Loe raamatut: «"Ihm nach! Dann werden wir siegen."»

Font:

Mia Marjanovic

„Ihm nach! Dann werden wir siegen.“

Das Hitlerbild in den Goebbels-Tagebüchern 1924-1933

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Über die Autorin

Einleitung

I. Joseph Goebbels` Führersehnsucht

II. Die Erwählung Adolf Hitlers

III. Die Bamberger Führertagung

IV. Verführung in München

V. Die neue Aufgabe

VI. Der Konflikt mit den Gebrüdern Strasser

VII. Der Kompromiss mit der „Reaktion“

VIII. Belastungsproben

IX. Die Reichstagswahl 1930 und die SA-Revolten

X. Joseph Goebbels` Außenseiterrolle

XI. Magda Quandt

XII. Der Kampf um die Macht

XIII. Das Warten auf den Ministerposten

Schlussbetrachtung

Quellen- und Literaturverzeichnis

Fußnoten

Imprint

Mia Marjanovic

„Ihm nach! Dann werden wir siegen.“

Das Hitlerbild in den Goebbels-Tagebüchern 1924-1933

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2013 Mia Marjanovic

ISBN 978-3-8442-6193-6

Titelbild: Bundesarchiv, Bild 102-01911A / Fotograf: Georg Pahl

Druck-Version dieses Buches: ISBN 978-3-8442-6194-3

(bei Amazon und im Buchhandel bestellbar)

Über die Autorin


Mia Marjanovic studierte nach dem Abitur Japanologie und Geschichte an der FU Berlin, danach Journalismus an der Freien Journalistenschule. Sie arbeitet als Autorin, Lektorin und Journalistin im Bereich PR und Medien. Ihre große Leidenschaft sind Fremdsprachen, von denen sie mittlerweile acht fließend beherrscht.

Bereits mit 20 Jahren hat sie ihr erstes Buch aus dem Kroatischen ins Deutsche übersetzt.

Einleitung

Adolf Hitler nahm sich in Berlin am 30. April 1945 im Bunker unter der Reichskanzlei das Leben. Einen Tag später folgte Joseph Goebbels „seinem Führer“ zusammen mit seiner Frau Magda in den Tod. Zuvor hatte Magda die gemeinsamen sechs Kinder vergiftet. Die bedingungslose Treue und der unerschütterliche Glaube an Hitler ließen in Goebbels` Augen keinen anderen Ausweg als den des Selbstmords zu. Goebbels verschied als der Loyalste unter Hitlers Paladinen. Als unermüdlicher Propagandist hatte er Hitler zu dem „Führer“, der charismatischen Kultfigur gemacht. Mit seiner Hilfe war Hitler zu einem „Heilsbringer“, einem „neuen Messias“ emporgewachsen. Stellt man sich die Frage, wie Hitler möglich wurde, so muss daher auch auf Goebbels verwiesen werden.

Goebbels` Glaube an Hitler als den „Führer“ manifestierte sich Mitte der zwanziger Jahre und erhielt mit der „Machtergreifung“ am 30. Januar 1933 eine endgültige Bestätigung. Aufschluss darüber liefern die Tagebücher von Goebbels, die den Rang einer der wichtigsten Primärquellen aus jenen Jahren einnehmen. Goebbels begann mit seinen Aufzeichnungen am 17. Oktober 1923. Privates und Politisches vermerkte er nebeneinander. Bis zu seinem Selbstmord führte er Tagebuch,1 wobei der letzte erhaltene Eintrag auf den 10. April 1945 datiert ist. Die Tagebucheintragungen verfasste er zunächst handschriftlich, ab dem Sommer 1941 diktierte er regelmäßig dem Stenographen Richard Otte.2

Trotz der „eitlen Selbstbespiegelung und der autosuggestiven Lügenhaftigkeit“ des Autors bringen die Tagebücher dem Leser den Geist jener Zeit näher.3 Die Attraktivität, die von Hitler auf die damals vom Weimarer System Enttäuschten überging, wird verständlicher. Goebbels Aufzeichnungen ermöglichen Einblicke in seine Gedankenwelt, sein politischer Weg wird nachvollziehbar. Der Leser erhält Zugang zum inneren Zirkel der Macht innerhalb der NSDAP. Der Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung, die Phase der Machtübernahme, die Konsolidierung dieser Macht sowie die Kriegszeit werden dem Blick freigegeben. Hitlers Herrschaftstechnik offenbart sich.

