abstand nahm, beim Gang am Zaun entlang oder abends an der Bar. Es hatte Momente gegeben, da es ihm unheimlich geworden war. Und spät nachts, nicht nach dem ersten Bier, aber vielleicht nach dem dritten oder fünften (und noch ein paar Tequila dazu!), hatte auch der eine oder andere Kollege ihm gestanden, dass er diese Empfindungen kenne und teile. Den Oberen war das ganz gleichgültig. Für sie war es nur ein Produkt. Das wollten sie verkaufen. Sie verkauften es umso eifriger, als es noch nicht fertig war und kein Mensch wissen konnte, ob es jemals fertig werden würde. Ob es überhaupt und prinzipiell möglich war! Natürlich gab es Abfallprodukte, Vorprodukte, Teilprodukte. Sie spielten Milliarden ein. Aber das war nicht das, worum es hier eigentlich ging.

Er kehrte an seinen Platz zurück und warf den ungeöffneten Brief achtlos auf seine Arbeitsfläche.

Die Kollegen waren natürlich neugierig geworden. Schon der Auftritt des Zustellers in der Uniform des staatlichen Postdienstes! Und dann das pompöse Ritual des dreimaligen Abzeichnens! Sein Unterarm war gescannt worden, um seine Identität zweifelsfrei sicherzustellen. Jetzt steckten sie die Köpfe durch die schallschluckenden Zwischenwände aus künstlich komprimierter Luft und glotzten ihn fragend an.

»Was ist das?«, brachte einer hervor.

Er grinste, nahm den Umschlag wieder von der auf Stand By verharrenden Konsole, wedelte durch die Luft damit und ließ ihn in seiner Umhängetasche verschwinden.

»Meine Kündigung«, sagte er dann.

Den Rest des Tages ließen sie ihn in Ruhe. Sie kannten ihn gut genug, um zu wissen, dass sie nichts aus ihm herausbekommen würden. Der eine oder andere mochte für sich zwei und zwei zusammenzählen.

Er konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit. Jetzt nur keine Panik aufkommen lassen! Nicht anfangen zu grübeln und sich in den Konsequenzen verzetteln, die das nach sich ziehen würde. Alles würde sich fügen. Im Lauf des Nachmittags kam er wieder in einen solchen Flow, dass er den Brief vollkommen vergaß. Am Abend erinnerten ihn die Blicke der Kollegen, an deren Spalier er sich zu den Unterkünften kämpfen musste, dass etwas geschehen war. Er ignorierte es nach Kräften, passierte die hintere Sicherheitsschleuse, die den Hochsicherheitstrakt des eigentlichen Arbeitsbereichs vom Rest des riesigen Gebäudekomplexes trennte, und stieg ins Basement hinunter, wo die Zimmer und die Freizeiteinrichtungen waren.

Die Oberen wohnten außerhalb, in den umliegenden Dörfern, wo die Firma ihnen Appartements angemietet oder Häuser gekauft hatte. Sie fuhren abends mit ihren Scootern dort hinaus oder wurden von ihren Chauffeuren abgeholt. Die Freizeit verbrachten sie mit ihren Frauen und Kindern auf ihren Anwesen mit grünen Vorgärten und blauen Pools.

Die Programmierer wohnten in der Fabrik. Die Treppe hinunter gab es ein weitverzweigtes Labyrinth von Unterkünften, Sport- und Fitnessräumen, Kinos und Bars. Man konnte schwimmen gehen, auf der Trainingsmaschine ein paar Kilometer laufen oder sich massieren lassen. Nach der schweren geistigen Arbeit des Tages wäre das sogar vernünftig gewesen. Aber den meisten stand der Sinn nicht nach derartigen Zerstreuungen. Sie gingen nach der Schicht direkt in einen der Vorführsäle und ließen sich das neueste Holo-Spektakel präsentieren, um anschließend an einer der Bars über die Spezialeffekte zu fachsimpeln, oder sie hingen in einer der Lounges ab, wo Musik dröhnte und auf den Bildschirmen Sexvideos und Sportübertragungen liefen.

