Planetenschleuder

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Planetenschleuder
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Matthias Falke

Planetenschleuder

© 2013 Begedia Verlag

© 2007 Matthias Falke

Umschlagbild - Alexander Preuss

Covergestaltung und Satz - Begedia Verlag

Lektorat - André Skora

ebook-Bearbeitung - Begedia Verlag

ISBN-13 - 978-3-95777-028-8 (epub)

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Das ENTHYMESIS-Universum

Eine Science-Fiction-Saga in sieben Trilogien

1. Laertes

2. Exploration

3. Gaugamela

- Planetenschleuder

- Museumsschiff

- Schlacht um Sina

4. Zthronmic

5. Tloxi

6. Jin-Xing

7. Rongphu

Der Autor:

Matthias Falke wurde 1970 in Karlsruhe/Baden geboren. Nach Abitur und Grundwehrdienst studierte er Musikwissenschaft, Literaturwissenschaft und Philosophie an den Universitäten Karlsruhe und Freiburg/Breisgau. Seit 1999 ist er freier Autor, Herausgeber und Übersetzer. Sein Stück »Kassandra-Szenen« wurde 2007 beim Ersten Autorenwettbewerb des Sandkorn-Theaters Karlsruhe mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Nach Ausflügen in nahezu alle literarischen Gattungen und Genres konzentriert sich Falke in den letzten Jahren zunehmend auf die Science Fiction. Seine Texte wurden mehrfach für den renommierten Kurd-Laßwitz-Preis nominiert.

Falkes Novelle »Boa Esperanca« wurde 2010 mit dem Deutschen-Science-Fiction-Preis als Beste Kurzgeschichte ausgezeichnet.

Matthias Falke ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen. Er lebt in Karlsruhe.

Teil I - Die Bedrohung

Kapitel 1. Kosmischer Hagel

Jennifer lag uneinholbar vorne. Obwohl ich kilometerweit abgeschlagen war, machte es Spaß, ihr zuzusehen. Sie war die beste Pilotin der Union, und sie ließ ihr ganzes Raumgefühl in das Spiel einfließen. Ohne, dass es sie eine Anstrengung gekostet hätte, vertraute sie ihrer Intuition für komplexe dreidimensionale Bewegungen. Was wir auf komplizierte und fehlerhafte Weise berechnen mussten, das schüttelte sie aus dem Handgelenk. Sie bildete mit dem Queue ebenso eine organische Einheit wie mit der Steuerkonsole der Enthymesis, wenn sie diese sanft und millimetergenau in die Hangars des Großen Drohnendecks bugsierte. Sie vollführte ein lautloses, feierliches und elegantes Ballett, das nur vom Klacken des Zählmechanismus' interpunktiert wurde. Ihre Punktestand näherte sich rasch den Hunderttausend. Wenn das Reglement es zugelassen hätte, hätte sie in einer Simultanpartie gegen uns anderen als Team antreten können – und sie hätte uns vernichtend geschlagen. Selten habe ich sie so geliebt wie jetzt, da sie wie eine Katze um den Spielkäfig herumschlich, mit all der Gewandtheit, die sie ihrer Nahkampfausbildung verdankte, das virtuelle Queue hob, mir zuzwinkerte und dabei zum Schein die Stirn in Falten legte – ganz als ob sie sich konzentrieren müsse –, und dann den Stoß anbrachte, der den roten Superball aufleuchten und ihr Konto um weitere 1000 in die Höhe schnellen ließ.

»Das gibt's doch gar nicht«, fluchte Reynolds, der nicht wusste, ob er lachen oder heulen sollte. Er ließ das Queue sinken, das er schon ungeduldig gehoben hatte.

»Sie darf nochmal«, grinste Jill. Sie lag noch hinter mir, was man nicht einmal mehr als abgeschlagen bezeichnen konnte. Seit einer Viertelstunde war sie gar nicht mehr zum Zug gekommen, sodass sie sich ganz auf die Rolle der Beobachterin reduziert hatte. Und da sie offen mit Jennifer sympathisierte und es nicht wagte, gegen mich als ihren Vorgesetzten zu polemisieren, ließ sie ihren Spott auf Reynolds herabregnen, der mit jeder Runde nervöser und verbissener wurde.