Besonders interessant erscheint das in den Tagebüchern zwischen 1926 und 1933 vermittelte Hitlerbild, scheute sich Goebbels hier tatsächlich nicht, zum Teil harsche Kritik an „seinem Führer“ auszuüben. Seinen Unmut über Hitler äußerte er ganz offen. Der beredteste Verfechter des „Hitler-Mythos“ in der NSDAP zeigte sich zum Teil von Zweifeln geplagt. Noch wollte er Hitler, an dessen Seite er 1945 bis zum bitteren Ende bleiben sollte, nicht vorbehaltlos folgen. Zahlreiche Meinungsverschiedenheiten lassen sich nachweisen.

Keinesfalls führten die Kritik und die gelegentlichen Zweifel aber dazu, dass Goebbels sich von dem Parteiführer abwandte. Trotz aller Verstimmungen schien seine Knechtseligkeit Hitler gegenüber von Tag zu Tag gewachsen zu sein. Es hatte den Anschein, als wäre er geradezu auf Hitler, der ihn geschickt für die eigenen Zwecke instrumentalisierte und daher zu umwerben pflegte, „geprägt“. Die Tagebücher geben Aufschluss darüber, dass Goebbels zwischen 1924 und 1933 dem Hitler-Mythos verfiel, den er selbst 1926 zu formen begann. Die Wirkung des Mythos auf Goebbels war so stark, dass alle im Tagebuch geäußerte Kritik an Hitler letztendlich folgenlos blieb. Der Faszinationskraft, die von dem Parteiführer ausging, erlag er vollständig. Will man Goebbels` Selbstmord im Jahre 1945 verstehen, ist es daher unumgänglich, sich das von ihm in den Tagebüchern zwischen 1924 und 1933 entworfene Bild von Hitler anzuschauen. Hier liegt der Schlüssel für seinen unerschütterlichen Glauben.

Diese Arbeit macht es sich zur Aufgabe, dieses Hitlerbild zu beleuchten. Referierende Passagen über den historischen Faktenhintergrund sind zur besseren Einbettung des historischen Forschungsgegenstandes notwendig.

Der Aufstieg der NSDAP und das „Dritte Reich“ sind wissenschaftlich intensiv erforscht und bearbeitet worden. Die Literatur zu diesen beiden Themen ist kaum mehr überschaubar. Dennoch wird selbst in Biographien über Adolf Hitler und Joseph Goebbels lediglich am Rande und äußerst punktuell auf die Beziehung der beiden zueinander eingegangen.4 Eine Ausnahme bildet Erwin Barths veröffentlichte Dissertation.5 Anhand der Tagebücher, Reden, Artikel und sonstiger Aufzeichnungen Joseph Goebbels` setzt er sich mit der Mythisierung Hitlers durch Goebbels auseinander, die er als einen entscheidenden Faktor für den Erfolg der Nationalsozialisten in den letzten Jahren der Weimarer Republik ansieht.

Weiterhin beachtenswert sind die beiden Darstellungen von Claus-Ekkehard Bärsch, die mittels eines psychobiographischen und religionspsychologischen Ansatzes die ideologischen Komponenten von Joseph Goebbels untersuchen.6 Mit der „Führersehnsucht“, die hierbei nachgewiesen wird, beschäftigen sich des Weitern Ian Kershaw in seiner Abhandlung über den „Hitler-Mythos“7 sowie Kurt Sontheimer, der das antidemokratische Denken in der Weimarer Republik im Gesamten dokumentiert und eingehend analysiert hat.8

Thomas Friedrichs in seinem Werk „Die missbrauchte Hauptstadt“ aufgeworfene These, Goebbels sei bei wirklich entscheidenden strategischen Fragen von Hitler nie zu Rate gezogen worden,9 wird eingehend überprüft werden. Es stellen sich die Fragen: Inwieweit stilisierte sich Goebbels zum engsten Vertrauten Hitlers, ohne dieser tatsächlich zu sein? Welche Rolle in der NSDAP wurde ihm von Hitler zugeteilt?