Er ging, wie jeden Tag, zuerst auf sein Zimmer. Ein schmaler fensterloser Raum mit einem Bett, einem Tisch und einem Spind sowie einem eigenen Bad. Er duschte und legte sich dann eine Stunde flach auf seine selbstjustierende Matratze, die die Verspannungen in seinem Nacken und seinen Schultern registrierte und durch Vibrationen aufzulockern versuchte. Dabei hörte er leise klassische Musik.

Er öffnete den Brief, in dem nichts stand, das er nicht erwartet hatte. Allenfalls wunderte ihn der lakonische Ton. Es waren wirklich nur drei Sätze. Und immer noch fragte er sich, warum es so lange gedauert hatte!

Dann ging er hinüber in seine Lieblingsbar. Er schwang sich auf den Hocker und lehnte sich über die Theke. Das Mädchen stellte unaufgefordert ein Bier vor ihn.

»Hawaii oder Mexikana?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf zum Zeichen, dass ihm das egal war.

»Dann gibt’s Hawaii«, erklärte sie. »Mexikana hab’ ich sowieso nicht da.«

»Wieso fragst du dann?«, gab er zurück. Schlagartig spürte er, wie müde und ausgebrannt er war. Das Sprechen strengte ihn an.

»Um dich zu ärgern«, sagte sie. »Ich weiß doch, dass du dich nicht gern entscheidest.« Und sie äffte ihn nach, der schlaff und groggy über der Theke hing und etwas vor sich hinnuschelte, das klang wie: »Miregal, macheinfachirgnwas!«

»So schlimm?« Er musste schmunzeln. Das kalte Bier tat gut. Es klärte seinen Kopf, der von zu vielen Dingen voll war. Der Alkohol entspannte augenblicklich und hob seine Stimmung.

Sie zwinkerte ihm zu und kümmerte sich dann um die Mikrowelle, die den Fraß für ihn aufwärmte.

Trixi arbeitete tagsüber oben als Hostess. Sie begleitete die Besuchergruppen, reichte ihnen Häppchen und ließ sich von den Männern in den Ausschnitt kucken. Da sie im Komplex wohnte, besserte sie ihr karges Salär damit auf, dass sie abends noch an einer der kleinen Bars bediente. Sie war ja sowieso da. Sie war hübsch. Klein und zierlich. Spielte die Rolle des schnippischen Dummchens gerade so gut, um für die desinteressierten Programmierer überzeugend zu wirken. Es hieß, dass sie hin und wieder mit dem einen oder anderen ins Bett ging. Sie nahm Geld dafür, aber ihr Tarif richtete sich danach, wie sympathisch ihr jemand war. Umsonst machte sie es nie, schon aus Prinzip.

Natürlich hieß sie nicht Trixi. Das war ihr Künstlername. Wie ja auch die KI-Spezialisten ihre eigenen Nicknames hatten, unter denen sie ihre Programme schrieben.

»Ich höre, du hast Post bekommen, Laertes?!«

Sie betonte das Wort, als könne nichts anderes als eine Unanständigkeit dahinter stecken.

»Einen Brief?«

»Und wenn schon«, grinste er.

Er mochte sie. Irgendwie, bildete er sich ein, schäkerte sie anders mit ihm als mit den anderen. Vermutlich lag es daran, dass er sie nie gefragt hatte. Sie hatte es auch nie darauf angelegt. Sie wusste, dass er vergeben war.

»Ich habe noch nie einen Brief bekommen«, sagte sie mit künstlichem Schmollen.

Inzwischen waren die Kollegen aufmerksam geworden, die rechts und links von ihm abhingen. Sie unterbrachen ihre Unterhaltungen, die ausnahmslos kryptische Fachgespräche waren, und wandten sich zu ihm um.

