Loe raamatut: «Pardona 3 - Herz der tausend Welten»
Impressum
Ulisses Spiele
Band US25735
Titelbild: Dagmara Matuszak
Aventurien-Karte: Daniel Jödemann
Redaktion: Nikolai Hoch
Lektorat: Frauke Forster
Korrektorat: Claudia Waller
Umschlaggestaltung und Illustrationen:
Steffen Brand, Nadine Schäkel, Patrick Soeder
Layout und Satz: Nadine Hoffmann, Michael Mingers
Administration: Christian Elsässer, Carsten Moos, Johanna Moos, Sven Paff, Stefanie Peuser, Marlies Plötz, Markus Plötz, Cora Elsässer Marketing: Philipp Jerulank, Björn Meyer, Katharina Wagner, Wolfgang G. Wettach Ulisses Digital: Alina Conard, Nico Dreßen, Thomas Engelbert, Nele Klumpe, Julia Metzger, Phillip Nuss, Maximilian Thiele, Jan Wagner, Carina Wittrin, Kai Woitczyk Verlag: Zoe Adamietz, Jörn Aust, Mirko Bader, Steffen Brand, Bill Bridges, Timothy Brown, Simon Burandt, Carlos Dias, Christiane Ebrecht, Frauke Forster, Christof Grobelski, Kai Großkordt, Darrell Hayhurst, Markus Heinen, Nikolai Hoch, Nadine Hoffmann, Johannes Kaub, Christian Lonsing, Matthias Lück, Susanne Majewski, Thomas Michalski, Elisabeth Raasch, Nadine Schäkel, Maik Schmidt, Ulrich-Alexander Schmidt, Nils Schürmann, Eric Simon, Alex Spohr, Anke Steinbacher, Ross Watson Vertrieb: Nils Herzmann, Jan Hulverscheidt, Anke Kühn, Thomas Schwertfeger, Stefan Tannert
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Mháire Stritter & Nicolas Mendrek
Herz der
tausend Welten
Pardona III
Ein Roman in der Welt von
Das Schwarze Auge©
Originalausgabe
Mit Dank an Bernhard Hennen
Prolog
»Ich bin mir sicher.« Acuriën glitt in mehreren Hundert Schritt Höhe im schwindenden Licht der untergehenden Sonne durch die Luft. Die Augen des Falkenkörpers, den er nutzen musste, sahen noch klar, ihr Blick heftete sich auf eine kleine Gruppe von Gestalten.
»Ich bin mir sicher, dass sie keine Gefahr für Euch darstellen«, fügte er hinzu, gezwungen, wahrheitsgemäß Bericht zu erstatten. Die Worte klangen nur in dem formbaren, gestaltlosen Ich nach, das ihn noch ausmachte, aber er war nicht der Einzige, der seine Gedanken hören konnte.
Er spreizte die Flügel, kippte in eine Kurve und versuchte die Höhe zu halten, während er die Gestalten im Auge behielt. Er wusste lediglich, dass sie selbsternannte Helden waren, die die Taten von Pardona aufhalten wollten – einer Frau, deren Namen sie nicht recht sprechen konnten und von deren Leben oder Hintergrund sie nicht mehr wussten, als dass sie aufgehalten werden sollte. Sie würden scheitern, wie alle anderen vor ihnen.
Pardona – Amadena, Tochter des Goldenen Drachen Pyrdacor und der blinden Hochkönigin Orima und Trägerin vieler Namen – hatte Acuriëns Seele in den Körper eines Falken gesperrt, so wie ein Kriegsherr einen Ritter auf einen Hippogriffen setzte oder ein Schreiber Unterlagen in eine Mappe legte. Er war ein Werkzeug für sie, ein weiteres Paar Augen. Die erzwungene Dienstbarkeit in dem eisernen Griff, den sie um seinen Verstand und seine Seele gelegt hatte, amüsierte sie. Vielleicht gab sie ihr auch ein Gefühl von beständiger Überlegenheit. Anders konnte er sich nicht erklären, weswegen sie ihn nicht gehen ließ, zerstörte oder vergaß.
Jede versuchte Flucht – und in drei Jahrtausenden hatte er es oft, so oft versucht – endete am selben Punkt: in einer unscheinbaren Fibel, die in ihren Windungen aus Silber seine Seele festhielt, weil ein Teil von ihm einst hineingeschmiedet worden war und es Amadena gefiel, ihn als Schmuckstück zu tragen. Die hoffnungsvollen, entschlossenen Kämpfer und Gelehrten, die jetzt auf den Fuß des Turmes zuhielten, würden bald ein ähnliches Schicksal erleiden, dessen war Acuriën sich sicher. Niemand hatte Amadena je bezwungen.