Im Jahre 2006 wurde die Edition sämtlicher vorhandener Goebbels-Tagebücher abgeschlossen. Die bereits 1987 fragmentarisch publizierten handschriftlichen Aufzeichnungen, die für die hier zu behandelnde Zeit von Bedeutung sind, wurden neu und vor allem vollständig herausgegeben. Somit können in dieser Arbeit die zwischen 2004 und 2006 erstmals veröffentlichten und daher noch in der Forschung weniger beachteten Tagebuchpassagen im Hinblick auf das sich dort bietende Hitlerbild beleuchtet werden. Die nun neu zugänglichen Tagebucheintragungen betreffen folgende Zeitabschnitte: 17. Oktober 1923 bis 26. Juni 1924, 31. Oktober 1926 bis 14. April 1928 sowie 21. August 1931 bis 31. Dezember 1931. Da die ursprünglich verfügbare Tagebuchüberlieferung des Jahres 1932 zum Teil stark gestört ist, wurde in der Forschung ersatzweise das den nationalsozialistischen Machtkampf verherrlichende Dokument „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei: eine historische Darstellung in Tagebuchblättern“10 zur Interpretation herangezogen. Dieses Goebbels-Buch deckt den Zeitraum zwischen dem 1. Januar 1932 und dem 1. Mai 1933 ab. In der folgenden Arbeit werden jedoch die seit 2006 vollständig publizierten Original-Tagebucheintragungen der stilistisch und inhaltlich nachgebesserten Version vorgezogen.

Um Goebbels` Haltung gegenüber Hitler nachvollziehen zu können, wird in dieser Darstellung zunächst auf die Herkunft und Mentalität des späteren Berliner Gauleiters eingegangen. Die Arbeit endet mit seiner Ernennung zum Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda am 14. März 1933, dem Tag, an dem Goebbels` Annahme, dass nur an der Seite Hitlers sein Weg in die Zukunft erfolgen könne, sich zu bewahrheiten schien.

I. Joseph Goebbels` Führersehnsucht

Joseph Goebbels wurde am 29.10.1897 als Sohn des Buchhalters Fritz Goebbels und dessen Ehefrau Maria Katharina in Rheydt am Niederrhein geboren. Er wuchs in einem katholischen Elternhaus mit vier Geschwistern auf. Im Kleinkindalter erkrankte er an einer Knochenmarkentzündung, die zu einer Lähmung im rechten Bein führte. In der Folge entwickelte sich das Bein allmählich zum Klumpfuß. Diese körperliche Benachteiligung suchte Goebbels zeitlebens durch geistige Überlegenheit zu kompensieren. Bereits in der Schulzeit hatten seine Behinderung und die als nicht standesgemäß empfundene Herkunft seinen Ehrgeiz angestachelt.11

Von der vaterländischen Euphorie ergriffen, meldete er sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges als Freiwilliger. Wegen seiner Gehbehinderung wurde er jedoch als wehruntauglich abgelehnt – die Felderfahrung konnte er somit später nicht mit Hitler teilen. Im Jahre 1917 machte er Abitur. Von 1917 bis 1921 studierte er Germanistik, Altphilologie und Geschichte.

Das Kriegsende und die Niederlage trafen Goebbels, wie Millionen anderer Menschen in Deutschland auch, völlig unvorbereitet. Die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft, verbunden mit dem Glauben an eine „wahre Volksgemeinschaft“, wurden zunichte gemacht.12 Als am 19. Januar 1919 die Wahlen zur deutschen Nationalversammlung stattfanden, wählte er gemäß der Tradition seines katholischen Elternhauses die Bayerische Volkspartei. Zu diesem Zeitpunkt fühlte er sich den Deutschnationalen am nächsten, konnte aber nicht für sie stimmen, da sie in Bayern – Goebbels studierte in Würzburg – nicht angetreten waren.13

Interessanterweise scheint, im Gegensatz zu Goebbels, Hitler zu dieser Zeit noch keineswegs völkisch orientiert gewesen zu sein. Als der bayerische Ministerpräsident und USPD-Politiker Kurt Eisner am 21. Februar 1919 von dem Weltkriegsleutnant Anton Graf von Arco auf Valley ermordet wurde, solidarisierte sich Goebbels mit dem Mörder. Hitler dagegen erfreute sich nicht an Eisners Tod. Erhalten gebliebene Filmaufnahmen bezeugen seine Teilnahme am Begräbnis. Während der Bayerischen Räterepublik ließ er sich zum Soldatenrat wählen und hatte wohl mit den Mehrheitssozialdemokraten sympathisiert.14 Erst im Zusammenhang mit der Bekanntgabe der verheerenden Versailler Friedensbedingungen im Mai 1919, als die Angst vor dem Übergreifen der „bolschewistischen Weltrevolution“ von neuem entfacht wurde, wechselte Hitler ins Lager der Konterrevolution über und distanzierte sich von seiner „linken“ Vergangenheit.15

