Loe raamatut: «Buchstäblichkeit und symbolische Deutung», lehekülg 11

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Das fünfte Kapitel widmet sich, so lautet die Kapitelüberschrift, dem Prozess Von der Darstellung zur Konstruktion. BurkeBurke, Peter diskutiert die Bedeutung der kulturellen Konstruktion von sozialer WirklichkeitWirklichkeit wie Klasse und Geschlecht, von Denkbildern, Handlungsvorstellungen oder Diskursen.28 Er thematisiert aber auch die Konstruktion von Identität und die Konstruktion von Geschichte. Die dieser Debatte zugrundeliegenden Fragen bleiben freilich weiterhin strittig: Wer konstruiert? Unter welchen Bedingungen? Aus welchem Material?29 Mit Blick auf die Entwicklungen dieser Debatte spricht Burke von einer „‚performativen Wende‘ in der Kulturgeschichte“30. Das ist sicherlich eine stimulierende Aussage, und es stellt sich für eine Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur die Frage, ob sie an dieser Debatte teilhaben will. Als Leitfrage einer performativen Kulturgeschichte formuliert Burke den Satz: „Was tut dieses Schreiben?“31 Welches sind seine Strategien, Techniken, Inszenierungen, wie sieht seine Rezeption, wie seine Wirksamkeit aus? Hier gibt es erstaunliche theoriekonsistente Schnittflächen mit dem Modell der Bedeutung von RezeptionRezeption und TransformationTransformation von Texten, bis hin zur Theorie des anagrammatischen Lesensanagrammatisches Lesen. Eine Kulturgeschichte der Literatur will nicht den Anschluss verlieren an arbeitsfähige Performanztheorien.32 Die performative Wende ist in der PhilologiePhilologie oder zumindest in Teilen längst vollzogen. Aus diesen Bestimmungsmerkmalen einer KulturgeschichteKulturgeschichte leitet Burke eine terminologische Präzisierung ab, die er „Okkasionalismus“33 in der Kulturgeschichte nennt. Okassionalismus bedeutet demnach „eine Verschiebung weg von der Idee festgelegter, an Regeln ausgerichteter Reaktionen hin zur Vorstellung eines flexiblen Verhaltens, das sich an der ‚Logik‘ oder ‚Definition der Situation‘ orientiert“34.

Unter die Frage Jenseits der kulturellen Wende? – so lautet der Titel des sechsten Kapitels – summiert BurkeBurke, Peter die Neue KulturgeschichteKulturgeschichte, die in der historiografischen Rezeption schon wieder mehrere Jahrzehnte alt ist. Er macht drei Szenarien aus, und das berührt bereits den prognostischen Wert seiner Ausführungen, den man auf eine Kulturgeschichte der Literatur übertragen kann, die folgendermaßen beschrieben werden: Das erste Szenario betrifft BurckhardtsBurckhardt, Jacob Rückkehr, im Kern geht es um die Restitution einer traditionellen Kulturgeschichtsschreibung. „Eine mögliche Zukunft für die Kulturgeschichte […] ist eine neuerliche Konzentration auf die Hochkultur“35. Dies führt zu einer Neubestimmung von Hochkultur und zu einer Verlagerung ihrer Merkmale. Burke stellt zu Recht fest, dass dieser Prozess längst in Gang gesetzt ist.36 Das zweite Szenario betrifft die Gegenstands- und Themenerweiterung. Politik, Gewalt, Emotionen, sinnliche Wahrnehmung usf. wurden und werden als neue Gegenstandsbereiche erschlossen. Das ist die „weitere Ausdehnung der Neuen Kulturgeschichte“37. Das dritte Szenario ist vielschichtiger, allgemein kann es als Gegenbewegung zur Reduktion von Gesellschaft auf Kultur verstanden werden. Burke nennt dies die „Rache der Sozialgeschichte“38. Daraus ergeben sich drei Probleme: Erstens sei die Definition von KulturKultur inzwischen zu weit und die Epitheta sozial und kulturell seien austauschbar geworden. Die sinnvolle Verschränkung von SozialgeschichteSozialgeschichte und Kulturgeschichte sei nicht mehr rückgängig zu machen. Burke arbeitet hier nochmals scharf die Bedeutung der sozialen Frage auch und gerade einer Kulturgeschichte heraus, indem er fragt: wer rezipiert?39 Zweitens seien die Methoden kritisch zu reflektieren, denn neue Quellen bedürften neuer Formen der Quellenkritik und neuer Regeln, was Burke am Beispiel der LektüreLektüre von Bildern ausführt.40 In diesem Zusammenhang kommt er beiläufig auf den textualistischen Kulturbegriff zu sprechen. Er verweist darauf, dass beispielsweise Historiker