»Ich darf nochma-hal«, flötete Jennifer. Sie stolzierte um den Käfig herum und ließ uns bei ihren Überlegungen zusehen, wie sie eine möglichst vertrackte Situation herbeiführen könnte. Ihr kastanienbrauner Pferdeschwanz wippte selbstgewiss. Ihre weiße Freizeituniform mit den schlichten Schulterstücken leuchtete in der bunten Dämmerung des Spielsalons, dessen rasch wechselnde Farbsignale und Holo-Anzeigen sie widerspiegelte.

An den anderen Billard-Käfigen und Spieltischen, wie auch an den Glücksspielrobotern und Scheibenholometern hatten die Spieler eine Pause eingelegt. Sie standen da, ihre Queues oder Scheibenschläger in den Händen, oder lehnten gegen die gravimetrischen Sockel ihrer Barhocker und sahen zu uns herüber. Sie alle hatten Respekt vor Jennifer und kaum einer dieser Captains oder Sergeanten hätte ihr in einer dienstlichen Situation in die Augen zu sehen gewagt, aber ihr Ruhm als gefürchteter Schwebebillard-Spielerin eilte ihr weit voraus, und wenn sie nun ihren WO und den Kommandanten dazu in einer spektakulären Partie deklassierte, war das ein Vergnügen, das man sich nicht entgehen ließ.

Ich fing einen resignierten Blick von Reynolds auf, während Jennifer vor der gegenüberliegenden Front des Käfigs in die Hocke ging und das Queue anlegte, um zum vernichtenden Stoß auszuholen. Gebannt sah ich auf ihre Fingerspitzen, die die Stoßrichtung in hauchfeinen Nachführbewegungen justierten und auch in der zehnfachen Verlängerung des Spielgeräts kein bisschen zitterten. In der zusammengekauerten Haltung, die an einen antiken Diskuswerfer erinnerte, erstarrte Jennifer zu einer ausdrucksstarken Statue.

»Was war das?«, flüsterte sie.

Irgendetwas stimmte nicht. Auch ich hatte etwas registriert, obwohl ich nicht zu sagen vermocht hätte, was es war.

In Zeitlupe ließ Jennifer ihr Queue sinken und richtete sich auf.

Ich spürte ein Frösteln, wie es mich überläuft, wenn sich in meinem Rücken eine Tür öffnet.

»Da ...!«, zischte sie und hob die Hand, als wäre es nötig, uns zur Aufmerksamkeit zu mahnen. Wie ein Dirigent den leisesten Misston seines Orchesters auffängt, der dem Publikum und selbst den Aufzeichnungsgeräten verborgen bleibt, und wie ein Ingenieur jede Unreinheit aus dem gleichmäßigen Summen seiner Maschinen heraushört, so hatten auch wir etwas gehört, das am untersten Horizont der Sinnenwelt angesiedelt war, aber dennoch den heiter gekräuselten Spiegel unserer Ausgelassenheit durchschlug ließ wie ein Stein den Spiegel eines unberührten Weihers.

Wir alle hatten als Offiziere und Piloten, als Wissenschaftsastronauten, Techniker und Kommandanten eine tief eingewurzelte Vorstellung davon, welche Geräusche an Bord eines Schiffes erwünscht und welche unerwünscht waren, welche alltäglich waren, welche besorgniserregend und welche gefährlich, welche beruhigend – und welche ganz und gar unmöglich. Diese Kategorien waren seit Jahrzehnten zu unserer zweiten Natur geworden. Eine minimale Abweichung innerhalb ihres Schemas würde uns aus dem tiefsten Rausch, aus dem Liebesspiel, aus dem Schlaf und aus der Bewusstlosigkeit geweckt haben.

Ein Geräusch, wie das, das nun an der untersten Schwelle unserer Wahrnehmungsfähigkeit kratzte, hatten wir noch niemals gehört. Das war das Allerschlimmste. Es ließ uns zusammenfahren. Jede Fiber unserer Körper wurde mit Konzentration geschwemmt, bereit, den Atem anzuhalten oder in Schreien auszubrechen. Ein fernes Grollen, das sich durch einen kilometerlangen Stahlleib arbeitete.

Außerhalb der Situation hätte es mich an ein Himalaya-Gewitter oder an einen Magnetsturm auf Siriana III erinnern können, aber wir befanden uns weder auf der Erde noch auf dem bizarren Eismond mit seinen violetten Blizzards, sondern an Bord der MARQUIS DE LAPLACE, die nach ihrer Rückkehr vom Sirius-System in einer Parkbahn im Neptun-Orbit überholt und gewartet wurde. Ein Stöhnen und Bersten, das sich durch zwölf Kilometer eines Titan-Corpus' fraß, von Segment-Kupplungen gedämpft, von Eigenresonanzen verstärkt. Die Herkunft des Geräusches war unerklärlich. Seine Echos und Interferenzen brachen und überlagerten sich und schwollen dabei an. Auch an den anderen Tischen ließen die Spieler ihre Queues und Schläger sinken. An der Bar setzten die Gäste ihre Gläser ab.