Während seines Studiums wandte sich Goebbels von der katholischen Kirche ab.16 Unter dem Einfluss seines ehemaligen Schulkameraden Richard Flisges begann er sich im Jahre 1919 mit dem Sozialismus auseinander zu setzen.17 Bald sympathisierte er mit diesem. Seine „proletarischen“ und „antikapitalistischen“ Tendenzen bildeten sich heraus. Die innere Zerrissenheit und Haltlosigkeit, die mitunter zu schweren Depressionen führten, hatten ihn den Spagat zwischen dem rechtskonservativen Lager und dem Sozialismus vollführen lassen. Er war auf der Suche nach einer Orientierung.

Im Wintersemester 1919/20 studierte Goebbels in München. Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) und Hitler nahm er zu diesem Zeitpunkt nicht wahr. In den Erinnerungsblättern, die er im Sommer 1924 seinem im Oktober 1923 begonnenen Tagebuch voranstellte und in denen er seine Lebensgeschichte von seiner Geburt an bis zu jenem Oktober festhielt, werden sie im entsprechendem Abschnitt mit keinem Wort erwähnt.18 Die DAP, die am 24. Februar 1920 in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) umbenannt werden sollte, war eine von vielen nationalistisch-antisemitischen, antimarxistischen und antiliberalen Gruppen, die im Gefolge der politischen und gesellschaftlichen Erschütterungen nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg entstanden war. Hitler, der nach der Zerschlagung der Bayerischen Räterepublik im Auftrag des Münchener Reichswehrgruppenkommandos als antimarxistischer Agitator bei Soldaten eingesetzt wurde, hatte am 12. September 1919 im Auftrag seiner Dienststelle eine Versammlung der DAP besucht und war ihr kurz darauf beigetreten. Etwa drei Wochen nachdem Goebbels sein Zimmer in München bezogen hatte, hielt Hitler am 16. Oktober 1919 erstmals auf einer Versammlung der Deutschen Arbeiterpartei eine Rede.19

Im Frühjahr 1921 begann Goebbels seine Doktorarbeit zu schreiben. Sein Selbstwertgefühl steigernd, fungierte der Doktortitel als Kompensation für seine körperlichen und sozialen Defizite. Zeit seines Lebens sollte er sich mit seinem Titel anreden lassen.20

Goebbels verfasste die Dissertation innerhalb von vier Monaten. Er beschäftigte sich hierbei mit Wilhelm von Schütz, einem Dramatiker der romantischen Schule aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In der Dissertation offenbarte sich Goebbels` sehnlichster Wunsch nach einem Führer, einem „Genie“.21 In Hitler, der im Juli 1921 den Parteivorsitz der NSDAP übernommen hatte, sah er dieses „Genie“ jedoch noch nicht. Allerdings war Hitler zu diesem Zeitpunkt lediglich ein „Bierkelleragitator“, eine Lokalgröße, die ansonsten weitgehend unbekannt war.22