und Anthropologen diese Metapher des LesensLesen von Kultur nicht in gleicher Weise verwenden würden. Dies kann man dahingehend ergänzen, dass selbst unter Historikern oder auch nur unter Literaturhistorikern eine terminologische und pragmatische Klarheit mangelt. Burke kritisiert, die Metapher Kultur als TextKultur als Text garantiere der Intuition einen zu großen Raum dadurch, dass unklar bleibe, wer im Fall zweier kontroverser Lektüren oder Deutungen tatsächlich die richtige biete. Hier könnte möglicherweise die performative KulturgeschichteKulturgeschichte weiterhelfen, die gerade auf die Wahr-Falsch-Distinktion verzichten muss, will sie denn als eine performative gelten können. Drittens bestehe die Gefahr der Fragmentierung. Die Absage an universalistische Zugriffe könnte zur Folge haben, dass Schlussfolgerungen nur vereinzelt Gültigkeit besäßen. Das kann man auch kritisch auf GreenblattsGreenblatt, Stephen Omnipotenzphantasma übertragen, wonach die selektiv gewonnenen Erkenntnisse postwendend zu universalistischen Erklärungsmodellen avancieren. Eine Kulturgeschichte der Literatur will dagegen über die Problemlage von Greenblatts Kontextualisierungsverfahren hinausgelangen. Das kann möglicherweise durch die Rückbesinnung auf genuin philologische Kompetenzen gelingen. Von anglistischer Seite wurde des Öfteren bemängelt, die Vertreter der germanistischen SozialgeschichteSozialgeschichte der deutschen Literatur hätten Greenblatt nicht wahrgenommen, seine Arbeiten gar ignoriert. Doch es verhält sich umgekehrt, Greenblatt hat sich für die kontinentale Diskussion nicht interessiert, was schon ein Blick auf die entsprechenden Veröffentlichungsdaten belegen kann. Die Sozialgeschichte der Literatur war lange vor Greenblatts Arbeiten mit vielen Studien präsent, Leuchtturmprojekte waren u.a. die Sozialgeschichten der deutschen Literatur des Rowohlt-Verlags, des Athenäum-Verlags und des Hanser-Verlags.

Burke spricht zum Schluss über die Perspektive einer Kulturgeschichte, da die Neue Kulturgeschichte inzwischen an ihr Ende gekommen sei. Die Bedeutung von Erzählung in der Kulturgeschichte wird hervorgehoben.41 Man kann von kulturellen Narrativen sprechen, die auch narratologisch interpretiert werden können und gleichzeitig lässt sich Kulturgeschichte auch narrativ darstellen.42 Allerdings klingt es eher ratlos als klar umrissen, wenn sich die kulturgeschichtliche Narratologie selbst so beschreibt:

„Die kulturgeschichtliche Narratologie ist […] als eine interdisziplinär angelegte, bewußt eklektisch vorgehende und theoretisch wie methodisch präzisierungsbedürftige Forschungsrichtung zu begreifen […]. Grundfrage und Kernproblem der kulturgeschichtlichen Narratologie ist dabei die Frage nach der Verwobenheit von Kultur und Literatur […].“43

BurkeBurke, Peter meint, in der letzten Forschergeneration sei die KulturgeschichteKulturgeschichte „Schauplatz einiger der aufregendsten und aufschlußreichsten Diskussionen über die Methoden der Geschichtswissenschaft“44 gewesen. Das gilt ohne Einschränkung auch für die LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft. Diese zwei Lager unter den Vertretern und Vertreterinnen einer Kulturgeschichte („Buchstabengläubigkeit“ vs. SymbolSymbolbedeutung) werden die literaturwissenschaftliche Binnendiskussion weiterbewegen. Und eine Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur will genau dies, die Diskussion voranbringen und die symbolische Bedeutsamkeit von Texten und Kontexten methodisch sichern. Mit Blick auf diese Leitdifferenz verdeutlicht Burke den Unterschied zwischen einer SozialgeschichteSozialgeschichte und einer Kulturgeschichte an einem Beispiel. Eine Sozialgeschichte des Zuckers untersuche die Konsumenten, die Veränderung des Zuckers vom Luxusgut für eine soziale Elite hin zum Grundnahrungsmittel. Eine Kulturgeschichte des Zuckers befasse sich hingegen „mit dem symbolischen Aspekt des Zuckers“45. Durch den Verlust der sozialen Exklusivität erfahre der Zucker die Implementierung in neue soziale Rituale, die es entsprechend zu deuten gelte. Und diese Deutungsarbeit ist seit je das Geschäft der Literaturwissenschaft.

