Ohne Obdach

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Matthias Unterwegs

OHNE OBDACH

Leben auf der Straße

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016


Foto: Marie Löwe

Matthias Unterwegs

- geboren 1958 in der DDR

- nach der vom Regime verweigerten Zulassung zum Abitur Ausbildung zum Krankenpfleger, anschließend Theologiestudium

- etwa 20 Jahre Gemeindepfarramt im ländlichen Bereich / nach der sog. Wende zahlreiche Begegnungen mit Obdachlosen, die im Pfarrhaus um Hilfe baten

- ab 2004 Klinikseelsorger / in dieser Zeit Basisausbildung in Prozessorientierter Psychologie

- bis Sommer 2017 von der Heimatkirche beurlaubt / Mitarbeit in einer protestantischen Gemeinde in Südfrankreich als ehrenamtlicher Pfarrer / Lebensunterhalt dort als Gärtner und Reparaturhandwerker in gedanklicher Nähe zum Arbeiterpriestertum / Weiterführung des Studiums am Institut für Prozessorientierte Psychologie in Zürich

Alle Erlöse des Autors aus diesem Buch

kommen Obdachlosenprojekten zugute.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Für Berti und Peter, für Ruben und Sven, sowie für Hermann und Harry, die in diesem Buch zum Teil anders heißen und für alle Namenlosen, die keine dauerhafte Bleibe haben.

Ein Schüler fragte den Rabbi:

„Früher gab es Menschen, die Gott von Angesicht zu Angesicht

gesehen haben. Warum gibt es die heute nicht mehr?“

Darauf antwortete der Rabbi:

„Weil sich niemand mehr so tief bücken kann!“

Jüdische Legende

Inhalt

Cover

Titel

Über den Autor

Impressum

Widmung/Zitat

TEIL I

Aufbruch

Das Foyer le Relais

Übersehen werden

Deutschland – Erfahrungen als Durchreisender

Freiheitsberaubung?

Notunterkünfte in und um Stuttgart

Ulm – eine Weile vor Ort

Krise

Geburtstagsgeschenke

Zwischenstation

Montpellier – unter den Brücken

TEIL II

Zwischenbilanz

Schatten der Stadt

Engagement für Menschen ohne Obdach

Die Vesperkirche

Das Gesundheitszentrum für Obdachlose der

Jenny De la Torre Stiftung

Das Grab mit den vielen Namen

Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan

Der Spur des Herzens folgen

Zahlen und Fakten

Fehlende Krankenversicherung

Betteln und das Recht

Sinti und Roma

Was tun in der Begegnung?

Mein Weg in das Projekt

Eine leise Antwort

Danksagung

Kein Nachwort, aber ein Brief an Matthias

TEIL I
Aufbruch

Gegen drei Uhr werde ich wach. Es ist mitten in der Nacht. In der Luft liegt eine große Feuchtigkeit. Es ist eiskalt. Aus dem Bambusgebüsch, das mir zum Nachtquartier geworden ist, heraustretend sehe ich die dicken Schneeflocken. Wie komme ich durch diese Nacht? Die Zeit wird lang. Hier kann ich nicht bleiben. Ich packe die Sachen und will mich warm laufen. Dicke Schneeflocken schmelzen auf der Jacke. So werde ich bald durchnässt sein. In diesem Moment weiß ich zum Glück nicht, dass es in den nächsten Wochen für Südfrankreich außergewöhnlich kalt bleiben wird. In Carcassonne, nur etwa 50 km vom Mittelmeer entfernt, wird am 3. Mai dick Schnee liegen. Keiner kann sich erinnern, dass es das je gegeben hat. Ich werde dann in Montpellier sein, wo es nicht friert, aber in Unmengen eiskalt regnet. Der im Bau befindliche Regenwasserkanal, der dort mein geschützter Schlafplatz sein wird, wird sich fluten.

Gestern, am 7. März bin ich aufgebrochen. Ich habe mich entschieden, zwei Monate das Leben auf der Straße zu teilen. Zurzeit lebe ich in Frankreich in der Nähe von Toulouse. Beginnen will ich mit diesem Weg in Albi. Warum kann ich nicht genau sagen. Ich folge einem inneren Impuls. Mir ist etwas unheimlich und ich habe Sorge, ob ich das aus- und durchhalte. Ich packe einen Rucksack mit Schlafsack, Isomatte, ein bisschen Wechselwäsche. Das Telefon und die Bankkarten bleiben zu Hause. Knapp zwanzig Euro habe ich dabei. G. bringt mich in den Nachbarort an den Bahnhof und setzt mich ab. Das erste Problem habe ich bereits am Fahrkartenautomaten. Er akzeptiert nur Münzen oder eine Bankkarte. Der Schalter ist geschlossen. Ich suche eine Kneipe, um einen Schein zu wechseln. Zum Glück gelingt es mir, mich mit meinen wenigen Brocken Französisch verständlich zu machen.