Die Sehnsucht nach einem Führer, die sich bei Goebbels manifestierte, war keine Besonderheit in der Weimarer Republik. Viele Deutsche in allen politischen Lagern standen dem Weimarer System von Anfang an mit großen Vorbehalten gegenüber. Liberalisierung, Parlamentarisierung und Demokratisierung hatten in Deutschland verspätet eingesetzt und verknüpften sich 1918/19 mit dem Schock der für viele unerwarteten Niederlage. Der militärische Zusammenbruch sowie seine sozialen und politischen Nachwirkungen, die in Folge des Versailler Friedensvertrages nicht schnell genug abgebaut werden konnten, wurden den Politikern und Parteien der „Novemberrevolution“ angelastet. So war der Ruf nach einem Führer ein herausragendes Leitmotiv der öffentlichen Meinung in Deutschland.23 Das autoritäre „heroische“ Führertum erschien insbesondere den antidemokratischen Rechten als erstrebenswerte Alternative zum verhassten parteipolitischen System, aber auch in bürgerlich-konservativen Parteien und Bewegungen fanden sich hierfür zahlreiche Sympathisanten.24 Der nationalistische Führermythos beinhaltete die Erwartung, dass ein vom Himmel auserwählter, mit besonderen Gaben versehener großer Mensch Deutschland aus seiner Not reißen und zu neuer Größe führen würde.25 Der Führergedanke wies somit einen religiösen Akzent auf. Die Idee des Führertums war teils auf die traditionelle Autoritätshörigkeit, teils auf die Säkularisierung des christlichen Heilsglaubens zurückzuführen.26 Den völkisch-nationalen Vorstellungen zufolge sah man den idealen Führer in einem Mann, der aus dem Volk kam und in dessen Charakter sich Kampf, Konflikt und die Werte des Schützengrabens widerspiegelten. Seine Aufgabe war es, die in der Gesellschaft existierenden Privilegien und Klassen zu beseitigen und in selbstloser Entsagung das Volk in einer ethnisch reinen und sozial harmonischen „nationalen Gemeinschaft“ zu einen.27 Damit sollte die „führerlose Demokratie“ Weimars überwunden werden. Die „minderwertigen“ Parteifunktionäre erschienen als das genaue Gegenbild zum Führer, da diese angeblich nur den eigenen Vorteil im Sinn hatten. Den Parteiführern warfen die antidemokratischen Gruppen Volksverführung und Demagogie vor. Ihre gängige Auffassung ging dahin, dass man führungsbegabte Persönlichkeiten in einem parlamentarischen System nicht finden könne.28

Nachdem Goebbels seine Doktorarbeit abgeschlossen hatte, ähnelten seine beruflichen Pläne eher phantastischen Träumereien. So wollte er freier Journalist oder Schriftsteller werden – beides waren Tätigkeiten, die ihn kaum hätten ernähren können. Anfang 1922 gelang es ihm, sechs Aufsätze in der Westdeutschen Landeszeitung zu veröffentlichen. Beim Feuilleton der Zeitung wurde er im Herbst kurzzeitig als Volontär angestellt.29

Im Januar 1923 nahm Goebbels eine Stelle bei der Dresdner Bank in Köln an. Er hatte einen starken Widerwillen gegen die neue Tätigkeit, die seinen Überzeugungen widersprach. Die Erinnerungsblätter vermitteln seine labile psychische Verfassung.30 Seine „antikapitalistischen“ Tendenzen ließen sich nicht mit der Arbeit in einer Bank vereinbaren. Lange sollte Goebbels hier dann ohnehin nicht bleiben – im September desselben Jahres wurde ihm gekündigt.

Schaut man sich Goebbels` Erinnerungsblätter an, so wird in dem Teil, in dem er seinen Lebensabschnitt bei der Dresdner Bank rekapituliert, zum ersten und einzigen Mal Hitler erwähnt. Völlig zusammenhanglos und unkommentiert vermerkte er: „Die Judenfrage in der Kunst. Gundolf. Geistige Klärung. Bayern. Hitler. Abends früh zu Hause.“31

Goebbels wird hierbei auf die Geschehnisse, die sich nach der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen in Bayern ereigneten, angespielt haben. Unter dem Vorwand, Deutschland habe seine Reparationsforderungen nicht erfüllt, war eine belgisch-französische Armee im Januar 1923 ins Ruhrgebiet einmarschiert. Daraufhin hatte sich die Regierung in Berlin dazu entschlossen, den passiven Widerstand auszurufen.32 Hitler reagierte auf diesen Entschluss mit einer propagandistischen Offensive, indem er die Idee eines „Führertums“ beschwor und verlauten ließ, der deutschen Ohnmacht bald ein Ende bereiten zu wollen. Im April plante die „Arbeitsgemeinschaft der Vaterländischen Kampfverbände“, zu der auch die SA, der Ordnerdienst der NSDAP, gehörte, zum Monatswechsel in München loszuschlagen. Am 1. Mai scheiterte jedoch ihr Versuch, die Mai-Kundgebung von SPD und Gewerkschaften auf der Theresienwiese zu sprengen. Der Sturz der bayerischen Regierung gelang ihr ebenfalls nicht. Der 1. Mai 1923 stellte sich für Hitler als der schwerste Rückschlag heraus, den er bis dahin hatte einstecken müssen.33