Hatte er früher seine Erinnerungen verloren wie Spielsteine, die vom Tisch gefallen irgendwo verborgen ruhten, bis man durch Zufall oder lange Suche wieder auf sie stieß, erinnerte er sich jetzt an zu viel. Drei Jahrtausende wechselnder Eindrücke, auch wenn sie durch lange, gnädige Ruhepausen der Bewusstlosigkeit durchzogen waren, in denen Jahrhunderte verstrichen, füllten ihn an und überlagerten einander. Das Ufer des Sees, über dem er kreiste, flackerte und wandelte sich. Mal stand der Turm, zu dem ihn jetzt ein unsichtbarer Faden zurückzog, mal war er eine Ruine, mal war die Insel gänzlich unberührt von Bauten. Manches davon mochte real sein, anderes war einmal gewesen, aber er war zu müde, um es auseinanderzuhalten.
Er hob die Schwingen und glitt auf das hohe, einsame Bauwerk auf der Insel im See zu. Der Gestank nach Blut und Schwefel drang von dort aus in den Abendwind, erfüllte den Nebel über dem Wasser. Erinnerung legte sich, durchscheinenden Bildern aus Glas gleich, über Erinnerung: eine chaotische Vermischung von Bildern.
Da war eine Beschwörung im Himmelsturm, wo er auf Erkenntnis gehofft und Untergang erlebt hatte, als Amadena die einsamste Stadt der fenvar im ewigen Eis an sich riss. Eine Lichtung nahe Simyala, der Stadt aus Leben und Wald und Humus, wo sich Gestalt gewordenes Grauen aus einem Beschwörungskreis erhob, als Amadena es beim Namen rief. Dieselbe Lichtung, als der Nebel des Limbus, der Welt zwischen den Welten, sie freigab und sie zurückkehrte; sie, der Gestank nach Blut und Schwefel und ein sterbender Troll.
Drei Jahrtausende waren nun vergangen, seit Amadena wieder Fuß auf aventurischen Boden gesetzt hatte. Drei Jahrtausende, die Acuriën an sie gekettet gewesen war. Er dankte dem Schicksal dafür, dass er nicht die komplette Zeit bei Bewusstsein gewesen war. Wenn Amadena ihn nicht brauchte und ihn auch nicht mit neuen Erkenntnissen über den Niedergang seines Volkes quälen wollte, ließ sie seinen Geist oft jahrhundertelang in der alten Fibel schlummern. Manchmal vergaß sie auch schlicht, dass er da war. Wie für fast alle anderen fühlenden Wesen zeigte sie keinerlei emotionale Regung für ihn.
Doch heute hatte sie ihn doch gebraucht, zum ersten Mal seit Jahren. Sie hatte ihn in den Körper dieses Raubvogels gebannt, um als Späher zu dienen. Für diese Nacht hatte sie viele ihrer Werkzeuge bereit gemacht – sie hielt sie für eine der wichtigsten Nächte ihres Lebens, für einen Meilenstein auf ihrem Weg zu wahrer Macht. Heute würde sie einem gefallenen Halbgott einen Körper erschaffen.
Acuriën hatte seinen Bericht telepathisch an seine Herrin übermittelt. Sie wusste nun, dass sie bald gestört werden würde und befahl ihm, in den dunklen Nachtschattensturm zurückzukehren. Er konnte sich diesem Befehl nicht widersetzen und wenige Augenblicke später landete der Vogel im Turmfenster, berührte mit seinen Klauen die Fibel, die dort auf dem kalten Stein lag und Acuriëns Geist kehrte in sein Gefängnis zurück. Amadena ergriff die Fibel und schloss damit ihr Gewand. Der Vogel blieb benommen auf der Fensterbank sitzen. Was er in dem Turmzimmer gesehen hatte, verstörte selbst seinen simplen Geist.
Amadenas Arbeit war schon zur Hälfte getan.
Der Geist des Halbgottes weilte bereits wieder in der 3. Sphäre. Ein menschlicher Magier hatte die Grenzen seines Gefängnisses aufgebrochen, aber seinen eigenen Plan für die Wiederauferstehung nicht beenden können und mit dem Leben bezahlt. Um genug Lebenskraft aufzubringen, um dem Alveraniar des Verbotenen Wissens einen Körper zu schaffen, hatten Pardonas Handlanger – die von den Göttern verfluchten Vampire – das Herzogtum Weiden seit Monaten geplagt und den Menschen das Blut ausgesaugt.