Im Zug macht mich eine freundliche Schaffnerin darauf aufmerksam, dass ich meine Fahrkarte nicht „compostiert“ hätte. Die Entwertung ist bei jeder französischen Fahrkarte vor dem Einstieg nötig, sonst gilt das als Schwarzfahren. Doch die Schaffnerin sieht von einer Bestrafung ab. Mein Zug fährt durch Toulouse. Unter einer großen Straßenbrücke sehe ich ein kleines Lager: Zelte, Matratzen, eine Feuerstelle. Da wohnen Menschen im wahrsten Sinn des Wortes unter der Brücke.

Am Nachmittag komme ich an. Albi ist eine kleine Stadt mit einer alten festungsartigen Kirche. Vier Euro achtundneunzig habe ich noch in der Tasche. Auf der Straße grüßt mich eine Frau freundlich. Ich frage sie nach einer Bäckerei und wo man schlafen könne: „Je suis sans abri“1. Sie zeigt mir den Weg zur nächsten Bäckerei, dann weist sie mich auf eine Anlaufstelle mit dem Namen „Colibri“ hin, die Obdachlosen weiter helfe. Ich reime mir das aus den Bruchstücken, die ich verstehe, zusammen und nehme die Richtung wahr, in die sie zeigt. Zuletzt schnorrt sie mich an, bittet um einen Euro für Brot. Ich zögere einen Augenblick – was bleibt mir denn dann? – und gebe ihr den Euro. Das Körnerbaguette, das ich in der sonntags geöffneten Bäckerei kaufe, schmeckt köstlich. Ich esse sparsam, es soll durch den restlichen Tag reichen. In der vage angezeigten Richtung finde ich das Colibri-Büro nicht. Eine Passantin fragt mich, wonach ich suchen würde. Ich versuche ihr zu sagen, dass ich ohne Obdach sei und einen Ort zum Schlafen brauche. Ob ich bezahlen könne – „Non“. Und sie zeigt mir den Weg zum „parc de loisir“2. Da gäbe es auch Wasser, um sich zu waschen. Ich finde den Freizeitpark am Tarnufer. Es gibt Spazierwege, Picknickplätze, Spielgeräte und einen größeren Teich, sowie am Rand einen Gebäudekomplex „salle de fête“ mit von außen zugänglichen Toiletten. Ein guter wirklich geschützter Schlafplatz ist auf den ersten Blick nicht zu finden. Was nun? In der Nähe des Bahnhofes hatte ich an einem Haus die Aufschrift gelesen „Église Évangélique“3. Da würde man einem Obdachlosen das Nachtquartier wohl nicht verweigern – oder? Doch ich will die erste Nacht auf diesem Weg im wahrsten Sinn des Wortes ohne Obdach verbringen, auch wenn mir unheimlich ist. Ein hohes Bambusgebüsch an einem Hang soll mich beherbergen. Noch scheint volle Sonne, doch im Wind liegt zunehmend eisige Kälte. Kinder spielen. Jogger sind unterwegs. Familien haben sich zum Picknick nieder gelassen. Bald leert sich der Park. Was kann ich jetzt tun? Auch wenn es schon dunkel wird, ist es noch lange hin bis zu der Zeit, zu der ich normalerweise schlafen gehe. Es ist ganz ungewohnt, nichts zu tun. So ziehe ich noch einmal los, um Albi zu erkunden. Dabei finde ich zufällig das Büro von „Colibri“ und stelle fest, dass es heute ohnehin nicht geöffnet hatte. Montags bis freitags darf man von 9 bis 12 Uhr auch ohne Termin dorthin kommen. An der Kathedrale lässt ein Priester durch einen Seitenausgang eine Frau mit einem Kind heraus. Soll ich ihn nach einem Schlafplatz fragen? Ich gehe weiter. In dem Haus mit der Tafel „Église Évangélique“ brennt Licht. Ich könnte klingeln. Doch ich will zu meiner Entscheidung stehen, diese erste Nacht im Freien zu schlafen. Ich habe Hunger. Restaurants verheißen Menüs zu durchaus erschwinglichen Preisen. Doch mein Geld reicht nicht. Ich bleibe draußen.