Eine Kulturgeschichte der Literatur ist keine Leitwissenschaft, keine Großtheorie, die weder willens noch in der Lage wäre, alle hegemonialen Theoriebedürfnisse im Wissenschaftsbetrieb zu befriedigen. Eine Kulturgeschichte der Literatur kann als Metabegriff differenter kulturwissenschaftlicher Theorieprofile und Lösungsansätze verstanden werden. Kulturgeschichte zeichnet sich dann durch eine Kombinatorik unterschiedlicher Selbstthematisierungsvorschläge aus. Dadurch bewahrt sich eine Kulturgeschichte der Literatur ihre Anschlussfähigkeit an unterschiedliche Konzeptualisierungsformen von KulturKultur, von KulturtheorieKulturtheorie und von Kulturwissenschaft. Die klassische sozialgeschichtliche Trias der Bedingungen von ProduktionProduktion, DistributionDistribution und RezeptionRezeption von TextenText bleibt unabdingbar für die Literaturinterpretation. Durch den Rekurs auf einen textualistischen KulturbegriffKulturbegriff wird das figurative Denken gefestigt, KulturgeschichteKulturgeschichte kommentiert den Wandel literaler Kommunikation und erklärt die TransformationTransformation von KulturtechnikenKulturtechnik. Zwischen jenen beiden kulturgeschichtlichen Lagern der BuchstabengläubigkeitBuchstaben und der SymbolbedeutungSymbol wird sich auch die literaturwissenschaftliche Binnendiskussion weiter bewegen, und eine Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur wird die symbolische Bedeutsamkeit von Texten und Kontexten methodisch sichern helfen. Damit besinnt sie sich wieder auf das, was von jeher zum Kerngeschäft der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft zählt. Die Geschichte der HermeneutikHermeneutik entwickelte die Lehre vom mehrfachen SchriftsinnSchriftsinn, wonach neben dem buchstäblichen Verstehen auch eine symbolische Deutungsymbolische Deutung ins Recht gesetzt wird. Beim kulturgeschichtlichen Kontextualisieren geht es also um jene Textebene, von der SchillerSchiller, Friedrich 1797 sprach, als er „eine Symbolische Bedeutsamkeit“46 von Texten gefordert hat. TexteText seien „in Chiffern verfaßt“ und man müsse sie deshalb „Dechiffrieren“,47 wie er im GeisterseherGeisterseher schreibt; später wird auch RilkeRilke, Rainer Maria die andere, die symbolische Bedeutungsymbolische Bedeutung von Texten betonen.48 Genau darum geht es.

TEIL 1 POIESIS – PHILOLOGIE ALS ÜBERLIEFERUNGSGESCHICHTE

ANTIKE UND ABENDLANDPoiesisPhilologie
Die aristotelischeAristoteles Poetik als PermatextPermatext

Die ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte der aristotelischenAristoteles Poetik gliedert sich in zwei große Komplexe, die HandschriftengeschichteHandschriftengeschichte und die DruckgeschichteDruckgeschichte. Die Handschriftengeschichte kann über Jahrhunderte hinweg nur spekulativ erschlossen werden, und einzig die Argumentationskraft und der Plausibilitätswert altphilologischer Hypothesen müssen zufriedenstellen. Die Druckgeschichte beginnt mit dem ersten Druck einer arabisch-lateinischen Version der Poetik. 1481 wurde diese lateinische Übersetzung des arabischen Kommentars von AverroesAverroes, die Hermannus AlemannusHermannus Alemannus 1256 angefertigt hatte, gedruckt. Die Druckgeschichte im engeren Sinn der Editio princeps graeca beginnt mit dem ersten Druck des griechischenPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) Textes der Poetik, der 1508 bei Aldus ManutiusManutius, Aldus – daher die abgekürzte Bezeichnung die Aldine – in Venedig erschien.Aristoteles1 In der handschriftlichen Überlieferungsgeschichte lassen sich wiederum zwei Traditionslinien voneinander unterscheiden, nämlich die syrisch-arabische und die griechisch-lateinische HandschriftengeschichteHandschriftengeschichte. Dass diese beiden Traditionen eng mit den jeweiligen Schulen eines griechischen oder arabischen Aristotelismus verknüpft sind, liegt auf der Hand. Doch ist der philosophische Aristotelismus nur insoweit von Interesse, als er für die Entstehung der Handschriften, ihrer Abschriften und die Kommentierung der Poetik von unmittelbarer Bedeutung ist.2 Auch das Thema der AristotelesAristoteles-RezeptionRezeption ist hier nur im Zusammenhang einer Geschichte der Überlieferung der Poetik von Bedeutung.3 In diesem Kapitel folge ich der Handschriftengeschichte der Poetik als Grundvoraussetzung ihrer Überlieferung bis zum Jahr 1508.4 Die Forschungsergebnisse von Orientalisten, Altphilologen und Kodikologen sind größtenteils weit verstreut und an entlegenen Stellen publiziert. Eine zusammenfassende Darstellung der syrisch-arabischen und der griechisch-lateinischen Handschriftengeschichte ist ein Desiderat.

Etwa zu der Zeit, als im lateinisch-westlichen KulturbereichKultur BoethiusBoëthius um 507 n. Chr. das gesamte aristotelische Organon zu übersetzen sich vornimmt, erreicht die syrisch-christliche Übersetzungsliteratur aristotelischer Schriften allmählich ihren Höhepunkt in den Werken des SergiusSergius (†536 n. Chr.) und des Severus SebokhtSeverus Sebokht (†667 n. Chr.).5 Der früheste bekannte syrische Übersetzer ist ProbhaProbha (ca. 450 n. Chr.). Vollständige syrische Übersetzungen der Poetik sind heute nicht mehr bekannt. Lediglich aus indirekten Hinweisen lässt sich die syrische Textvorlage der ältesten erhaltenen arabischen Übersetzung rekonstruieren. Ob die syrische Übersetzung der Poetik eine unmittelbare Übertragung einer älteren griechischen Handschrift, möglicherweise sogar eines aristotelischenAristoteles Originals, zumindest aber eine getreue Kopie des griechischen Archetypus darstellt, lässt sich nur vermuten, ist in der Forschung aber umstritten. Da die spätere arabische Poetik-Übersetzung auf der früheren syrischen Übersetzung des griechischen Textes beruht, sei zunächst der Blick auf die syrischePoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) Übersetzertätigkeit gerichtet. Wolfhart Heinrichs hat in seiner Arbeit Arabische Dichtung und griechische Poetik die syrische und die arabische Poetik-Geschichte untersucht. Aufbauend auf dem epochalen Werk von Jaroslaus Tkatsch gelangt Heinrichs zu wichtigen, teilweise Tkatsch korrigierenden Resultaten. Er betont, dass zwei Seiten der syrisch-arabischen Poetik-RezeptionRezeption zu unterscheiden seien: Einmal die eigentliche Poetik-Tradition des aristotelischenAristoteles Textes, zum anderen die Tradition der alexandrinischen Organon-Proömien, die sich mit der Einordnung der Poetik in das Corpus Aristotelicum beschäftigen und ihre Zurechnung zu den logischen Schriften systematisch begründen.6 Beide Seiten sind aber nicht streng voneinander zu trennen, vielmehr ergeben sich häufige Verbindungen. Was die alexandrinischen Organon-Proömien betrifft, ist festzuhalten, dass die Poetik – ebenso wie die Rhetorik – ihre Überlieferung gerade der Zuordnung zum aristotelischen Organon verdankt. Wann und durch wen diese Zuordnung im spätalexandrinischen Schulbetrieb vollzogen wurde, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Diese Zuordnung ist jedoch nicht mit dem Ausschluss der RhetorikRhetorik und Poetik aus dem spätgriechischen und byzantinischen Schulbetrieb zu verwechseln, die sich durch die „Verdrängung der Rhetorik durch Hermogenes-Aphthonius und die Zuordnung der Poetik zur Grammatik [erklärt]“7. Schon im frühen griechischen Aristotelismus, der nach Moraux vom „‚Willen zur Orthodoxie‘“8 gekennzeichnet ist, war die Poetik von untergeordneter Bedeutung. Von der Renaissance des Andronikos von RhodosAndronikos von Rhodos, dem ersten Redaktor der aristotelischen Schriften ca. 100/50 v. Chr. (Datierung nach Moraux), bis ca. zur Mitte des dritten Jahrhunderts n. Chr. war es „wichtigstes Anliegen der meisten Kommentatoren der Zeit […], die sogenannten Lehrschriften, und an erster Stelle die rein philosophischen unter Ausschluß etwa der Tierschriften, der Politik, der Rhetorik und der Poetik zu verstehen, zu untersuchen und zu erklären“9. Umso erstaunlicher, aber angesichts der Autorität, die die aristotelischen Schriften genossen, keineswegs überraschend, ist nun die Zuordnung der Poetik zum aristotelischen Organon, zu dem heutzutage die fünf folgenden aristotelischenAristoteles Schriften zusammengefasst werden: KategorienKategorien, Vom SatzVom Satz, AnalytikAnalytik (1. und 2. Analytik), TopikTopik und Sophistische WiderlegungenSophistische Widerlegungen. Die überlieferungsgeschichtliche Sicherung der Poetik im Organon vollzog sich im Rahmen der alexandrinischen Schulbildung nur sukzessive.10 Johannes PhilopanosPhilopanos, Johannes missbilligte möglicherweise diese Zuordnung der Poetik und lässt somit „eine andere Phase dieser Auseinandersetzungen in der Schule von Alexandreia erkennen, inPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) welcher die Poetik eine nicht ganz deutliche Sonderstellung gegenüber Topik, Sophistik und Rhetorik einnimmt“11. Das Ergebnis dieses überlieferungsgeschichtlichen Konstituierungsprozesses, der sehr stark von philosophisch-logischen Systematisierungszwängen geprägt ist und dessen Ausrichtungspunkt der aristotelischeAristoteles Syllogismus-Begriff ist, formuliert der Armenier EliasElias der Armenier um 600 n. Chr. folgendermaßen: „pente gar eisin eide ton syllogismon, apodeiktikos dialektikos rhetorikos sophistikos poietikos [Ü: Es gibt nämlich fünf Schlussfiguren, die apodeiktische, dialektische, rhetorische, sophistische und poetische]“12. Jede Art von Syllogismus stellt einen anderen Gewissheitsgrad der Erkenntnis dar „und ist dadurch als solche sachlich gerechtfertigt“13. In dieser Fünfteilung wird die Poetik (und auch die RhetorikRhetorik) in ihrer Zuordnung zum Organon in Form eines poetischen Syllogismus verankert. Für die syrisch-arabische RezeptionRezeption der griechischen Kommentatorenliteratur ist dies von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Die Poetik wird hier, wie bei den alexandrinischen Gelehrten, als logische Schrift gelesen. Dies führt im Laufe der Jahrhunderte zu erheblichen Verständnisschwierigkeiten und zu Irritationen. Die Poetik wurde als eine Schrift über die Logik der DichtungDichtung, über die Logik der poetischen Aussage, nicht aber als eine Schrift über die Dichtung selbst verstanden. Dieses Missverständnis führte zwangsläufig zu dem Problem, „welchen Wahrheitsgehalt und welches Erkenntnisvermögen man diesen poetischen Syllogismen zuordnen wollte, und da lag es nahe, ‚poetisch‘ mit ‚falsch‘ (wie EliasElias der Armenier) und weiter ‚falsch‘ mit ‚Phantasie‘ (wie Philopanos) zu verbinden“14. Von der syrischen Kopie der PoetikPoetik (Aristoteles), die als Vorlage für die arabische Übersetzung diente, ist nur sehr wenig bekannt.15 Das sogenannte Fragmentum SyriacumFragmentum Syriacum wurde erstmals von Margoliouth im Jahre 1887 ediert16 und löste rege Aktivitäten in der altphilologischen Poetik-Forschung aus, die einen bedeutenden Höhepunkt in der zweibändigen Arbeit von Tkatsch fand.Aristoteles17 Dieses Fragment ist in der Enzyklopädie Buch der DialogeBuch der Dialoge des Bischofs Mār Mattai Severus bar ŠakkūMār Mattai Severus bar Šakkū (†1241) erhalten, „der ein bedeutender Vertreter der unter arabischem Einfluß stehenden Nachblüte der peripatetischen Philosophie in der sogenannten syrischen Renaissance war“18. Die Vorlage zu diesem Fragment ist jene ominöse griechische Handschrift S19 oder Σ, die älteste Handschrift der aristotelischenAristoteles Poetik, „von der wir wissen“20, die selbst aber nicht erhalten ist. Dieser griechische Text wurde ins Syrische übertragen. Tkatsch vermutet, dass die syrischen Gelehrten frühestens im fünften Jahrhundert mit der Poetik durch diese Handschrift S oder eine andere bekannt geworden seien.Aristoteles21 Die erste nachweisbare Spur der Poetik bei den Syrern bzw. der erste Nachweis einer syrischen Übersetzung der Poetik findet sich zu Beginn der arabischen Poetik-Handschrift des Abū Bišr, wo dies ausdrücklich vermerkt ist.22 Einen syrischen Kommentar zur Poetik hat es neben der syrischen Übersetzung vermutlich nicht gegeben, eher „scholienartige Bemerkungen oder gedrängte Ausführungen über bestimmte Partien“23. Man sollte allerdings den Erkenntnisgewinn dieser Hypothesen nicht zu hoch veranschlagen, worauf auch Heinrichs ausdrücklich hinweist, denn die Kenntnis der syrischen Peripatetik sei äußerst bruchstückhaft; erschwerend käme hinzu, dass wichtige Werke nach wie vor unediert in Bibliotheken lägen und es nur wenige Anhaltspunkte für die Existenz einer vorislamischen syrischen Poetik gäbe.24 Zu den wenigen festen Anhaltspunkten gehört ein syrischer Brief des nestorianischen Katholikos Timotheus I.Timotheus I. (†823 n. Chr.)25, worin „nach irgendeinem Kommentar für das Werk der Rhetoren oder das der Poeten oder nach irgendwelchen Scholien gleichwie im Syrischen“26 gefragt wird. Die Schlussfolgerung von Tkatsch, dass dieser Brief eine frühere syrische Übersetzung der Poetik voraussetze27 und damit deren Existenz indirekt bestätige, ist aber übereilt. Denn Heinrichs weist darauf hin, dass auch im Arabischen kleinere Schriften und Notizen zur Poetik vor deren Übersetzung erschienen sind. Sein Urteil, man könne die Existenz eines Grundtextes nur vermuten, steckt den Rahmen dessen sehr deutlich ab, worauf man sich mit Recht berufen kann.28 Das Problem der Zuordnung der Poetik zum Organon im alexandrinischen Schulbetrieb ist nach wie vor ungelöst, und die Frage, zu welchem Zeitpunkt und auf welche Weise sich dieses System im syrischen Bereich sedimentiert hat, ist unbeantwortet.29 Ließe sich feststellen, in welchem Zeitraum das Organon als geschlossenes System rezipiert wurde, hätte man, so die Überlegung, einen Anhaltspunkt dafür, wann die PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) erstmals ins Syrische übersetzt worden ist. Denn die Syrer, wie später die Araber, waren bestrebt, das Organon geschlossen zu übersetzen. Gegen diese Überlegung spricht allerdings eine andere Annahme. Das Organon wurde aus religiösen Gründen in den christlichen Schulen nur bis Kapitel I, 7 der Ersten AnalytikAnalytik gelesen.30 Es wäre also denkbar, dass die syrische Poetik-Übersetzung erst sehr viel später angefertigt wurde. Beide Überlegungen haben einen mehr oder weniger hohen Plausibilitätswert, und Heinrichs bringt die unbefriedigende Forschungslage zur Existenz einer syrischen Poetik-Übersetzung im sechsten Jahrhundert mit den Worten auf den Punkt: „Man sieht, daß für eine endgültige Entscheidung neue Quellen unabdingbar sind“31. So wichtig die Einbeziehung dieser Überlegungen für die Handschriftenforschung ist, so zielführend ist für eine kulturgeschichtlichekulturgeschichtliche Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Erforschung der historischen Bedingungen einer DiskursüberlieferungDiskursüberlieferung aber auch ein anderer Sachverhalt. Heinrichs konnte nachweisen, dass sowohl die syrischen als auch die arabischen Übersetzer der Poetik ihre Übersetzungen ohne jegliches Verständnis für deren Inhalt herstellten, im wörtlichen Sinn des Begriffs. Heinrichs gibt hierfür einige Beispiele, die vor allem mit Blick auf die ideologische AristotelesAristoteles-Exegese der Frühen NeuzeitFrühe Neuzeit in Italien und Frankreich bemerkenswert sind. Denn hinter den sogenannten philologischen Missverständnissen und Fehldeutungen, und seien sie noch so produktiv, stehen meist dezidierte Erkenntnisinteressen, deren Ignorieren oder einseitige Beurteilung zugleich die Problematik überlieferungsgeschichtlicher Forschung deutlich machen. So spricht Heinrichs von der „völligen Ahnungslosigkeit der Araber (und schon der Syrer, wie das erhaltene syrische Poetik-Fragment nahelegt), was Drama und Theater eigentlich sei“32. Beispielsweise komme der griechische Begriff der opsis (Inszenierung)33 im Fragmentum SyriacumFragmentum Syriacum zweimal vor. Einmal wird er, entsprechend Poetik 1449 b 33, mit parṣōpā (Gesicht) wiedergegeben, zum anderen, entsprechend Poetik 1450 a 10, wird er mit ḥzāyā (Sehen, Sehvermögen) übersetzt.34 Ein weiteres Beispiel bezieht sich auf die aristotelische TragödiendefinitionTragödie in Poetik 1449 b 24–1450 a 9. Die zitierte Stelle aus der Poetik im syrischen Fragment wird durch einen Einschub unterbrochen, der den „ohnehin unverstandenen Satz sinnwidrig aufsprengt“35. Dieser Einschub, der als Beispiel für eine Tragödie dienen soll, lautet folgendermaßen: „David also, jener Harfenspieler des heiligen Geistes, wird ein Tragöde genannt, da er, während er singt und Harfe spielt, klagt und seufzt, wie z.B.: Mit meiner Träne habe ich mein Lager genetzt“36. Dieses Beispiel zeige, so Heinrichs, wie weit die Syrer vonPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) einem „richtigen Verständnis“37 der Tragödie entfernt gewesen seien. Für die Frage nach der Datierung der syrischen Handschrift S und besonders des Fragmentum Syriacum bedeutet dies, dass sich aus der Tatsache der wörtlichen Übersetzung kein Anhaltspunkt für die Datierung der Übersetzung selbst ableiten lässt.38 Die Poetik nimmt innerhalb der syrischen Übersetzungsliteratur aufgrund der inhaltlichen Verständnisschwierigkeiten eine „Sonderstellung“39 ein. Die wörtliche Übersetzung der Poetik im Fragmentum Syriacum ist das Ergebnis einer „Notlösung […] bei völligem Unverständnis des griechischen Textes“40. Erst den arabischen Übersetzern gelingt allmählich eine eigenständige Interpretation ihrer syrischen Vorlage(n).