Nun bildete diese Lebenskraft vor ihr eine rohe, vibrierende Masse, die sich in einem archaischen Kessel von mehreren Schritt Durchmesser und auf dem im Boden eingelassenen Tridekagramm aufbäumte und zuckte. Der Beschwörungskreis war den zwölf herrschenden Häuptern der Niederhöllen und dem Namenlosen Gott in seiner Verbannung am Rand der Schöpfung gewidmet. Niemand sonst würde es wagen, diese Mächte zugleich anzurufen, aber Amadenas Stimme folgten sie, legten ihr die Macht in die Hand – überzeugt davon, dass sie ihnen allen dienen würde. Stille Beobachter in den Schatten, lose Verbündete und Interessierte, studierten die Symbole und Handlungen des Rituals.
Das Blut im Tridekagramm war den Menschen dieser Region über Monate geraubt worden, Männern, Frauen und Kindern. Ihr Leid war es, das diesem Prozess noch die nötige Würze verlieh. Die rote Substanz verdickte sich, begann zu kochen, während Amadena die Mächte des Bösen in einer Zunge anrief, die niemand außer ihr in Aventurien sprach, und sie bat, die Kräfte des Kessels zu wandeln, zu verzerren, in Chaos zu versetzen.
Aus dem Stockwerk unter ihnen vernahm Acuriën Kampfeslärm, noch immer über die Sinne des benommenen Vogels, denn die Verbindung war noch nicht völlig gekappt. Die Abenteurer waren hier und stürmten den Turm hinauf, um das Ritual doch noch zu verhindern. Natürlich würden sie scheitern.
Im Kessel verdickte sich die wabernde Masse zu Klumpen. Das Blut in den Rillen auf dem Boden floss schwerelos zur Decke und zu den Wänden, bildete einen roten Nebel im gesamten Raum. Die Tropfen strebten aufeinander zu, konzentrierten sich um den Kessel und verschmolzen langsam mit der Substanz im Inneren, als die Tür aufgestoßen wurde und mehrere Gestalten in den Raum drangen, die Waffen erhoben, aber überwältigt vom Anblick, der sich ihnen bot, und der rohen Magie, die in der Luft hing.
Dies war der Moment, in dem all die kosmischen und weltlichen Kräfte, die diese Szene beobachten mussten, abgelenkt waren. Der Moment, in dem niemand auf die Details des weltenerschütternden Rituals achtete, das Amadena hier durchführte. Im letzten Augenblick fügte sie dem organischen Gewimmel im Kessel noch eine Zutat hinzu. Der Einzige, der es wahrnahm, war Acuriën, durch die Augen des Falken, mit dem er nach wie vor schwach verbunden war. Verschwommen und unwirklich sah er etwas aus Amadenas Hand in den Kessel gleiten: einen schwarzen, glatten Wurm von der Größe eines Fingers. Für einen Moment wand sich die Kreatur an der Hand der Herrin, dann war sie auch schon in die brodelnde Masse gefallen. Es geschah so beiläufig, dass sich Acuriën unsicher war, ob er es sich nicht eingebildet hatte.
Schon verfestigten sich die Tropfen weiter zu roten, pulsierenden Strängen, die den Raum durchmaßen, Wände und Decke verbanden und dann auf den Kessel zustrebten. Acuriën konnte den Blick nicht von dem Schauspiel wenden.
Mit kaltem Hass in den Augen schrie seine Herrin den Neuankömmlingen etwas entgegen. Die restlichen Beobachter zogen sich zurück, verschwanden unter geflüsterten Formeln in Nebel und Schatten.
Unfähig, etwas gegen die hier wirkenden Mächte auszurichten, waren die Neuankömmlinge dazu gezwungen, das Ritual mitanzusehen. Ein rhythmisches Dröhnen erfüllte den Raum, ausgehend von der sich weiter verfestigenden Masse über dem Kessel: ein dämonischer Herzschlag, der den Takt von allem dominierte, was in diesem Turmzimmer geschah.
Acuriën besaß kein Herz mehr, doch er konnte noch immer das des Falken spüren, das unter der Anspannung zu zerbersten drohte.