Anfang der zwanziger Jahre bildeten sich bei Goebbels, der nicht im außergewöhnlich judenfeindlichen Umfeld aufgewachsen und erzogen wurde, allmählich antisemitische Annahmen heraus. Begünstigt wurde dies durch die Auseinandersetzung mit vielfältigen literarischen und fach- oder pseudowissenschaftlichen Werken. Goebbels begann in den Juden die Verkörperung des ihm verhassten Materialismus zu sehen und machte sie für alle Übel dieser Welt verantwortlich. Während seiner Anstellung bei der Dresdner Bank verstärkte sich diese Haltung gegenüber den Juden. Er warf ihnen vor, Deutschland innenpolitisch schwächen und wirtschaftlich ausbeuten zu wollen. Ab 1926 sollten sich diese antisemitischen Überzeugungen im Kontakt zu Hitler maßgeblich festigen.34

Im Sommer 1923 wurde Goebbels vom Tod seines Freundes Richard Flisges erschüttert. Er glaubte, sich an einem weiteren Tiefpunkt seines Lebens zu befinden35 und beschloss, seinen Kummer literarisch zu verarbeiten – eine Methode, die er schon oft im Leben in für ihn schwierigen Situationen angewandt hatte. In dem nun entstandenen Roman Michael Voormann. Ein Menschenschicksal in Tagebuchblättern kam Goebbels` Sehnsucht nach einem Führer erneut zum Vorschein. Diesem wollte er sich bedingungslos dienstbar machen, um mit ihm zusammen ein „neues Deutschland“ zu erschaffen.36 Noch war seine Sehnsucht aber nicht auf eine bestimmte Person konzentriert.

Der seit September arbeitslose Goebbels erlebte nun den Abbruch des Ruhrkampfs durch die Reichsregierung. Die Wirtschaft war völlig zerrüttet, die Inflation stieg unaufhaltsam in die Höhe. Goebbels glaubte an den „Untergang des deutschen Gedankens“.37

Den Hitler-Putsch in München am 8./9. November 1923 registrierte er in seinem am 17. Oktober begonnenen Tagebuch. Allerdings erwähnte er Hitler mit keinem Wort und handelte den Putsch sehr kurz in zwei Sätzen ab: „In Bayern Nationalistenputsch. Ludendorff ist wieder einmal zufällig spazierengegangen.“38 Ludendorff, der im Ersten Weltkrieg als Erster Generalquartiermeister Berühmtheit erlangt hatte, galt allgemein als der symbolische Kopf der nationalistischen Rechtsradikalen, obwohl er selbst keine Gruppe offen leitete. Als prominenter Verfechter der „Dolchstoßlegende“ bewegte er sich im Fahrwasser der Alldeutschen. Er hatte im Kapp-Putsch eine Nebenrolle gespielt, bevor er sich am Hitler-Putsch beteiligte. Daher auch Goebbels Formulierung „wieder einmal“. Zwar war Hitler zwischen 1921 und 1923 vom örtlichen „Bierkelleragitator“ zum „Trommler“ der nationalistischen Rechten aufgestiegen,39 aber im Gegensatz zum Kriegshelden Ludendorff, der als hochrangige Persönlichkeit galt, wird er für Goebbels noch immer eine untergeordnete Rolle gespielt haben – falls er ihn überhaupt wahrgenommen hat. Die Tatsache, dass er Hitler in den Erinnerungsblättern zu einem früheren Zeitpunkt aufgeführt hatte, lässt sich damit erklären, dass er diese erst im Sommer 1924 anfertigte, nachdem er mit der NSDAP in Berührung gekommen war und entsprechende Vorkenntnisse erworben hatte.

Während nach dem Hitler-Putsch durch die Einführung der Rentenmark am 15. November das Ende der Inflation eingeleitet wurde und sich die junge Republik nach erfolgreicher Abwehr der Angriffe von rechts und links zu konsolidieren begann, war Goebbels noch immer arbeitslos und auf der Suche nach einer neuen Anstellung. Seine Versuche, als Journalist eine Arbeit zu finden, erwiesen sich jedoch als vergeblich.

Anfang des Jahres 1924 sah Goebbels „seinen Führer“ in einer konkreten Person. So schrieb er im Februar in sein Tagebuch: „Dostojewski. (…) Er kommt von nirgendwo und gehört nirgendwohin. Ich kenne kaum etwas aus seinem Leben und Werden. Und doch ist er mein Prophet, mein Engel, mein Bruder, mein Freund, mein Führer, mein Bruder, mein großer Lehrer und Weiser in die Zukunft.“ 40 Goebbels hatte bereits in seiner Studienzeit angefangen, sich mit Fjodor Michailowitsch Dostojewski zu beschäftigen und sich zu einem glühenden Verehrer des russischen Schriftstellers entwickelt, der ihn auch bei den eigenen literarischen Versuchen inspirierte. Durch ihn meinte er erkannt zu haben, dass das Wesen des russischen Volkes dem des deutschen verwandt sei. Goebbels war von Russland geradezu fasziniert – ganz im Gegensatz zu Hitler.