Trixi hatte diesen Effekt beabsichtigt. Sie weidete sich an ihrem Erfolg. Als sämtliche Augenpaare in der kleinen Bar sich auf Laertes gerichtet hatten, drehte sie sogar die Musik leiser, um zu der Frage auszuholen:

»Was stand denn drin?«

Er schob ihr sein Glas hin, das er durstig geleert hatte. Aber sie ließ sich nicht ablenken. Obwohl es ihm sonst unangenehm war, im Mittelpunkt zu stehen, sonnte er sich für einen Moment in der ungewohnten Aufmerksamkeit, die ihm zuteil geworden war. Dann hob er die Schultern zu einer Geste herablassender Gleichgültigkeit und sagte:

»Die MARQUIS DE LAPLACE.«

Er ließ das einige Sekunden wirken.

»Ich bin nachgerückt.«

Den Kollegen klappten die Kiefer runter. Der eine oder andere musste einen Augenblick des Neides niederkämpfen, das entging ihm nicht. Dann überwog aber doch die kameradschaftliche Freude. Trixi gingen beinahe die Augen über.

»Die MARQUIS DE LAPLACE«, schrie sie. »Aber das ist ja Wahnsinn.«

Sofort kehrte die Musik zu ihrer alten Lautstärke zurück.

»Das müssen wir feiern!«

Bevor er etwas hätte sagen können, erschienen einen Flasche Tequila und ein Planetensystem leerer Gläser vor ihm auf der Theke.

»Dann feiern wir«, sagte er ergeben.

Trixi war schon dabei, die Gläser einzuschenken.

Am nächsten Morgen hatte er einen Brummschädel. Er hasste Tequila! Das Zeug verschmierte einem das Gehirn. An vernünftige Arbeit war ohnehin nicht zu denken. Er ging zum Leiter seiner Arbeitsgruppe.

Jones schaute ihn freudlos an.

»Hab schon gehört.« Er kaute die Worte mit breiten Backen klein, als bestünden sie aus zäh gewordenem Fleisch. »Glückwunsch!«

Laertes dankte wortlos.

»Natürlich sind wir stolz«, fuhr Jones mit vollkommen unmodulierter Stimme fort. »Aber es fällt mir sehr schwer, meinen besten Mann ziehen zu lassen.«

»Ihr müsst mich freistellen«, sagte Laertes. »Gesetz der Union vom 1. Januar ...«

»Lassen wir das.« Jones musterte ihn. »Ich weiß, dass du das jetzt nicht falsch verstehst, wenn ich bemerke, dass es eigentlich eine Schweinerei ist.«

Er ließ ihn reden, erwiderte aber nichts.

»Wir haben dich ausgebildet. Wir haben dich sechs Jahre lang in diesem Projekt gehabt.«

»Die Universität von Kalifornien hat mich ausgebildet«, wandte Laertes ein.

»Du weißt, wie ich’s meine«, knurrte Jones. »Wenn ihr von der Uni kommt, seid ihr Rohdiamanten, mit denen man erst einmal gar nichts anfangen kann. Sechs Jahre Projektarbeit, vor allem an einem Projekt wie diesem. Dann seid ihr etwas wert!« Er betonte das letzte Wort hart und knarrend. »Wenn eine andere Firma käme und dich haben wollte, würde ich ein paar Millionen Ablöse einklagen.«

»Die MARQUIS DE LAPLACE ist ein staatliches Projekt«, sagte Laertes ruhig.

»Das ist ja die Scheiße«, schimpfte Jones. »Keine Ablöse, keine Entschädigung. Und wer soll jetzt deinen Job machen?«

»Es rennen tausende Programmierer da draußen rum, die mindestens so gut sind wie ich.«

»Wir wissen beide, dass das nicht stimmt.« Jones seufzte. »Nicht aus dem Stand. Sie brauchen Jahre, um sich einzuarbeiten. Jahre, um so gut zu werden wie du!«

»Ich habe starke Kopfschmerzen«, erklärte Laertes. »Eigentlich wollte ich nur ...«