Zugleich erfasste uns der charakteristische Schwindel, den wir alle schon hundertmal verspürt hatten und von dem jede Zelle unseres Wesen wusste, dass er von überlasteten Gyroskopen herrührte. Panik malte sich auf die Gesichter. Jill verwandelte sich in eine gläserne Marionette. Reynolds sah aus wie jemand, der unbedacht auf eine dünne Eisfläche geraten ist und nun, vom ersten Knacken aufgestört, nicht mehr zu blinzeln wagt. Der anfeuernde Zuruf, den ich eben noch an Jennifer gerichtet hatte, gefror mitten in der Luft und fiel klirrend zwischen unseren Füßen zu Boden. In Zeitlupe musste ich mit ansehen, wie allen die Augen aus den Höhlen traten, als habe das Vakuum des schlingernden Raumes sich einen Weg in das Innere unseres Mutterschiffes gebahnt. Das Vergnügungsdeck der MARQUIS DE LAPLACE bog und dehnte sich wie ein Objekt vor einem Zerrspiegel. Der Raum und alles, was sich in ihm befand, wurde gekrümmt wie auf einem fehlerhaften Holo. Wir starrten uns an und wünschten aus diesem bösen Traum zu erwachen.

In diesem Augenblick setzte die Musik aus, die uns im Nachhinein plötzlich unerträglich banal erschien. Die Billardkugeln surrten automatisch auf ihre Nullpositionen in den zwölf Ecken des Schwebekäfigs zurück. Auch an den anderen Tischen erloschen die Anzeigen. Die feurigen Räder der Scheiben-Holos verblassten. Das Licht wurde um mehrere Stufen heller; zugleich büßte es seinen warmen orangeroten Farbton ein und wurde flammend weiß. Es war, als würde eine warme Decke fortgezogen, und der unerbittliche kalte Tag stand zum Fenster herein.

Mit wohlvertrautem Summen meldete sich die Automatik.

»Alarmstufe II«, verkündete eine emotionslose Serienstimme.

 

Wir hörten, wie sich überall im Schiff die selbsttätigen Schotte aus Titanstahl schlossen. Ein rhythmisches, in raschen Sprüngen näherkommendes Krachen, dem das schmatzende Saugen der Vakuumpumpen folgte. Mit kaum wahrnehmbarem Übergang flackerte das Licht und erstrahlte dann wieder in der vorherigen Schärfe. Die einzelnen Segmente der MARQUIS DE LAPLACE waren nun hermetisch voneinander getrennt, in ihrer Energie- und Sauerstoffversorgung autark und nur noch über einige Serviceschächte und die Steuerung der Automatik miteinander verbunden. Aber auch diese Kupplungen konnten im Notfall in Sekundenbruchteilen gekappt werden. Der Zusammenhalt des Schiffes wäre dann aufgehoben. Die zwölf Segmente würden, von kleinen Aggregaten getrieben, auseinander schweben, jedes mehrere Kubikkilometer an Volumen bergend und manövrierunfähig, aber in Sicherheit, falls es zum Beispiel einen schweren Strahlenunfall im Reaktorblock gegeben haben sollte.

Was mochte geschehen sein? In den wenigen Augenblicken, die wir wie angewurzelt dastanden, mit unserem irritierten Gleichgewichtssinn kämpften und auf weitere Durchsagen warteten, blitzten in rascher Folge mögliche Ursachen der Störung durch mein Hirn, die ebenso schnell vorgeführt wie verhandelt und abgeurteilt wurden. Eine Kollision oder ein sonstiger externer Grund konnte ausgeschlossen werden. Die einzige Möglichkeit, die mir plausibel schien, war ein Unfall bei Reparaturarbeiten. In einem der vorderen Segmente, dem langen Weg nach zu urteilen, den die Geräusche bis zu uns genommen hatten, musste es eine Explosion gegeben haben.