Die arabische ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte der Poetik stellt einen Teil der Poetik-RezeptionRezeption dar; allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass es eine aristotelischeAristoteles Schulbildung mit institutionellem Charakter, vergleichbar der alexandrinischen Schule, im Islam nicht gegeben hat.41 Die arabischen Poetik-Übersetzungen wurden nicht nach einem griechischen Original, sondern nur nach einer oder der syrischen Vorlage angefertigt.42 Die erste arabische Übersetzung stammt von Abū BišrAbū Bišr (†940 n. Chr.) und besitzt wegen ihres hohen Alters für die Poetik-Forschung besonderes Gewicht43:

„Die Geschichte der Poetik des AristotelesAristoteles bei den Syrern und Arabern zeigt, soweit erhaltene Belege, literarische Nachrichten oder Indizien vom 8. Jahrhundert an bis zur Zeit der Entstehung der lateinischen Übersetzungen, also für einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahrtausend vorliegen, daß der Text des Abu Bisr nicht nur die älteste direkte arabische Übersetzung einer direkten syrischen Übersetzung der Poetik ist, sondern auch die älteste erhaltene Textquelle für die Aristotelische Schrift und zugleich das Original für alle seit dem 10. Jahrhundert erhaltenen oder literaturgeschichtlich nachweisbaren arabischen, syrischen und hebräischen Übersetzungen oder Paraphrasen und ihre lateinischen Bearbeitungen.“44

Diese für die Poetik-PhilologiePhilologie zweifelsfrei wichtige arabische Textquelle kann jedoch nicht über die inhaltlichen Bedenken hinwegtäuschen. Auch die Araber seien von einem „nur annähernd richtigen Verständnis“45 der Poetik entfernt gewesen, die Übersetzung des Abū Bišr wird sogar als „Mischung von Unverstandenem und Falschverstandenem, von Unverständlichem und Mißverständlichem“46 bezeichnet, gar von einem „mißratenen Zweig des arabischen AristotelismusAristoteles“47 ist, was die logische Poetik betrifft, die Rede. Hier stellt sich die Frage, weshalb sich die arabischen Gelehrten der mühevollen Arbeit einer Übersetzung unterzogen haben, wenn ihnen der Inhalt der Poetik so verschlossen geblieben ist. DiePoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) Antwort ist vor allem in dem übermächtigen Kanon des aristotelischen Korpus’ und der dominierenden Autorität aristotelischer Philosophie zu suchen. Die Poetik wurde als Folge der alexandrinischen Zuordnung zum Korpus logischer Schriften (Organon) selbst als logische Schrift gelesen. Darin ist sicherlich auch einer der Hauptgründe zu sehen, weshalb von der Poetik keinerlei Einfluss auf die arabische LiteraturtheorieLiteraturtheorie ausgegangen ist.48 Das eigentliche Motiv für den Philologenfleiß der Übersetzer und der Kommentatoren sieht Heinrichs unter Rückgriff auf die Forschungen Francesco Gabrielis im Streben nach Komplettierung des arabischen Corpus Aristotelicum, zudem stehe Abū BišrAbū Bišr im Hinblick auf seine Lehrer „in der lebenden Tradition der spätalexandrinischen AristotelesAristoteles-Studien“Isḥāq ibn Ḥunain49. Einzig Ibn al-Aṯīr erkenne den Widersinn einer logischen Terminologie, durch die der Zugang zur Poetik als Schrift über die DichtkunstDichtkunst durch deren Logisierung verstellt werde:

„Einer von den Philosophierern […] unterhielt sich einmal mit mir darüber [über den griechischen Einfluss bei den Modernen], und die Rede kam auf irgendein Werk von Abū ʿAlī Ibn Sīnā über die Redekunst und die Dichtung, das er erwähnte. Er zitierte (daraus) eine von den griechischen Dichtungsgattungen, die Lāġūḏiyā (lies: ṭrāġūḏiyā, ‚Tragödie‘) genannt wird, […] und ließ mich lesen, was er zitiert hatte. Als ich das las, da hielt ich ihn (sc. Avicenna) für einen Toren […]. Alles, was er da sagt, ist Geschwätz, von dem der Sprecher der arabischen Sprache keinerlei Nutzen hat. Mehr noch – wie er sagt, ist die Stütze der Leute beim rhetorischen Sprachgebilde [Anm. v. Heinrichs: „Und beim poetischen, wie wir sinngemäß ergänzen können“], daß es in der Form von zwei Prämissen und einer Schlußfolgerung […] gebracht wird. Das ist aber dem Abū ʿAlī Ibn Sīnā bei dem, was er (selbst) an Dichtung und Reimprosa verfaßt hat, nicht in den Sinn gekommen […]. Hätte er nämlich erst über die zwei Prämissen samt Konklusion nachgedacht und danach erst ein Vers- oder Prosastück herausgebracht, dann hätte er etwas Nutzloses herausgebracht, und die Sache hätte ihm zu lange gedauert. Nein, ich bin anderer Meinung, nämlich daß die Griechen selbst, wenn sie ihre Gedichte machten, diese nicht mit dem gleichzeitigen Gedanken an zwei Prämissen und Schlußfolgerung machten. Sondern das sind theoretische Setzungen, die gemacht wurden […] und mit denen ihre systematischen Werke über die Rhetorik und die Dichtung in die Länge gestreckt wurden. Sie sind, wie man sagt, ‚Wasserblasen ohne Nutzen‘.“50