Im Zusammenhang mit dem am 26. Februar begonnenen Münchner Hochverratsprozess gegen die November-Putschisten, in dem Hitler die Anklagebank als Rednertribüne nutzte und hierbei zahlreiche Sympathien in der deutschen Öffentlichkeit weckte, wurde Goebbels auf ihn aufmerksam. In seinem Tagebuch vermerkte er: „Ich beschäftige mich mit Hitler und der nationalsozialistischen Bewegung und werde das wohl noch lange tuen müssen.“41 Zwei Tage später ist zu lesen: „Viel mit Hitler zu tuen. Ich komme nicht durch. Verquickt mit allen schwierigen Problemen des Abendlandes. Kommunismus, Judenfrage, Christentum, Deutschland der Zukunft. Ich will mit Ernst darangehen.“42 Bereits zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich ein Merkmal ab, das in den Tagebüchern in der Folge öfters zum Vorschein kommen sollte - Goebbels schwankte in seinem Urteil über Hitler. Er ist hin und her gerissen:

„Hitler schneidet manche Frage an. Aber die Lösung macht er sich sehr einfach. Vielleicht ist das Ziel richtig, aber die Wege überzeugen mich nicht. Und das Christentum dieser Herren hat doch mit Christus selbst fast nichts mehr zu tuen. Wieder einmal das alte Lied: man muß sich doch seinen Weg selbst suchen. Befreiend ist bei Hitler das Einsetzen einer ganzen aufrechten und wahrhaftigen Persönlichkeit. Das findet man in unserer Welt der Parteiinteressen so selten.“43

Auffällig ist, dass Goebbels im Zusammenhang mit Hitler das Christentum zur Sprache brachte. Obwohl er sich während seines Studiums von der katholischen Kirche distanziert hatte, gab er seinen Glauben an Christus und die christliche Religion nie auf.44 Wie aus den Tagebucheintragungen ersichtlich, beschäftigte ihn das Christentum stark. Der Glaubenshunger war es schließlich, der ihn in die Arme Hitlers trieb. Er sehnte sich nach festem Glaubensgrund.45 So schrieb er am 20. März: „Hitler ist ein Idealist, der Begeisterung hat. Ein Mann, der dem deutschen Volke einen neuen Glauben bringt. Ich lese seine Reden und lasse mich von ihm begeistern und zu den Sternen tragen. (…) Wir fragen immer nach dem Weg. Aber hier ist ein Wille. Der findet schon den Weg.“46 Zwei Tage später schwärmte er von neuem: „Nur Hitler beschäftigt mich andauernd. Geistig ist dieser Mann ja nicht. Aber sein wunderbarer Elan, seine Verve, seine Begeisterung, sein deutsches Gemüt. Was tut das gut, wieder einmal Herzenstöne zu vernehmen. Man atmet ordentlich auf.“47 Über das Ende des Hochverratsprozesses zeigte er sich entsprechend verstimmt: „Der Staatsanwalt hat gegen Adolf Hitler acht Jahre Festung beantragt. Vielleicht sperrt man den glühendsten Deutschen ein; - zum Schutz der Republik.“ 48

In der Folge schloss sich Goebbels seinem ehemaligen Schulkameraden Fritz Prang an. Dieser war 1922 der NSDAP beigetreten und engagierte sich für die nach dem Hitler-Putsch im Rheinland verbotene Partei. Um bei der Reichstagswahl am 4. Mai 1924 trotz des illegalen Status teilnehmen zu können, vereinigte sich die NSDAP mit der Deutschvölkischen Freiheitspartei zum „Völkisch-sozialen Block“. Mit 6,5 Prozent im Reichsdurchschnitt erzielten die Völkisch-Sozialen bei dieser Wahl einen beachtlichen Erfolg. In Rheydt erhielten sie 738 Stimmen und konnten, da die Reichstagswahl mit der Wahl der Stadtverordneten zusammenhing, einen Vertreter ins Rathaus schicken.49 Goebbels, der nun politisch aktiv war, vermerkte in seinem Tagebuch: „Einen Kandidaten haben wir für den Stadtrat durch. Gestern den ganzen Tag auf dem Auto gesessen. Am Abend bange Stunden des Wartens. Dann das Resultat. Lauter Jubel. Ein Hoch auf Hitler! Heil und Sieg!“50 Seine ganze Sympathie gehörte somit Hitler.