»Du wolltest deinen Abschied einreichen. Ohne Kündigungsfrist, ohne Abfindung. Bumm!«

»Es tut mir leid, wirklich!«

»Schwätz kein dummes Zeug!« Jones wirkte für einen Augenblick beinahe versöhnlich. Er deutete auf Laertes’ dröhnenden Schädel. »Ihr habt gefeiert.«

»Ein bisschen.«

»Hat Trixi dir einen geblasen?«

»Nein.«

»Komm schon, mir kannst du es sagen.«

»Jones.«

»Okay, ich weiß. Du hast da draußen etwas besseres.«

»Bringen wirs einfach hinter uns«, bat Laertes.

»Du kriegst deine Papiere.« Jones nickte. Er begann auf seinem Display zu tippen und Formulare anzufordern.

»Im übrigen wirkt das auf euch zurück«, sagte Laertes noch. »Die ganze Publicity. Ihr könnt damit werben!«

Jones stöhnte genervt. Ob es an den Tücken des Systems lag, das die Dateien nicht so bereitstellte, wie er es wollte, oder an Laertes, musste sein Geheimnis bleiben.

»Komm mir nicht mit sowas!« Er überzeugte sich, dass die Datenverarbeitung lief, und widmete sich wieder seinem Gegenüber. »Es wäre gut, wenn wir eine Uni wären, ein Ausbildungsinstitut, eine Eliteschmiede, weißt du! Aber das sind wir nicht. Wir haben nichts davon, wenn die Leute weggehen. Selbst wenn die Konkurrenz dich gekauft hätte, für ein paar Millionen, hätten wir nichts davon, denn was du hier machst, ist unbezahlbar.« Er überflog die Zeugnisse, die auf seinem Schirm erschienen. »Ich sehe gerade, du hattest sogar eine UK-Klausel. Für alles Geld der Welt hätten wir dich nicht hergegeben.«

»Jetzt müsst ihr es umsonst tun.«

»Wir brauchen keine Publicity, nicht solche. In den Hauptnachrichten, in den Mainstreammedien in die Kamera lächeln. Dann ein Schwenk über die MARQUIS DE LAPLACE. Das ist nicht speziell genug. Das interessiert unsere Kunden nicht!«

Laertes sah ihn nur an. Das ist nicht mein Problem, sagte seine Miene.

»Wir brauchen dich hier«, sagte Jones. Er klang jetzt beinahe weinerlich. »Wir brauchen jemand, der die Arbeit macht. Diese gute, geniale, unfassbare Arbeit!«

»Ich werde dort das Gleiche machen«, erklärte Laertes. »Deshalb haben sie mich angeworben. Das Kleingedruckte habe ich noch nicht gelesen, aber bestimmt gibt es eine Klausel über den Technologietransfer.«

»Das ist alles Scheiße.« Jones winkte nicht einmal mehr ab.

»Im übrigen«, sagte Laertes noch, »komme ich ja wieder.«

Der Leiter seiner Arbeitsgruppe starrte ihn nur an. »Ich habe die Projektbeschreibung gelesen«, brummte er.

Die beiden Männer sahen sich eine Weile an. Sie hatten gut zusammen gearbeitet. Ein paar Mal hatten sie auch an der Bar miteinander getrunken. Nicht Laertes, den er deswegen verdächtigte, wohl aber Jones war mehr als einmal mit Trixi auf ihr Zimmer gegangen. Laertes mochte ihn, irgendwie. Im großen und ganzen hatte Jones sich ihm gegenüber fair und menschlich verhalten. Er war ein Mensch für ihn gewesen, kein Leistungserbringer wie die anderen Programmierer, die ihre Standardzahlen abliefern mussten wie Kühe ihre soundso vielen Liter Milch. Er versuchte, den Job und den Menschen auseinander zu halten. Das rechnete Laertes ihm an.

Jones gab den Transfer frei. Die Arbeitszeugnisse und die anderen Papiere wurden auf Laertes’ Handgelenksimplantat überspielt.