Die immer fester und größer werdenden Klumpen in und über dem Kessel quollen weiter aufeinander zu und wucherten zu einer Säule, begannen rasend schnell, Gliedmaßen auszuformen, bis dort eine Gestalt wie aus Blut stand, mit dampfender, glatter Haut, konturlos wie eine unfertige Statue. Um die Gestalt herum begann der Kessel in sich zusammenzufallen. Das äonenalte Artefakt schmolz in der Hitze der Göttlichkeit, die es hervorgebracht hatte und das flüssige Metall füllte die Rillen des Tridekagramms aus. Im Hintergrund tobte der Kampf weiter, doch Acuriëns Blick durch Vogelaugen blieb auf der nackten Gestalt haften, die unter der Hülle aus Blut nun Kontur angenommen hatte. Amadena hatte es vollendet, sie hatte einem Halbgott einen Körper geschaffen.
»Borbarad …«, hallte ihre Stimme durch den Raum und brachte damit auch die Angreifer zum Schweigen.
Das Wesen, das inmitten von Rauch, geschmolzenem Metall und Blut in der Mitte des Raumes stand, schaute sie nicht einmal an, auch wenn es inzwischen den Körper eines Mannes mit Augen wie ein Mensch besaß. Dann sprach es zum ersten Mal. Seine Stimme war dunkel, kultiviert und leise. Vor allem jedoch war sie gewöhnt, dass man ihren Befehlen folgte. Es lag eine ruhige, gelassene Dominanz darin, die selbst Acuriën dazu brachte, aufmerksam zu lauschen.
»Vergiss es, Pardona. Ich bin nicht interessiert. Du warst der Schlüssel zu einem Tor, das ich ohnehin binnen eines Jahres zerschlagen hätte.«
Statt sich Amadena weiter zu widmen, verschwand der Mann – Borbarad, der Alveraniar des Verbotenen Wissens – in einem gleißenden Schimmer aus dem Nachtschattensturm und ließ Acuriëns Herrin einfach so stehen. Niemand hatte es in diesen dreitausend Jahren gewagt, sie auf diese Art zu behandeln. In all dieser Zeit hatte sie an ihrem Unterfangen gearbeitet, einen Halbgott in diese Sphäre zu beschwören und zu ihrem Werkzeug zu machen. Nun hatte dieser sie keines einzigen weiteren Blickes gewürdigt, obwohl sie ihm zu seiner Rückkehr, zum Beginn der Prophezeiung seines Schicksals, verholfen hatte.
Amadena gab eine Kaskade von Worten in der Sprache der Menschen aus dem Mittelreich von sich, spie sie den selbst ernannten Abenteurern entgegen, die ihr Ritual gestört hatten und die Frechheit besaßen, noch immer am Leben zu sein. Die Beschwörung hatte Stunden gedauert, die Vorbereitung Monate. Borbarad war ihr ambitioniertestes Projekt seit langem und der Prozess hatte selbst sie ausgelaugt. Ob die wankenden Gestalten im Raum, die immer noch verwirrt vom Erscheinen des Halbgottes waren und sich in den Resten des blutigen Nebels zu orientieren versuchten, wirklich eine Bedrohung für die Herrin waren, konnte Acuriën unmöglich einschätzen. Es war aber offensichtlich, dass die Arbeit hier getan war, auch wenn das Ergebnis zunächst eher enttäuschend wirkte. Warum also bleiben und sich mit diesen Leuten messen, mit denen sie nichts zu schaffen hatten?
Mit einem Fingerschnippen sandte sie einen Dämon gegen die Abenteurer, ehe sie sich in einer fließenden Bewegung zum Fenster wandte. Mühelos sprang sie auf den Sims, löste die Fibel, Acuriëns Gefängnis, von ihrem Gewand, das flatternd zu Boden glitt. Nackt sprang sie ins Freie, drehte sich im Flug und schleuderte die Fibel auf den Sims. Im nächsten Moment hatte sie bereits eine andere Gestalt angenommen. Ihr im fahlen Neumondlicht schimmernder schlanker Körper zog sich in die Länge, überzog sich mit weißen Schuppen und gewaltige Schwingen brachen aus ihren Rücken. Neuschnee wurde ins Turmzimmer geweht und vermischte sich mit dem Blut auf dem Boden, als sie ihre Drachenflügel auf und ab schlug, um schnell an Höhe zu gewinnen und zurück in den Norden zu fliegen.