Jennifer hatte ihr Queue abgeschaltet und den Holo-Stick in den Billardkäfig geworfen, wo er von selbst in der Stand- By-Position einrastete. Intuitiv hatten wir alle eine breitbeinige Stellung eingenommen, die wir mit abgewinkelten Armen ausbalancierten.

Ein Knistern war in der Leitung. Dann löste Dr. Rogers' texanischer Dialekt das nervtötende Summen der schweigenden Automatik ab.

»An alle«, donnerte er in grimmigem Kasernenton. »Ein unbekanntes Objekt hat das Zentrale Steuermodul der MARQUIS DE LAPLACE getroffen. Der Schaden wurde lokalisiert und eingedämmt. Ihn zu beheben, wird allerdings länger dauern. Grund zur Beunruhigung besteht keiner – wenn man davon absieht, dass wir auf absehbare Zeit manövrierunfähig sind.«

Obwohl er nur den Audiokanal benutzte, sah ich ihn vor mir, wie er ein diabolisches Grinsen aufsetzte, als er noch hinzufügte: »Wird also nichts aus dem Wochenendtrip nach Luna III.«

Mit einem Knall, der an zusammengeschlagene Hacken erinnerte, ließ er den Kanal zuschnappen. Für einen Augenblick waren wir alle wieder Kadetten, die unter seinen gebrüllten Kommandos zusammenzuckten.

Die Automatik verlas nun lange Durchsagen, in denen Rettungs- und Reparatureinheiten in die oberen Decks von Segment I beordert wurden. Der Tatsache, dass keine Sanitäter angefordert wurden, entnahmen wir, dass Menschen nicht zu Schaden gekommen waren. Die Antriebs- und Steuermodule in Segment I arbeiteten, ebenso wie die Reaktorblocks in den Segmenten X - XII, vollkommen automatisch. Nur alle paar Tage verirrte sich ein Servicetrupp dorthin. Andererseits schien der Schaden beträchtlich zu sein. Nicht nur ganze Geschwader von Technikern wurden nach Segment I kommandiert, sondern auch eine Gruppe an Bordingenieuren.

Reynolds fragte an, ob er sich zur Verfügung stellen solle, behielt aber den groben Bescheid, man komme ohne ihn zurecht. Ich vermutete dahinter die alte Rivalität zwischen den »Festen« von der Planetarischen und der fliegenden Crew, die einander gegenseitig für unfähige Drückeberger hielten. Es musste einer der beiden Parteien das Wasser schon bis zum Haaransatz stehen, ehe sie die andere um Hilfe bat. Hier, an Bord der MARQUIS DE LAPLACE, waren wir Enthymesis-Offiziere im Urlaub. Frontsoldaten in der Etappe, die es längst aufgegeben haben, die Langweiler vom Nachschub mit ihrem Seemannsgarn beeindrucken zu wollen.

Reynolds schaltete fade lächelnd seinen Kommunikator ab und zuckte mit den Schultern. Er wäre auch eine Weile unterwegs gewesen von den Vergnügungsdecks in Segment VI, wo wir uns befanden, zur Steuerungseinheit am Bug des Schiffes, mehr als fünf Kilometer entfernt, zumal die Schotte geschlossen waren und er sich im Servicetunnel Block für Block hätte nach vorne arbeiten müssen. Eigentlich beschäftigte uns auch etwas ganz anderes.

Langsam nur stieg ein lähmendes Prickeln aus der Magengrube auf und verzweigte sich über den Rücken, bis es die Zonen des Bewusstseins erreichte. Es gibt Situationen, in denen man längst wahrgenommen hat, was als Gefahr erst mit Verspätung begriffen wird, etwa wenn man in einer fremden Stadt unterwegs ist und mit einem Mal feststellt, dass man die Orientierung verloren hat und in ein zwielichtiges Viertel geraten ist. Plötzlich wird es dunkel, man befindet sich in einer Sackgasse und aus den Haustüren glotzen einen finstere Gestalten an.

Jennifer hatte den Impulsgeber vom Bord genommen und spielte damit herum, ein Zeichen von Nervosität. Ich kannte sie gut genug, um zu spüren, dass sie außerordentlich beunruhigt war.

»Wie konnte das geschehen?«, fragte sie.

Ihr Blick war der einer Ausbilderin, die einen Rekruten fragt, warum seine Uniform so vorschriftswidrig sitzt.