»Alles Gute«, sagte er tonlos.

Laertes sicherte die Dateien, nickte dem anderen noch einmal zu und ging.

Der Junge vom Fahrdienst wartete schon. Laertes warf seine Tasche in den Scooter. Viel war es nicht. Er hatte nie viel besessen. Ein paar Garnituren Wäsche. Ein paar Bücher. Den Rest konnte man nachkaufen oder synthetisieren. Die großen internationalen Hotels, in denen er abstieg, wenn er die Fabrik hin und wieder für ein paar Tage verließ, um sich mit Kathy zu treffen oder an einem Kongress teilzunehmen, waren mit den modernsten Einrichtungen dieser Art ausgestattet, die es sonst nur auf Raumschiffen gab.

»Einen Moment noch.« Er nickte dem Fahrer zu, der mit einem gleichgültigen Achselzucken reagierte.

Dann stand er vor dem Portal und sah es, wie er es noch nie gesehen hatte. Als einer, der weggeht. Sechs Jahre seines Lebens hatte er hier verbracht. Und es blieb ihm noch genügend Zeit. Er würde noch einmal herkommen können. Aber er wusste nicht wozu. Jones und die Kollegen, die Abende bei Trixi an der Bar. Es war nicht so, dass er das nicht vermissen würde. Aber er würde es verkraften. Es war zu verschmerzen. Wirklich zuhause gewesen war er hier eigentlich nie.

Er drehte sich um. Die schmale Asphaltbahn, die sich wie ein Feldweg in die wogende Weite der erntereifen Felder hinausschlängelte. In der Ferne waren automatische Mähdrescher im Einsatz. Sie zogen Wolken von Spreu hinter sich her wie riesige Schneepflüge. Ihre KIs waren primitiv. Sie hatten sich nach Feierabend einmal damit belustigt, sich die Programmierung anzusehen. Einer der Farmer hatte sie darum gebeten. Aber das Zeug war unsagbar lächerlich. Mit KI, wie sie sie verstanden, hatte es im Grunde nichts zu tun. Es waren Roboter, die selbständig ein ausgewiesenes Feld abernteten und dann mit ihrer Fracht zum Silo fuhren. Ein Dreijähriger hätte die Routinen dafür schreiben können. Einer von Laertes’ Kollegen passte auf die Schnelle ein paar seiner Standards ein und schickte das Ganze dem Besitzer zurück, der sich überschwänglich bedankte. Ein paar Tage später fuhr er vor und brachte einen Fresskorb für die ganze Arbeitsgruppe.

Anekdoten.

Er wusste, dass er viel Zeit haben würde, sie zu rekapitulieren. Ob jemand da sein würde, dem er sie erzählen konnte? Aber für wen würde das interessant sein?

Der junge Kerl mit dem Scooter wartete geduldig. Er wurde nach Einsätzen bezahlt. Solange kein weiterer Auftrag in der Warteschleife hing, konnte es ihm egal sein, ob er hier herumlungerte oder am anderen Ende seiner Strecke.

Laertes fiel auf, dass das Gebirge näher gerückt war. Es war klar. Jeder Grat, jeder Felszacken, jeder Geröllbrocken zeichnete sich ab, als sei das Firmengelände über Nacht etliche Kilometer nach Süden gewandert. Er wusste, dass es am Föhn lag – der wiederum für einen nicht unerheblichen Teil seiner Übelkeit verantwortlich war. Er schätzte das Verhältnis Tequila – Wetter auf etwa 60 zu 40.