 

Zurück im Park richte ich mich in dem Bambusgebüsch ein. Das ist in dem Geländegefälle gar nicht leicht. Ich ziehe in mehreren Schichten fast alle Kleidung an, die ich dabei habe. Am Rande des Parks fährt eine Polizeistreife entlang. Wenn die mich hier finden, was dann?

Und nun bin ich also wach durch Kälte und Schnee. Die Nacht ist noch lang. Mir wird bewusst, dass das Besondere dieses Weges vielleicht im Zeithaben liegt. Doch im Moment möchte ich nur, dass die Zeit vergeht. Aber es ist doch meine Lebenszeit! Kann ich mir wünschen, dass sie vergeht? Wie kann ich in der Zeit sein – auch in solchen Augenblicken? Mein Schlafplatz für die restliche Nacht wird ein Pflaster aus einbetonierten Kieselsteinen vor den überdachten Waschbecken außen vor den öffentlichen Toiletten. Ich finde etwas Schlaf, werde immer wieder wach und bleibe noch bis sieben Uhr liegen. Als es hell wird, ist alles weiß! Es wird den ganzen Tag nicht aufhören zu schneien. Das Geld reicht noch für ein Baguette und einen Kaffee in der Bäckerei. Die Heizkörper im Bahnhofsgebäude sind warm. Das tut gut. Gegen neun Uhr gehe ich in die Kathedrale in die persönliche Stille.

In der Beratungsstelle „colibri“, sitzen ein paar Leute rum. Einige spielen Brettspiele. „Je suis sans abri, je cherche un lieu pour dormir“4 bringe ich mühsam die auswendig gelernten Wörter heraus, zu denen ich noch nicht wirklich Kontakt habe. Ein Mann gibt mir einen Kaffee und lässt mich wissen, dass eine der Frauen mich nachher beraten wird. Freundlichkeit kommt mir entgegen. Schließlich sitze ich zwei Frauen gegenüber. Sie fragen zwar nach meinem Namen und Geburtsdatum, aber ich muss mich nicht ausweisen. Als sie wissen wollen, warum ich auf der Straße sei, sage ich, dass ich bei einer Freundin gewohnt hätte und mache eine Geste, die alles heißen kann. Sie fragen nicht weiter nach. Alle Schlafplätze in Albi sind belegt. Es gäbe die Möglichkeit, für drei Tage in einer etwa 20 Kilometer entfernten Stadt in einer Notunterkunft des Croix-Rouge5 zu bleiben. Danach könnte ich gern wiederkommen. Dann klingelt das Telefon. Ein neues Angebot. In Lisle-sur-Tarn gibt es ein Foyer, das freie Plätze hat. Da könnte ich auch länger bleiben. Dazu gäbe es dort Sozialarbeiter, die mir weiterhelfen könnten. Bis 17 Uhr müsste ich dort sein. Wie ich das schaffe, bleibt allerdings mein Problem. Es sind fast 30 km. Die Bahnfahrkarte kostet 5,80 Euro. Mit dem „Tarnbus“ sind es nur zwei Euro, egal wie weit man in der Region Tarn fährt. Das ist sehr sozial und umweltfreundlich. Aber auch diese zwei Euro habe ich nicht. Mir sind ein paar Cent geblieben.

Ich werde betteln. Ohnehin will ich in den nächsten Monaten die verschiedenen Formen des Bettelns ausprobieren. Wie fühlt sich das an? Wie geht es mir damit? So schreibe ich auf ein Schild, das ich an meinem Rucksack befestige, meinen Satz „Je suis sans abri“ und stelle mich in eine Passage, die in einen Supermarkt führt, in der Hand den leeren Pappkaffeebecher vom Frühstück in der Bäckerei. Fast alle Leute schauen an mir vorbei. Die erste, die mir etwas gibt, ist eine junge Frau. Sie überreicht mir ein belegtes Baguette, eine Tüte mit zehn kleinen Milchbrötchen und eine Flasche Wasser. Ab und zu bekomme ich eine kleine Münze. Zwei Schülerinnen geben mir ein paar Cent. Mich berührt das, denn es hätten meine Töchter sein können in jener Zeit, als sie noch ins Gymnasium gingen. Ich weiß, dass sie immer wieder Obdachlosenzeitungen kaufen und den Preis in der Regel aufrunden, trotz begrenzter Finanzen. Mir kommen Tränen in die Augen, auch als eine Frau mir Münzen im Wert von mindestens zwei Euro gibt. Inzwischen ist so ein Betrag für mich ein kleines Vermögen, denn das „Geschäft“ scheint mühsam zu sein. Ein Mann spricht mich an und weist mich auf die Anlaufstelle „Colibri“ hin. In mir ist ein tiefes Schamgefühl. Ich versuche zu differenzieren. Rührt das daher, dass ich nicht in echter existentieller Not bin, also zum Überleben hier nicht stehen müsste, weil ich jederzeit nach Hause fahren könnte? Ist es eine Art Lüge? Nehme ich jemandem den Platz weg? Als ich das alles abgearbeitet habe, bleibt ein Anteil tiefer Beschämung, sich helfen lassen zu müssen. Ich komme auf meinem Weg jetzt tatsächlich nicht ohne Hilfe weiter. Nach zwei Stunden habe ich gut sechs Euro zusammen. Später werde ich erleben, dass dieses, was mir kläglich erscheint, ein veritabler Erfolg ist. Nicht immer läuft es so gut.

Ich laufe zum Busbahnhof. Der Bus ist gerade weg. Der Nächste fährt so spät, dass ich nicht pünktlich in Lisle-sur-Tarn ankommen würde. Also muss ich den Zug nehmen. Mit dem Ticket ist meine „Kollekte“ wie gewonnen so zerronnen. Doch mir wird bewusst, für diesen Tag ist gesorgt, mehr brauche ich heute nicht.

Das Projekt ist nicht einfach zu finden. Menschen, die ich anspreche, wissen nichts davon. Andere zeigen mir vage eine Richtung. Zwischendurch lande ich bei einem öffentlichen Gebäude in einer Rentnerrunde, die gerade vom Kaffeetrinken aufgestanden ist. Wieder erhalte ich nur eine ungefähre Richtungsangabe. Das Städtchen ist allerliebst und hätte in jedem Reiseführer in Deutschland drei Sterne. Es gibt einen kleinen quadratischen Marktplatz, von uralten Fachwerkhäusern mit Arkaden umgeben. Doch mich erreicht die Schönheit erst mal nicht. Ich gerate in Panik. Die Zeiger der Uhr rücken immer dichter auf 17 Uhr zu. Schließlich finde ich mein Ziel. Es liegt auf der anderen Stadtseite jenseits des Flusses und gehört wohl schon zur nächsten Kommune.

Das Foyer le Relais

Das Gebäude wirkt wie ein brandenburgisches Gutshaus – hohe Fenster mit Fensterläden, ein großer Vorraum, von dem eine breite Treppe nach oben führt. Auch hier werde ich freundlich begrüßt. Ich soll warten. Vor Fünf haben sie gar nicht mit mir gerechnet, offensichtlich hätte ich auch viel später kommen können. Oh, da hätte auch der spätere Bus gereicht und ich hätte noch ein paar Euro mehr in der Tasche. Egal, es ist wie es ist. Ich werde in ein Buch eingetragen: Name und Geburtsdatum werden erfragt. Keiner will wissen, warum ich auf der Straße bin. Wieder fragt niemand nach Papieren. Ich muss die Hausordnung unterschreiben. Der wichtigste Punkt: keinen Alkohol! Wir sind hier ein gutes Dutzend Männer, darunter offenbar noch ein paar andere Ausländer. Damnia sieht so aus, wie ich mir einen Inder vorstelle. Er trägt lange zerschlissene lockere Kleidung und hat zwei Federn im Haar. Trotz des Frostes läuft er ohne Strümpfe. Zum Essen zieht er einen Holzlöffel irgendwo aus den Tiefen seiner Kleidung. Es folgen Stäbchen, mit denen er isst. Etwas Ruhiges und Respektverschaffendes geht von ihm aus.