Tatsächlich war kaum zu begreifen, wie ein solcher Impakt möglich sein sollte. Die MARQUIS DE LAPLACE war das größte und modernste Schiff der Union. Das Deepfield-Radar ihrer Vorfeldaufklärung griff Millionen Kilometer tief in den Raum aus; ihre automatische Überwachung kontrollierte die Flugbahnen mehrerer tausend Objekte. Diese überscharfen Sinne waren auf Sub-Warp-Passagen berechnet, auf die Durchquerung des Kuipergürtels oder der Oortschen Wolke. Dass ihnen auf der öden Höhe der Neptunbahn ein herumschwirrendes Steinchen entgangen sein sollte, war kaum vorstellbar. Langsam und widerstrebend, wie man in eiskaltes Wasser eintaucht, mussten wir uns klarmachen, dass der aktuelle Schaden gar nicht das eigentliche Problem darstellte, sondern nur Symptom eines wesentlich gravierenderen war.

Das Schlingern und Krängen, das das Schiff durchzitterte, hielt an. Als langjährigen Mitgliedern der fliegenden Crew konnte es uns physisch nicht viel ausmachen. Dafür erfüllte es uns mit einer umso größeren seelischen Qual. Wir spürten, wie die virtuellen Gyroskope auf Hochtouren liefen. Verzweifelt wie ein Boxer, der einen betäubenden Schlag aufs Ohr erhalten hat, rang unser Schiff darum, seine Bahn zu halten. Oder, wie es mich plötzlich durchzuckte, einer weiteren Bedrohung auszuweichen.

»Sie kämpft«, sagte Lambert. »Aber sie kommt vom Kurs ab.«

Reynolds schüttelte langsam den Kopf. Es sah aus wie eine rätselhafte Pantomime.

»Nein«, sagte er in seiner gedehnten Sprechweise, die immer, wenn er einer Sache auf der Spur war, zu einem langgezogenen Band aneinanderhängender Vokale wurde. »Sie versucht zu reagieren.«

Jennifer nickte aufgeregt. In rascher Folge ließ sie den Impulsgeber in ihrer Hand aufleuchten und wieder verschwinden.

»Sie will nicht beharren, sondern fliehen.«

Ich sah das Bild einer waidwunden Gazelle vor mir, die mit zerrissenen Läufen in der afrikanischen Steppe liegt und ein Rudel Hyänen auf sich zukommen sieht. Entsprach diese Vision unserer gegenwärtigen Situation?

Wir befanden uns in einem der Innendecks, ohne freie Sicht nach draußen. Die Monitore waren erloschen. Und obwohl mit bloßem Auge sowieso nicht zu erkennen gewesen wäre, wenn ein faustgroßer Brocken mit 30 000 Stundenkilometern auf uns zuraste, erfüllte es mich mit einem panischen Gefühl, dass ich über keine Informationen verfügte. Auf der Brücke der Enthymesis war ich mit allen Instrumenten so verwachsen, dass ich mich ihrer wie meiner eigenen Sinne bedienen konnte, und zudem reagierte dort meine Crew so sensibel auf meine Befehle, dass diese ausgeführt waren, ehe ich sie ausgesprochen hatte. Hier fühlte ich mich blind. Mit verbundenen Augen saßen wir auf der Ladefläche eines Lastwagens, der steuerlos in ein Minenfeld hinausfuhr. Ich betätigte den Piepser.

»Es ist noch nicht vorbei«, sagte Jennifer, der ich am liebsten den Holo-Stick aus der Hand geschlagen hätte.

»Das war erst der Anfang«, bestätigte Reynolds.

Lamberts Gesicht, das noch nie hübsch gewesen war, aber manchmal ganz drollig wirkte, verwandelte sich in eine verwüstete Landschaft, auf der der Steppenbrand der Verzweiflung wütete.

Endlich knirschte es im Kommunikator.

»Das ist nicht der geeignete Zeitpunkt«, schnauzte Rogers.

»Was ist los?«, fragte ich, ohne auf sein Gebrüll einzugehen. »Wir haben den Eindruck, das Schiff ist nicht stabil ...«

»Ihr Eindruck ist goldrichtig«, tobte er. »Und Sie können von Glück sagen, wenn es in einer Stunde noch ein Schiff ist, und nicht einige Teratonnen wertlosen Weltraumschrotts!«

Damit kappte er die Leitung. Ein unangenehmes Stöhnen war zu hören. Der riesige Stahlleib der MARQUIS DE LAPLACE wand sich in der verzweifelten Anstrengung. Hilflos sahen wir von einem zum anderen.

»Wir müssen etwas unternehmen«, beschloss Jennifer.