Ein letzter Blick über die Fassade. Das große Schild: ARTIFICIAL INTELLIGENCE RESEARCH CENTER. Es klang großspurig. Aber wenn man es recht bedachte, war es sogar eine Untertreibung. Sie hatten nicht Intelligenz erforscht, sondern Bewusstsein erschaffen. Zumindest den aufgeweckteren seiner Kollegen war von einem bestimmten Punkt an klar gewesen, dass sie an einer Schwelle standen. Sie erschufen ein Wesen, das nicht nur menschliche Funktionen simulierte, eine Turing-Maschine, sondern das tatsächlich über ein Bewusstsein seiner selbst verfügte. Er hatte das in einem kleinen Artikel in einem Fachblatt angezeigt, noch ehe die letzten Hürden genommen waren. Sie waren es übrigens auch jetzt noch nicht. Es würde noch Jahre dauern. Es würde immer weitergehen. Aber der Artikel hatte sich seinen Weg durch die Institutionen gebahnt. Jetzt hatte er sich in eine Eintrittskarte verwandelt. In ein Flugticket. In ein historisches Dokument.

Er riss sich los und stieg in den Scooter.

»Wo soll’s denn hingehen?« Der Fahrer schnippte seine Qatlette auf den Vorplatz, wo sie qualmend liegen blieb. Wenn sie die Auffahrt freigegeben hatten, würde ein dackelgroßer Bot erscheinen und den Stummel verschwinden lassen. Auch so ein Lieblingsspielzeug der Geschäftsführung, die bis heute nicht begriffen zu haben schien, dass sie keine Bots programmierten, sondern an etwas arbeiteten, das eine völlig andere Qualität hatte!

»Ins Dorf«, sagte er nur. »Dort komme ich allein zurecht.«

»Ich kann sie auch in die Stadt fahren«, sagte der Junge. »Oder gleich zum Flughafen. Wie es aussieht, sind Sie heute meine einzige Fuhre.«

»Danke.« Laertes schmunzelte ob der Bezeichnung. »Erst einmal ins Dorf.«

»Sie haben es nicht eilig.« Der Scooter erwachte mit dem charakteristischen Geräusch anlaufender Feldgeneratoren zum Leben.

»Ich habe alle Zeit der Welt.« Sandte er nicht genügend Signale aus, die verkündeten, dass er nicht an Konversation interessiert war? KIRA, die künstliche Person, die er erschaffen hatte und mit der er seit mehreren Jahren arbeitete, würde es verstehen.

Der junge Mann ließ die Turbine aufheulen und jagte sie die einspurige unmarkierte Straße entlang, die sie bei diesem Tempo in wenigen Minuten zur nächsten kleinen Ortschaft führen würde.

Laertes hatte es wirklich nicht eilig. Am liebsten wäre er zu Fuß gegangen. Immer auf das Dorf mit seinen Silos und dem Kirchturm zu, während die Berge darüber immer klarer und höher wurden. Aber es hätte keinen guten Eindruck gemacht. Er hatte Anspruch auf einen Chauffeur.

»Hab schon gehört«, plauderte der Fahrer.

»Was denn?«

»Sie haben das große Los gezogen!« Er zwinkerte ihm zu, während er lässig mit einer Hand steuerte. Laertes riskierte einen Blick auf das Display: der Scooter war selbstfahrtauglich. Er hätte auch ohne den Schwätzer zum Dorf gefunden. Das hatte etwas mit dem Protokoll zu tun. Und so hatte man wieder einen Arbeitsplatz geschaffen. Die Region war strukturschwach. Von AIRC abgesehen, gab es hier nichts als Rinderzucht und Getreide. Und die KI-Fabrik rekrutierte ihren Nachwuchs nicht gerade aus den Farmern der Umgebung.

»Ist es das?«, fragte er nachdenklich.

»Ich denke schon.« Der Junge machte aus seiner Begeisterung kein Hehl. Dann schoss er ihm einen verschwörerischen Blick zu. »Oder haben Sie Schiss?«

»Kein intelligenter Mensch würde leugnen, dass das Ganze mit einem mulmigen Gefühl verbunden ist.«

Laertes ließ das wirken. Er konnte zusehen, wie der Fahrer den Satz im Kopf ein paar Mal vor und zurückspulen musste.

»Es ist natürlich schon ein Schritt«, sagte er dann. »Man muss alles zurücklassen, eh?«

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