Die Fibel hingegen hielt auf den Stein des Turmsimses zu. Acuriëns Gefängnis war auf mannigfaltige Art verzaubert; das war ihm bewusst, und dieser Umstand machte seine Existenz in dem Kleinod noch unangenehmer. Er hatte sich immer wieder gefragt, was passieren würde, wenn diese Zauber ausgelöst werden würden. Würden sie ihn verzehren? Würde er Teil der Magie werden, die Amadena damit beschwor? Er hatte keine besonders große Lust, es herauszufinden, denn er witterte seine Gelegenheit, sich endlich zu befreien. Der Vorteil, körperlos in einem magischen Gefängnis zu sitzen, war die Tatsache, dass Zeit kaum eine Rolle spielte. Acuriën hatte genug Gelegenheiten gehabt, um Pläne zu schmieden – auch wenn er sie in seinem Dämmerschlaf regelmäßig wieder vergaß – und die Wahrnehmung des Kosmos war eine völlig andere als in physischer Gestalt. Unendlich langsam drehte sich die einst von Zwergenhand geschaffene Fibel in der Luft. Beim Aufprall auf den Stein würde sie zerbrechen und den Bruchteil eines Augenblicks später würden sich die Zauber entfalten. Acuriën rechnete damit, dass seine Herrin ein ganzes Pandämonium vorbereitet hatte, das den Turm und die Angreifer verschlingen sollte, doch er war in diesem Moment entschlossen wie seit Jahrhunderten nicht mehr, einem noch finstereren Schicksal zu entgehen. Vielleicht war es die Präsenz dieses Halbgottes, der Amadena getrotzt hatte, die etwas in ihm geweckt hatte.
Die Fibel traf auf den groben Stein und zerbarst. Acuriëns Geist, noch immer schwach mit dem Leib des Falken verbunden, klammerte sich an diesen dünnen Faden aus Astralkraft. Der Raubvogel lag, von einer Schneewehe umgeworfen, benommen auf der Seite und zuckte mit den Flügeln. Vermutlich würde er die Nacht nicht überleben, aber er war Acuriëns einziger Weg aus dieser Lage. Seine Seele zerrte an dem astralen Band und zog sich unter Aufbringung aller Willenskraft aus dem explodierenden Gefängnis der Fibel.
Plötzlich sah Acuriën wieder deutlich aus den Augen des Vogels und die Zeit begann unglücklicherweise sofort wieder normal zu verlaufen. Von der Stelle, wo die Fibel explodiert war, breiteten sich rasend schnell wimmelnde Tentakel und verzerrte Mäuler aus. Sie platzten aus dem Gestein des Turms und dem Boden empor, sogar aus den Resten des geschmolzenen Kessels – und sie griffen und schnappten auch nach Acuriëns Falkenkörper.
Er rettete sein Bewusstsein in das kleine Gehirn des Vogels, zwang ihn, auf die Beine zu kommen, sich aus der nun schnell schmelzenden Schneewehe zu befreien. Schon reckte sich ein Maul an der Spitze eines Tentakels nach ihm, die Kiefer starrten vor langen Metallspitzen, von denen eine milchige Substanz tropfte. Durch die Ohren des Vogels konnte er dumpfen Kampfeslärm hören. Ob die Menschen den Vogel vor den Dämonenmäulern retten würden?
Irrsinn! Er konnte sich nur selbst retten und würde nicht zulassen, dass es nach all den Jahrtausenden, die das Schicksal ihn an Amadena gekettet hatte, nun so endete. Der Falke stemmte sich auf die Beine und schien dabei Tonnen zu wiegen. Sofort sank er im Schnee ein und fiel zur Seite, schlitterte dabei aber immerhin weg von den Tentakeln und auf den Rand des Simses zu. Doch auch dieser begann bereits, Blasen zu werfen und sich zu verformen. Weitere dämonische Klauen und Fratzen begannen sich zu bilden. Acuriën stemmte seine Vogelbeine gegen den Stein und schlug mit den Flügeln.
Mit einem Stoß war er über den Rand des Simses hinabgesprungen und stürzte in die Tiefe. Es fühlte sich an, als würde er allein das Eingangsportal des Himmelsturms öffnen, als er die Flügel des Falken spreizte, um den Fall in ein Gleiten und mit einem weiteren Kraftakt in eine Aufwärtsbewegung zu verwandeln. Der Flug war mühsam und unsicher, aber er brachte ihn fort vom einstürzenden Turm. Langsam gewann er die Kontrolle über den Vogel wieder.