Während die anderen Offiziere, die ihren freien Nachmittag auf Vergnügungsdeck VI C 22 verbracht hatten, mit schicksalsergebenen Mienen an den Spieltischen lehnten oder in ihre Gläser starrten, stürmten wir los.

Die Ordonanzen, die neben der Ausgangstür Stellung bezogen hatten, salutierten und gaben die Verriegelung frei, als wir auf sie zumarschierten. Die kleinen Schotte, die innerhalb der Decks die Durchgänge sicherten, glitten zischend auseinander. Ein Zittern lief durch das Schiff, und irgendwo, kilometerweit entfernt, war ein hohles Aufheulen zu hören, das an einen verwundeten Wal denken ließ, der seine Qual in den dunklen Ozean hinausschrie. Unwillkürlich hatten wir alle einen Ausfallschritt gemacht und das Taumeln des Schiffes, auch wenn es von den Gyroskopen abgefedert wurde, aus dem Oberschenkel aufgefangen. Im Gänsemarsch, wie wir hintereinander herrannten, musste das aussehen wir das Manöver einer modernen Ballett-Truppe.

Innerhalb des Decks konnten wir uns als Mitglieder der fliegenden Crew frei bewegen, und es sollte uns auch möglich sein, die über und unter uns liegenden Decks zu erreichen. Allerdings war unsere Bewegungsfreiheit durch die Alarmstufe auf das Segment beschränkt, in dem wir uns gerade befanden. Die Schotte in den Segment-Kupplungen konnten nur vom Kommandanten oder seinem Stellvertreter geöffnet werden. Und letzterer hatte schon durchblicken lassen, dass er auf unsere Stellungnahmen keinen Wert legte.

Jennifer rannte vorweg. Ich erhaschte immer gerade noch das Bild ihres Pferdeschwanzes, dann war sie um die nächste Ecke verschwunden. Reynolds und Lambert folgten ihr. Ich bildete den Schluss. Ich glaubte inzwischen zu wissen, wo sie hinwollte. Im Grunde gab es nur eine Möglichkeit. Allerdings war mir schleierhaft, was sie dort ausrichten zu können meinte.

Atemlos rannte ich hinter ihr her durch das Labyrinth, das das vordere Drittel des Decks einnahm. Zwischen Serviceschächten und Titanstahlstreben ging es in schmalen verwinkelten Gängen dahin. Durch das wilde Zickzack, das wir zu laufen gezwungen waren, kam es mir vor, als ob das Schiff schwanke. Wie ein Trawler auf hoher See schien es sich von einer Seite auf die andere zu werfen. Ich konzentrierte mich. Es war tatsächlich so. Die MARQUIS DE LAPLACE krängte wie ein leckgelaufener Frachter unter dem Anprall mächtiger Wogen.

In den elastilverkleideten Säulen, die an den Kreuzungspunkten jedes Blocks standen, kreischten die Feldgeneratoren, die die virtuellen Gyroskope steuerten und die künstliche Schwerkraft mit Energie versorgten. Eben sackte das Schiff wieder zur Backbordseite durch wie eine Verkehrsmaschine, die durch eine Abfolge von Luftlöchern taumelt. Wir hatten keine Sicht nach draußen, da wir uns tief in den Eingeweiden des Segments befanden, daher konnte ich die Stärke der Schlingerbewegung nur abschätzen. Die künstliche Schwerkraft verhinderte, dass wir herumgeschleudert würden. Sie lief auf 120%, um uns fester an den Fußboden zu pressen. Ich spürte in den Knien, wie sich mein Gewicht erhöhte und meine Bewegungen teigiger wurden. Dennoch revoltierte mein Gleichgewichtssinn, wie ich es kaum jemals bei Explorer-Einsätzen verspürt habe. Ich taxierte die seitlichen Ausscherbewegungen des Schiffes auf mindestens 20 Grad. Bei der ungeheuren Masse der MARQUIS DE LAPLACE war es ein Wunder, dass sie nicht längst in Stücke gebrochen war. Was für Kräfte mochten das sein, die dieses Schiff so in Bedrängnis brachten?