Es gibt einen streng geregelten Tagesablauf. Wenn ich dieses „Foyer“, wie die Franzosen es nennen, näher kennenlernen will, dann heißt das im Moment für mich: freies Leben auf der Straße adé. Das Projekt vom Roten Kreuz wäre dichter an Albi gewesen und hätte mir auf den ersten Blick besser gepasst. Dennoch entschließe ich mich, ein paar Tage zu bleiben und will einfach dem folgen, was sich mir auftut. Ich lasse mich ein, mit dem Wissen, jederzeit weiterziehen zu können. Mein Bett steht in einem Drei-Bett-Zimmer. Ein Zimmerkollege – Abdullah – kommt aus dem Sudan. Er ist sehr fürsorglich, erklärt mir alles und versorgt mich später am Tisch mit Essen. Es gibt ein reichliches Abendbrot – Kürbissuppe, Gemüse und Entenfleisch mit Reis, verschiedene Käse und als Dessert einen Joghurt. Jeder muss irgendwie mittun. Einige haben gekocht, andere decken den Tisch, die übrigen sind im Abwaschteam. In Deutschland wäre es wahrscheinlich schon ein Problem, ohne Hygieneausweis die Küche zu betreten.

Am Abend sitzen viele im Tagesraum und sehen fern. Um 23 Uhr ist Nachtruhe. Um halb acht wird geweckt. Der Tag ist klar strukturiert. Es gibt ein petit déjeuner6 - eine Schale Kaffee, Kakao oder Milch und ein oder zwei Croissant oder ähnliches. Das Toastbrot hat einen ganz leichten Schimmelgeschmack. Dann wird gemeinsam das ganze Haus gereinigt. Jeder bekommt eine Aufgabe. Neben dem eigenen Zimmer bin ich für einen Waschraum mit zuständig. Um halb neun treffen wir uns zur Arbeitseinteilung. Jeder, der hier bleiben will, muss eine Arbeit übernehmen. Ich spalte gemeinsam mit Georgio mit einer Spaltaxt, Keilen und einem Vorschlaghammer Holz, das wir unten im Keller dicht an der Holzheizung aufstapeln. Andere schneiden in einer Art Gewächshaus auf der anderen Straßenseite dünne Holzleisten auf Maß und bündeln sie für den Verkauf auf dem Markt als Kaminanzündeholz. An Schautafeln kann ich sehen, dass von diesem Projekt her im Sommer Arbeiten durchgeführt werden, wie sie in Deutschland über ABM realisiert werden: Wanderwege anlegen und markieren, Rastplätze bauen etc. Die Vormittagsarbeit wird durch eine kleine Kaffeepause unterbrochen. Die Mittagspause dauert einschließlich der üppigen Mahlzeit zwei Stunden. Es gibt wieder Kürbissuppe, dazu etwas Ähnliches wie Couscous mit einer Gemüsepfanne und Fleischbällchen aus Lammfleisch, wieder Käse, eine gekochte Birne mit Schokoladensoße und einen Kaffee. Das Essen wirkt ein bisschen wie Schlaraffenland. Die Mitarbeitenden essen mit, dazu eine ganze Reihe Männer in Arbeitskleidung, die nicht hier im Haus schlafen.

Nachmittags wird wieder gearbeitet. Ich wasche mit einem Lösungsmittel die Wände im verrauchten Aufenthaltsraum ab, der frisch gestrichen werden soll. Auch die Nachmittagsarbeit wird noch einmal durch eine Kaffeepause unterbrochen, das in Frankreich mancherorts übliche goûter, was ich noch nicht kenne.

Nach Arbeitsschluss erkunde ich das Städtchen. Nicht weit von der recht großen Kirche beginnt der Markt. Es gibt ein Internetcafé. Dort sehe ich Damnia, der wieder barfuß unterwegs ist. Er sitzt vor einem Bildschirm und hat ziemlich viele Mails vor sich. Ich hatte mir für diesen Weg eine neue Mailadresse eingerichtet. Nur die Kinder und G. kennen sie, damit ich im Notfall erreichbar bin. Ich habe versprochen alle paar Tage hinein zu schauen. Das tue ich heute zum ersten Mal. Eine halbe Stunde im Internetcafé kostet 1,50 Euro. Ich habe nur noch 90 Cent und darf für eine Viertelstunde ins Netz. G. schicke ich eine kurze Nachricht, damit sie weiß, wo ich bin. Später erfahre ich, dass das eine erste Beruhigung für sie war. Auch zu Hause hatte es geschneit und sie hatte viel Angst um mich. Es ist der dritte Tag dieser Reise. Ich bin so voller Eindrücke, dass es mir erscheint, als wäre ich schon viel länger unterwegs.

Ich versuche, mir im Haus an der Aufgabenliste die Namen der anderen Mitbewohner einzuprägen. Frank teilt andere mit ein und scheint so eine Art Vorarbeiter zu sein. Abends kommt Jan ins Haus, dem man den Sozialarbeiter schon ansieht. Abdullah ist weiterhin sehr fürsorglich. Er macht mir klar, dass ich alles Wichtige immer bei mir tragen sollte. Im Zimmer sei das nicht sicher. Als ich am Abend die Zeit verpasse, holt er mich zum Essen.

Am nächsten Morgen steht er ganz früh auf und geht. Da die meisten seiner Sachen noch hier sind, denke ich, dass er zurück kommen wird. Ich werde ihn nicht wiedersehen.

 

Meine heutige Arbeitsaufgabe ist, den Tagesraum weiter für die Renovierung vorzubereiten. Der Fernsehschrank muss geschliffen werden. Zum Mittagessen gibt es große Hühnchenteile, einen Salat mit Couscous und wieder Käse und Dessert. Übriggebliebenes von gestern, wie die restlichen Birnen in Schokoladensoße, wird mit aufgetragen. An diesem Nachmittag – es ist Mittwoch – wird nicht gearbeitet. Das gehört zur Ordnung des Hauses. Ich schlafe zwei Stunden, dann spaziere ich durch das Städtchen. Die Tourismusinformation, wo ich etwas mehr über die Region erfahren wollte, ist geschlossen. Etwas abseits im Ort steht das Pfarrhaus. Ich könnte ja den Priester mal nach einer französischen Bibel fragen. Doch nach dem Zeitplan, der an der Kirchentür hängt, müsste er gleich Messe im Altersheim haben. Da will ich lieber nicht stören. Am Bahnhof stelle ich fest, dass eine Fahrkarte 10,20 Euro kostet. Die muss ich also aufbringen, wenn ich von hier zu meinem ersten Zwischenaufenthalt nach Hause aufbrechen sollte7. Ob ich das mit der Mundharmonika erspielen kann? Aber dazu muss ich wohl wieder in die nächstgrößere Stadt. Doch dann müsste ich mir den Weg dorthin ja auch noch erbetteln.

Die ersten Tage bringen mir eine erstaunliche Erkenntnis: Die meisten Obdachlosen sind als solche nicht erkennbar. Sie sind gepflegt, denn in solchen Anlaufpunkten und Foyers gib es Gelegenheit, sich zu duschen, sich zu rasieren und zu essen. Ich sehe sie mit Handys, die mein uraltes Nokia, das ich zu Hause gelassen habe, völlig in den Schatten stellen. Die, die ich als Obdachlose vor Augen und in meiner Vorstellung hatte, sind vielleicht jene, die sich in einer Weise aufgegeben haben und diese Möglichkeiten nicht mehr nutzen.

Was mache ich hier eigentlich? Ich glaube, es geht darum, einfach in dem, was gerade da ist, zu bleiben und wahrzunehmen, was um mich herum und mit mir geschieht. Und vielleicht lässt sich die Zeit nutzen, um weiter Französisch zu lernen.

Beim Weg durch das Städtchen kommt mir die Frage, ob ich nicht heute schon mal betteln könnte. Aber irgendwie ist das nicht dran. Heute brauche ich kein Geld. Das kann ich übermorgen machen. Damnia ist losgezogen, barfuß mit einem Bambusstab. Der Boden ist gefroren, auf den Pfützen liegt Eis.

Donnerstag – dem Aushang an der Kirche habe ich entnommen, dass um 9 Uhr eine Messe sein soll. Als ich frage, ob ich da hingehen kann, wirkt das offenbar belustigend. Aber ich erhalte die Erlaubnis. Leider finde ich die Kirche verschlossen vor. Nach einer Weile mache ich mich auf den Weg zum Centre parossial, dem Pfarrhaus. Auf mein Klingeln hin ertönt eine Stimme aus der Sprechanlage. Dann öffnet eine alte Frau oben ein Fenster. Ob sie mich verstanden hat, weiß ich nicht. Ich kann ihre Antwort jedenfalls nicht deuten und warte weiter. Irgendwann öffnet ein älterer kleiner Mann. Ich frage nach der Messe und er sagt „terminée!8“ Es ist halb zehn. Ob er sie zu Hause gelesen hat, weil sowieso keiner in die Kirche kommt? Ich frage ihn nach einem Neuen Testament. Er verschwindet, lässt mich im Flur warten. An einer Tür ist ein Wort von Mutter Teresa, das ich so verstehe, dass man in jeder Person, die einem begegnet, Christus sehen solle. Der alte Mann kommt mit einem kleinen Buch in der Hand zurück und gibt es mir. Es riecht muffig nach altem stockigem Papier. Es ist eine Ausgabe von 1952, aber besser als gar nichts. Um mit mir vertrauten Texten Französisch zu lernen, ist es gut genug.

Heute ist es meine Aufgabe, in der Küche mit Yves und Jean-Louis das Essen vorzubereiten. Die Malerarbeiten macht Mefo. Das Verhalten am Tisch ist sehr sozial. Ich staune, wie das restliche Fleisch miteinander geteilt wird. Unter den Mitarbeitenden ist eine Neue, Beatrice, wohl auch eine Sozialarbeiterin. Sie lässt mich wissen, dass sie um 15 Uhr mit mir sprechen wolle. Ich habe Herzklopfen. Doch das Gespräch ist behutsam. Sie stellt keine bohrenden Fragen. Ich sage ihr, dass ich wahrscheinlich am Montag oder Dienstag zu einer Freundin bei Toulouse fahren könne. Ja, ich dürfe so lange bleiben. Ich frage sie, wer das alles hier bezahle und erfahre, dass das Projekt vom Conseil regional9 mit öffentlichen Geldern finanziert wird. Frank erzählt mir später von der Geschichte des Hauses. Es habe mit weiteren Grundstücken einem kinderlosen Ehepaar gehört. Dieses habe es schon vor dem zweiten Weltkrieg der Kommune vererbt mit der Auflage, es für junge Menschen in Not zu nutzen. In der Zeit der Besatzung sollen Nazis dort residiert haben.

Jetzt dient es der Reintegration von Obdachlosen. Jeder, der in Not ist, wird aufgenommen. Wer einen Integrationsvertrag unterschreibt, bekommt ein Einzelzimmer und einen Arbeitsvertrag auf Mindestlohnbasis. Davon muss er dann an das Haus Unterhalt abgeben. Die nächste Stufe der Integration ist dann eine eigene Wohnung in der Umgebung, während man in dem Projekt weiterarbeitet. Die Männer, die zum Mittagessen kommen, gehören wohl zu dieser Gruppe.

Am Nachmittag hat mich eine große Traurigkeit erfasst, ohne dass ich richtig weiß, was das ist. Meine Trennungsgeschichte ist präsent und ich hänge in den immer gleichen Gedankenschleifen, ob es nicht doch einen anderen Weg gegeben hätte …

Die Zeit wird mir lang und ich habe kein Geld, um ins Internet zu gehen, ein Lebenszeichen abzusetzen oder zu schauen, ob G. geantwortet hat. Ich werde morgen einen Versuch starten zu betteln. Abends um halb neun bin ich noch mal in dem schönen Städtchen. Es liegt wie ausgestorben da. Montag will ich sehen, dass ich hier wegkomme. Vier Tage noch, bzw. dreieinhalb. Soll ich ausharren, ich habe doch erfahren, wie es hier läuft. Aber ich merke, dass es wie in der Begleitung von Komapatienten10 ist. Damit etwas geschehen kann, muss man dran bleiben und die Leere und das scheinbare Nichts aushalten.

In der Mittagsdienstbesprechung gab es fast eine Schlägerei. Xavier, der dunkelhäutig ist, ging hoch wie eine Rakete. Er hatte einen Disput mit Yves, der dabei ganz ruhig blieb. Hinterher hat mir Frank erzählt, wie Yves Xavier provoziert hatte mit „Fucknigger“ und anderen diskriminierenden Ausdrücken. Yves provoziert gern. Mir versucht er obszöne französische Wörter beizubringen, mit denen ich die Sozialarbeiterin ansprechen solle und glaubt wohl, dass ich die Bedeutung nicht verstünde.

Ein neuer Tag. Letzte Nacht habe ich geträumt, dass ich mit meinen Kindern und weiteren Menschen aus meiner Vergangenheit unterwegs bin. Da ist eine S-Bahn, in die etwas verladen wird. Wir können zurück fahren. Doch plötzlich sind keine Gleise mehr da, nur noch zerbrochene Schwellen.

Vormittags gibt es dann richtig Stress. Alle müssen sich im Tagesraum einfinden. Immer zwei der Mitarbeiter gehen mit einem von uns auf sein Zimmer. Irgendwann wird mir klar, dass sie nach Alkohol suchen. Auch ich muss mein Zimmer zeigen, wo sich jedoch nichts findet. Mefo, der in den letzten Tagen super gearbeitet hat, ist total aggressiv. Er muss gehen. Offenbar ist er es, der gestern Abend beim Trinken gesehen wurde. Er geht fein rausgeputzt, aber hinterlässt sein Zimmer verwüstet. In der Dusche hinterlässt er mit schwarzer Schuhcreme verschmierte Handtücher. So schnell kann die freundliche Stimmung kippen.