Am 7. Mai teilte Goebbels seinem Tagebuch mit, er habe vor, mit Fritz Prang zu Hitler zu fahren, um mit Letzterem Rücksprache wegen des Plans für eine deutschvölkische Zeitschrift zu halten.51 Tatsächlich sollte diese Reise jedoch nicht stattfinden. Goebbels war wahrscheinlich nach der Reichstagswahl in einer euphorischen Stimmung und hatte somit seine reellen Möglichkeiten vollkommen überschätzt. Die Aussicht, dem Dasein als Arbeitsloser zu entrinnen, wird seine Phantasie zusätzlich beflügelt haben. Hitler sollte ihn jedenfalls während seines ganzen Gefängnisaufenthaltes nicht empfangen.

Im Juni begleitete Goebbels Prang zu einem Treffen der Deutschvölkischen Freiheitspartei nach Elberfeld. Seine Eindrücke hielt er folgendermaßen fest:

„Das sind also die Führer der völkischen Bewegung im besetzten Gebiet. Ihr Juden und ihr Herren Franzosen und Belgier, ihr braucht keine Angst zu haben. Vor denen seid ihr sicher. Ich habe selten eine Versammlung mitgemacht, in der so viel geschimpft wurde, wie in der gestrigen. (…) Im unbesetzten Gebiet ist der Kampf schon aufs heftigste entbrannt, den ich so lange schon erwartete: der zwischen völkischer Freiheitspartei und nationalsozialistischer Arbeiterpartei: Die beiden gehören ja auch gar nicht zusammen. (…) München und Berlin stehen im Kampf. Man kann auch sagen, Hitler und Ludendorff. Wohin ich gehe, kann kaum die Frage sein. Zu den Jungen, die tatsächlich den neuen Menschen wollen. (…) Ich muß viel eher nach München, denn nach Berlin. Wenn Hitler doch frei wäre!“52

Somit sah Goebbels in Hitler den Mann der Tat, dem er eine rettende Idee zutraute. Da Hitler aber in Landsberg am Lech seine Festungshaft absaß, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit der Deutschvölkischen Freiheitspartei zu arrangieren, zumal der Elberfelder Stadtverordnete und Parteiführer Friedrich Wiegershaus die Samstagszeitung Völkische Freiheit herausgab, in der Goebbels einige Artikel veröffentlichen wollte.

Besorgt sah er in die „völkische Zukunft“, wobei das „Führersyndrom“ wieder einmal zum Vorschein kam:

„Der Gedanke des völkischen Großdeutschlands ist gut. Aber es fehlen die tüchtigen, fleißigen, klugen und edlen Führer. Mit dem guten Willen und der vornehmen Gesinnung allein ist`s nicht getan. (…) Herr Wiegershaus, … ein guter Kerl, nur kein Mann, der der Jugend imponieren könnte. Keine Führernatur. Ich kenne überhaupt noch keine völkischen Führer. Ich muß bald einen kennen lernen, damit ich mir wieder etwas neuen Mut und neues Selbstvertrauen hole.“53

Goebbels war bereits so stark von dem „Führergedanken“ erfüllt, dass er das eigene Wohl von der Existenz eines Führers abhängig machte. Aus der Vorstellung, dass es einen Führer geben müsse, schien er seine Lebenskraft zu schöpfen, wobei hier ganz deutlich wird, dass trotz seiner Bewunderung für Hitler, er diesen noch keinesfalls zu „seinem Führer“ erkoren hatte. Goebbels war weiterhin auf der Suche. Die „Führersehnsucht“ führte bei ihm zuweilen zu Verzweiflungsausbrüchen, da das „Genie“ ja noch nicht gefunden war:

„Deutschland sehnt sich nach dem Einen, dem Mann, wie die Erde im Sommer nach Regen. Uns rettet nur noch letzte Sammlung der Kraft, Begeisterung und restlose Hingabe. Das sind alles ja Wunderdinge. Aber kann uns nicht nur noch ein Wunder helfen? Herr, zeig dem deutschen Volke ein Wunder! Ein Wunder!! Einen Mann!! Bismarck, sta up!“54