Wir rannten weiter. Dann erreichten wir die Kommandozentrale, deren es mehrere auf jedem Segment gab. Von hier aus waren alle Funktionen des Hauptcomputers aufrufbar. Für den Fall, dass die Segmentkupplungen gelöst werden müssten, gab es hier die Steuerung des Segmentes VI. Wir befanden uns in einem oktogonalen Raum. In vier der acht Wände waren die vertikalen Serviceschächte eingelassen. Von hier führten generatorgetriebene Aufzüge zu den 120 Decks, die sich unter uns befanden, und zu den mehr als 200 über uns. VI war eines der flacheren Segmente. Es bildete die schlanke Taille der MARQUIS DE LAPLACE, eine Wespentaille, wenn man die bulligen Segmente IV und VII oder die Reaktorblocks zum Vergleich heranzog.

 

Die übrigen Wände bargen Monitore und Bedienfelder. Es war eine selbstständige Brücke, die im Notfall ein Zwölftel MARQUIS DE LAPLACE befehligte. Jennifer riss die Schutzfolien aus mattschwarzem Elastin von den Konsolen und herrschte die Automatik an, online auf den Hauptrechner des Mutterschiffs zu gehen. Die Apparaturen begannen zu booten. Offensichtlich waren sie sehr lange nicht mehr online gewesen. Die Stickstoffkühlung für die Null-Ohm-Rechner brauchte geraume Zeit, ehe sie die nötige Betriebstemperatur hergestellt hatte. Außerdem war zu spüren, dass die Feldgeneratoren in diesem Block an der Belastungsgrenze waren. Sie schienen jedes einzelne Ampère nur widerwillig herauszurücken.

Ich warf Reynolds einen kritischen Blick zu. Er zog die Stirn kraus und zuckte mit den Schultern.

»Ich habe schon ungefähr 50 Eingaben deswegen geschrieben ...«

Jennifer trommelte mit den Fingern auf der Konsole, vor der sie nervös von einem Bein aufs andere trat. Jill stand abseits, die Hände ineinander verkrallt und schnitt ein Gesicht wie ein Baby, das sich gerade in die Hose macht.

Endlich erschien auf dem Hauptschirm der Gefechtsstand der MARQUIS DE LAPLACE. Im Profil erkannten wir Dr. Rogers, der mit blaurotem Kopf gerade drei WO's zusammenstauchte, die ihn um zwei Haupteslängen überragten und wie begossene Pudel vor ihm standen. Leider dauerte es ein paar Sekunden zu lang, bis auch der Audio-Kanal aufgebaut war, als dass wir seine Gardinenpredigt hätten verstehen können. Unmittelbar vor dem Schirm, der das Bild übermittelte und unsere Konterfeis auf die andere Seite überspielte, erkannten wir Dr. Frankel, der wie immer seinen weißen Laborkittel trug. Er wirkte wie ein Oberarzt, der gerade aus der Visite abberufen wurde. Zu Rogers' cholerischem Wesen bildete er einen angenehmen Gegenpol. Ich atmete auf, als ich ihn sah. Er wandte sich verwundert um, als wir auf seinem Schirm sichtbar wurden.

»Was, bitteschön, wird das?«, fragte er in seiner korrekten Aussprache, die so britisch wirkte, dabei aber nur neuenglisch war. Selbst jetzt, da unser Schiff von unerklärlichen Kräften fast zerrissen wurde, ließ er sich nichts anmerken, sondern verströmte die Coolness und Langeweile eines Gentleman auf einer englischen Gartenparty.

»Wir wollten uns selbst ein Bild von der Lage machen«, blaffte Jennifer.

»Die Lage ist beschissen«, brüllte Rogers über Frankels Schulter hinweg. Er hatte die WO's, die wie gemaßregelte Internatszöglinge abgezogen waren, weggeschickt und wandte sich nun einem Techniker zu, der ölverschmiert auf die Brücke gewankt kam und vor ihm Meldung machte. Leider konnten wir den Bericht, den der Mechaniker schwer atmend vorbrachte, nicht verstehen, da im gleichen Augenblick Frankel wieder das Wort ergriff.

»Sie können online auf den Statusbericht gehen«, sagte er freundlich, als handele es sich um Wahlprognosen oder Footballergebnisse. »Wir haben im Augenblick noch zuwenig Informationen. Momentan sind wir damit befasst ...«

Ich versuchte ihm mit rudernden Armbewegungen zu verstehen zu geben, dass er das Sichtfeld freigeben sollte. Dann brüllte ich in den Schirm hinein.