Bei Frank haben sie Bierflaschen gefunden. Er, der einen Integrationsvertrag hat, wird verwarnt und für drei Tage ausgesperrt. Er darf das Haus nicht betreten, obwohl es weiter Nachtfrost gibt. Mir sagt er, es sei gerecht. So seien die Regeln. Er hätte es gewusst und einen Fehler gemacht. Dafür müsse er gerade stehen.

Am Nachmittag unternehme ich einen zweiten Anlauf, in die Messe zu gehen. Sie soll in einer Kapelle in der Hafenstraße sein. Aber auch da stehe ich und warte vor verschlossener Tür. Mal sehen, ob sich das später noch mal aufklärt.

Heute will ich nun aber ins Email-Postfach sehen und auch eine Nachricht senden. Aber ich habe kein Geld. Ich brauche ungefähr einen Euro, besser noch eins fünfzig. Ich traue mich nicht zu betteln. Frank ist auf dem Marktplatz. Ich schäme mich. Als er weg ist, wage ich es. Heute will ich Leute direkt ansprechen. Um meine Hemmungen zu überwinden, entscheide ich, dass ich zehn Leute ansprechen werde. Es sind dann elf oder zwölf. Ein totaler Misserfolg! Einige ignorieren mich. andere sagen, sie hätten kein Geld dabei. Nur eine Frau ist sehr freundlich und erklärt mir, wo die Herberge „Le Relais“ ist. Ich hatte versucht, ihr klar zu machen, wofür ich das Geld brauche und weiß am Ende nicht, ob sie mich verstanden hat und ob sie wirklich nichts dabei hat, wie sie sagt. Ich gehe zum Pfarrhaus. Vielleicht kann ich dort ins Internet. Es ist nur die alte Frau da. Sie ist recht freundlich und meint, ich solle es am nächsten Tag doch auf der Post versuchen. Erst hinterher fällt mir ein, dass ich sie ja wenigstens um einen oder zwei Euro für das Internetcafé hätte bitten können. So etwas Blödes, da bin ich wie gelähmt und nicht so richtig handlungsfähig. Meine ganze Energie ist nötig, um ein paar zurechtgelegte Vokabeln miteinander zu verknüpfen.

Im Relais arbeite ich wieder in der Küche mit. Es sind drei Neuankömmlinge da. Später ziehe ich nochmal los und setze mich vor den kleinen Supermarkt nur wenige Schritte vom Markplatz und spiele Mundharmonika, meine Mütze vor mir. Es gibt überhaupt keine Reaktion. Ob das an dem kleinstädtischen Gepräge liegt? Ach, ich habe Sehnsucht nach G. Hoffentlich schlummert im Netz keine dringende Mail! Beim Spielen mit der Mundharmonika gelingt es mir, für Augenblicke die Absicht zurückzustellen und einfach die Lieder in dieses Feld zu geben: Abendlieder, Volkslieder und Choräle – „Großer Gott, wir loben dich“ …

Ein neuer Tag. Das Essen ist schmaler geworden, so mehr Resteküche. Doch heute nach dem Mittagessen kommt eine Art Nahrungsmittellieferung. Ein Teil der Verpackungen z.B. Schmelzkäseecken ist schlicht weiß und hat eine kleine EU-Fahne als Aufdruck. Sie müssen aus irgendwelchen EU-Lagerbeständen kommen. Anderes ist wieder ein Sammelsurium und könnte aus Spenden einer Organisation wie der Tafel in Deutschland kommen. Die Lebensmittel werden sortiert. Ein Teil wird in der Küche eingelagert. Ein Teil wird in kleinere Partien aufgeteilt. Diese holen die Männer ab, die mit uns Mittag essen, ohne hier zu wohnen. Ich weiß noch nichts von der landesweit organisierten Banque alimentaire11. Etwa ein Jahr später werde ich in der Toulouser Niederlassung eine Weile als Ehrenamtlicher mitarbeiten. Ich werde Lebensmittelspenden sortieren oder nachmittags Bestellungen von Hilfsorganisationen und Initiativen für die Abholung vorbereiten. Im Moment ist das in weiter Ferne. Ich habe nur eine Ahnung davon, was es mit der Lieferung auf sich haben könnte.