Doch wohin jetzt? War er jetzt etwa frei, seine letzten Tage als Vogel zu verbringen?
Die Stimme Amadenas erklang erneut in seinem Kopf. »Ich dachte mir, dass du es schaffen würdest. Triff mich sieben Meilen nördlich des Turms, falls dein Gefäß das übersteht. Wir haben noch viel zu tun.«
Er konnte sich ihr nicht widersetzen.
Die Jahre sind vergänglich
Verwehter Staub im Wind
Und ewig unverändert
Regiert das Drachenkind
Mit Wort und Tat und Lüge
Baut sie ein Haus aus Schein
Erhebt die Diener mal empor
Reißt dann ihr Leben wieder ein.
Die Worte sickern golden
auch in starken Geist
Bis dieser sich verworren
Selbst die Wege weist
Zu Dingen unversprochen
Ein Lohn, der niemals gilt
So wird kein Pakt, kein Eid gebrochen
Wenn dann der Tod die Treue stiehlt.
Nichts kann die Zeiten halten,
worin Pardona ein Schiff jagen lässt und von Verbündeten Treue und Opfer fordert, die niemals vergolten werden, und den ersten Schritt der letzten Reise tut.
Dreitausend Jahre zuvor.
Der Riss in den Welten entließ Eiseskälte und Sturmwinde in den Nebel. Hier endete, was die Schöpfung verband und zusammenhielt. Hier begann das Chaos. Auf ihrer Flucht hatte eine Gefangene des Jenseits eine Bresche geschlagen, die nur langsam heilte. Die Grenze, mit einem sterblichen Verstand betrachtet, erschien wie schwarzes Wasser in dunkler Leere, auf dem riesige, blass leuchtende Kugeln entlangwanderten.
Die Sternenlichter zogen grollend ihre Bahn entlang der Barriere; die Öffnung würde sich bald schließen, wenn diese Wächter ihre Aufgabe erfüllten und das Chaos der 7. Sphäre vom Rest der Schöpfung trennten, so gut es möglich war. Noch aber pulsierte die Wunde in der Barriere und Wesenheiten, die ein Gespür dafür besaßen, glitten lautlos und hungrig näher.
Ein goldener Kiel zerteilte den Nebel und die Aasfresser des Limbus huschten davon. Das Schiff hing im Nichts, reglos und einsam. Lange hatte niemand mehr ihre Decks betreten, keine Hand sich auf ihr Ruder gelegt. Da die Rilmandra von einer Frau erschaffen worden war, die schon zu Lebzeiten gottgleich gewesen war, war sie viel mehr als nur ein kunstvoll hergestellter Rumpf und seidenbestickte Segel. Sie war lebendig, eine Entdeckerin und Abenteurerin, und lange, lange schon allein.
Ihre Neugier, eine dienstbare Eigenschaft für jemanden, der unbekannte Wege in andere Welten suchen sollte, ließ sie einen vorsichtigen Blick durch den Riss werfen, während sie auf den Wellen der Sphärenbewegungen schwankte. Jenseits herrschte unbarmherzige Kälte und das Heulen einer Jagdmeute begrüßte sie, als ihre körperlosen Sinne die Umgebung zu erfassen versuchten – und nah, ganz nah am Riss, befanden sich Sterbliche.
Rilmandra war unschlüssig, was dies zu bedeuten hatte. Dies war kein Ort für Sterbliche. Er würde sie zermahlen und ihre Seelen fressen, sie in Chaos auflösen. Doch keiner von ihnen unternahm auch nur einen Handschlag, um sich zu retten. Der Riss war direkt bei ihnen, nur wenige Schritte entfernt. Zwei lagen reglos am Boden, einer stand stumm herum und der letzte rannte auf vier Beinen auf und ab und heulte traurig.
Der Übergang würde nicht mehr lange bestehen und Rilmandra wusste, dass sie den Riss nicht offenhalten durfte. Es widersprach den Wünschen, die ihre Schöpferin einst geäußert hatte, und ihrem eigenen Sinn für Ordnung. Zudem konnte der Riss Mächte herbeirufen, die selbst durch ihr fein gesponnenes Netz aus Schutz und Heimlichkeit dringen würden, um ihre Masten zu brechen und ihre Planken zu zerschlagen.
Vorsichtig versuchte sie, mit ihrer Seele die des Stehenden zu berühren, aber sie spürte keinen Widerstand. Sein Körper war leer, nichts weiter als eine atmende Hülle.
Ihre Unschlüssigkeit währte nur noch einen Augenblick, dann warf sie ihre Sinne vorwärts. Ihre geliehenen Hände flatterten ungeschickt, als sie das Gleichgewicht der zweibeinigen Form zu wahren versuchte. Ihr Blick, so beschränkt aus zwei Augen, fiel auf die Liegenden. Eis hatte sich ihrer bemächtigt und Statuen aus ihnen gemacht, blau und blass und sicher verwahrt.
»Ich denke, ich möchte euch mitnehmen«, sagte sie zu dem Vierbeinigen. »Ihr gehört nicht hierher.«
Der andere gab laute Rufe von sich und sprang aufgeregt hin und her.
»Ich verstehe dich nicht«, gab sie zu und manövrierte ihren geborgten Körper mühselig näher an die beiden Erstarrten. Sie lieh etwas Kraft an die Hände und Gliedmaßen, die sie mit aller Konzentration steuerte, und hob die Statuen an.
Zu ihrem Glück war die Strecke zum Riss so gering, dass sie sie die paar Schritte im Grunde einfach stolpern und dann vorwärts fallen konnte. Sobald der Nebel die kleine Gruppe umschloss, wurden Gewicht und Bewegung bedeutungslos. Erleichtert ließ sie ihren Schiffsrumpf näher herangleiten und zog die Sterblichen sanft in den Griff ihres Lichtes und ihrer eigenen Schwere.
Ein wütendes Heulen drang aus der Bresche in der Schöpfung, doch der Übergang schloss sich weiter. Mit ihren Sinnen, die Strömungen schmeckten und das Raunen der Sphären hörten, sowie mit den Augen des geliehenen Körpers beobachtete Rilmandra, wie die Wunde zu einer Narbe wurde.
»So ist es besser«, sagte sie und sah zu dem Vierbeiner. Ihr Gastkörper lag auf dem Rücken, stellte sie fest, was ihn ziemlich nutzlos machte. »Bei mir seid ihr sicher.«
Der andere jammerte leise und presste sein Gesicht gegen die Schulter ihres Körpers. »Schon gut«, murmelte sie. »Ich verstehe dich aber immer noch nicht.«
Unter Aufbringung von etwas Konzentration rollte sie den Körper herum und schob ihn zusammen, bis sie erst die Knie und dann die Füße unter ihrem Schwerpunkt gebracht hatte und sich aufrichten konnte. Zugleich drehte sie ihren weitaus größeren eigentlichen Körper und fing eine Strömung aus Kraft ein, die ihre Segel füllte.
»Dies sind keine guten Gewässer«, erklärte sie, »und sie sind noch unruhiger als sonst. Große Räuber lauern hier, alte Schatten und vergessene Orte. Ziehen wir weiter.«
Sie machte in paar Schritte zur Reling und legte die schmalen, langen Finger des neuen Körpers darauf. Das fein polierte Holz fühlte sich seidig und warm an, und die Freude über diese neuen Sinne ließ sie lachen und die Glöckchen am Mast klingeln. Der Vierbeinige neigte den Kopf und sah sie an.
»Wir finden einen Weg, uns zu verständigen«, versprach sie ihm. »Wir haben alle Zeit, es zu lernen.«
Sie ließ den neuen Körper die Reling entlanggehen, bis sie ihren Bug erreichte. Sie streckte sich und berührte sacht den goldenen Vogel, der dort wachsam ins Nichts spähte. Dort hatte einst die Hand ihrer Schöpferin geruht und sie genoss den Moment der Erinnerung, der Nähe über Zeit und Welten hinweg.
»Nichts haben wir mehr als Zeit«, wisperte sie. Ungesehen und lautlos folgte sie den Bahnen aus Kraft, erkundete neue Wege und ließ Welten an sich vorbei ziehen. Ihre Besitzerin war fort und so gehörte sie nur sich. Freiheit, so fand sie, musste genutzt werden. Der einzig wache und beseelte ihrer neuen Begleiter widersprach nicht.
Zumindest nicht sofort.
Die Welt lag im Chaos und Amadena wusste es. Sie hatte es in ihren Träumen gesehen und in ihrem gemarterten Leib gespürt. Die eine Sache, die sie vor dem völligen Wahnsinn bewahrt hatte, war das Wissen darum, dass die 3. Sphäre in Flammen stehen würde – durch den Krieg Pyrdacors, durch seinen Fall … und vor allem durch ihre eigene Hand.
Als ihre Zehen zum ersten Mal seit fast eintausend Jahren wieder aventurischen Boden berührten, ging ein Zittern durch ihren Leib. Es war nicht ihr Zittern. Vielleicht war es die Vibration der Sphären nach dem Fall des Gottdrachen Pyrdacor, ihres Vaters, die sie spürte. Vielleicht war es das pulsierende Leben des Waldes oder schlicht ein Vorzeichen der Angst, die die Schöpfung vor ihr hegte.
Sie war an dem Ort wiedererschienen, an dem sie in die Niederhöllen gefahren war. Einst war es eine Lichtung am Rand der Stadt Simyala gewesen. Nun war alles überwuchert und roch nach frischem Leben, aber sie erkannte den Ort dennoch wieder. Sie atmete die laue Nachtluft ein und den leichten Verwesungsgeruch, der darin lag. Amadena hatte nichts bei sich, keine Waffen, kein Gewand. In ihrer Hand hielt sie lediglich die Fibel, die die verlorene kleine Gruppe von Helfern zu Acuriën gebracht hatte, mit einem Hauch seiner Seele darin. Inzwischen enthielt sie seine vollständige Seele, alles, was von ihm übrig war.
Sie öffnete die Hand und schaute auf das kleine Schmuckstück hinab, simpel und aus schlichtem Silber gefertigt. »Ich werde mich daran erinnern. Ich werde mich immer daran erinnern, wie nützlich du mir am Ende doch warst«, wisperte sie ihm zu. »Und auch du wirst es nie vergessen, denn du wirst mein Begleiter sein, wohin ich auch gehe.«
Sie steckte sich die Fibel ins Haar und sah sich um. Einige Schritt neben und hinter ihr, wie ein folgsamer Diener, stand der Troll – Kaschmallarun. Er schwankte noch immer und Blut lief ihm aus den Augenwinkeln und aus dem halb offenstehenden Mund. Er schien förmlich zu dampfen, seine Kleidung war zerrissen und versengt und er blutete aus zahlreichen Wunden. Dicke, purpurne Adern zeichneten sich unter seiner Haut ab. Als Amadena ihn musterte, senkte er den Kopf, ging langsam auf die Knie und gab einen langen, jammernden Laut von sich.
Sie ging langsam auf ihn zu, genoss dabei jeden Schritt ihrer nackten Füße auf dem Waldboden: echter, stofflicher Boden, Humus und Steine und Texturen, die für ihre Sinne erschlossen werden konnten. Sie betrachtete den Troll aus der Nähe, zog seine Lippen auseinander, um seine leeren, blutigen Kiefer zu betrachten, wo ihm alle Zähne ausgefallen waren.
»Du hast viel von der Macht des Güldenen gekostet«, sagte sie sanft zu ihm, strich ihm über die graue, aufgerissene Haut in seinem Gesicht, »zu viel. In ein paar Stunden wirst du tot sein, Schrat, und du wirst völlig umsonst gestorben sein.«
Er hob den Kopf und starrte ihr in die Augen. Sie kannte den bernsteinfarbenen Blick der Trolle, aus dem Weisheit von Äonen sprach. Er hatte sie noch nie beeindruckt. In diesem Blick hier sah sie vor allem den zum Scheitern verurteilten Kampf gegen die Macht des dhaza. Sie hatte diesen Troll innerlich aufgefressen, wie es sonst keine Macht auf der Welt vermochte, seine Lebenskraft aufgezehrt und seinen Atem und seine Knochen vergiftet. Das war das Glorreiche und das Gnadenlose an ihrem wahren Schöpfer: Man musste sich ihm nicht willentlich unterwerfen, um von ihm aufgezehrt zu werden. Seine Macht war unsichtbar, schleichend und tödlich.
»Natürlich könnten wir das noch ändern«, sagte sie ruhig, bot ihm nur die Möglichkeiten an. »Stell dir vor: Du verschreibst dich dem Goldenen Gott und seine Macht wird dich nicht mehr weiter verzehren. Dann hast du vielleicht eines Tages die Gelegenheit, dich und deine toten Freunde zu rächen. Vielleicht wirst du mich sogar erschlagen. Du wirst natürlich den Willen dazu verlieren und in meinem Namen weitere Gräueltaten vollbringen, aber wer weiß das schon genau … Vielleicht wirst du einen Weg finden. Und bis dieser Tag kommt, dienst du mir.«