»Rogers! Hier ist Norton. Gibt es irgendetwas, das wir tun können?«

Ein neuerliches Beben lief durch das Schiff. Wir sahen auf dem Monitor, wie die Besatzung der Brücke schwankte und mit dem Gleichgewicht kämpfte. Dann erst hörten wir das ferne Stöhnen. Abermals etliche Augenblicke später hatte die Bewegung uns erreicht und brachte uns zum Taumeln. In dem großen Maschinenblock jenseits der Konsolen jaulte der Feldgenerator auf. Mir wurde wieder bewusst, wie riesig das Schiff war und wie es sich entlang seiner Längsachse verwinden musste. Wie ein nasses Handtuch, aus dem jemand das Wasser herauswringt, schien es in gegensätzliche Richtungen verdreht zu werden.

Während wir uns noch an den Rechnerschränken festkrallten, hatten sie auf der Brücke schon das Gleichgewicht wiedererlangt.

»Sie können mich am Arsch lecken«, tobte Rogers. »Sehen Sie nicht, dass wir zu tun haben?!«

Der Mechaniker salutierte zackig, wirbelte auf dem Absatz herum und stapfte mit schweren Seemannsschritten davon. Rogers stand da, die Fäuste in die Seite gestemmt, und blickte wutschnaubend um sich. Eigentlich sah er nicht aus wie jemand, der gerade besonders viel zu tun hat. Eher schien er Ausschau zu halten, wen er als Nächstes zusammenstauchen könnte.

Jennifer hatte unterdessen wild auf ihrer Konsole herumgetippt.

»Ich hab's«, verkündete sie.

Ich beugte mich über die Anzeigen, während Jill und Reynolds sich den Statusbericht auf einen zweiten Schirm holten.

»Sieht böse aus«, zischte sie zwischen den Zähnen, als sie in Windeseile die Reports der letzten Minuten herunterscrollte.

Ich wandte mich wieder dem großen Monitor zu. Im Hintergrund sah ich Rogers davonstapfen. Er ging an einen der Nebenbedienplätze und klemmte einen Kommunikator ans Ohr. Ich vermutete, dass er auf einem geschlossenen Kanal mit den Reparaturtrupps vor Ort Kontakt aufnehmen wollte.

In Krisensituationen hatte ich ihn auch schon souveräner erlebt. Vor Persephone hatte er es als Kommandant eines zusammengewürfelten Kampfverbandes mit einer ganzen sinesischen Flotte aufgenommen. Der siegreiche Ausgang der Schlacht für die Unionstruppen hatte den Krieg entschieden und die sinesischen Ambitionen ein für alle Mal beendet. Aber heute hatte er es mit einer Sache zu tun, die nicht unbedingt größer, aber unheimlicher war. Er wusste nicht, wer oder was ihm gegenüberstand, das machte ihn nervös. Und dass man ihn dabei ertappte, machte ihn noch viel nervöser.

»Wir haben einen Treffer in Segment I erhalten«, begann Frankel. »Das zentrale Steuermodul. Wie es aussieht, wurde es vollständig zerstört.«

»Was für ein Objekt?«, fragte Reynolds, noch ehe Frankel den letzten Satz beendet hatte. Der WO der Enthymesis hatte die Daten vor sich auf dem Schirm, aber er schien davon auszugehen, dass der stellvertretende Leiter der Planetarischen Abteilung über aktuellere Informationen verfügte. Ich fand es typisch für einen Techniker, dass er der Technik mißtraute und sich im Zweifel lieber an eine menschliche Person wandte.

»Masse circa eine Tonne«, sagte Frankel. »Wurde natürlich vollständig pulverisiert. Wir können nur den Impuls rekonstruieren, den die Feldgeneratoren der vorderen Segmente nach dem Einschlag kompensiert haben. Nicht sehr groß, Medizinball-Format ungefähr.«

Er malte mit den Händen den Umfang einer Wassermelone in die Luft.

»Also sehr schwer«, fuhr er fort. »Hohes spezifisches Gewicht.«

»Ein Artefakt«, entfuhr es mir. »Am Ende ein Torpedo?«

»Das wohl nicht«, lächelte Frankel wie der Moderator eine Rateshow, der leider einen weiteren Kandidaten nach Hause schicken muss. »Wir denken an einen Eisenmeteoriten oder an einen kleinen, sehr dichten Asteroiden.«

Ich versuchte diese Information unterzubringen, fand aber keine Schublade, in der ich sie hätte verstauen können.

»Wir glauben mit dieser Annahme relativ sichergehen zu können«, sagte Frankel, aber Jennifer setzte die Ausführung an seiner statt fort: