Loe raamatut: «Vernunft und Offenbarung»
Können wir seit der Aufklärung eine universelle Moral ohne Gott denken? Lassen sich – insbesondere nach Auschwitz – Menschenrechte und Menschenwürde ohne den Rückbezug auf die jüdischchristliche Tradition gedanklich fassen? In Auseinandersetzung mit so unterschiedlichen Denkern des 20. Jahrhunderts wie Hermann Cohen und Leo Baeck, Ernst Bloch und George Herbert Mead, Hannah Arendt und Carl Schmitt geht es Micha Brumlik um den Nachweis, dass „spezifisch jüdische Motive über den Begriff der Offenbarung hinaus einen rationellen Kern enthalten, der auch jenseits konventionell gebundenen Glaubens, wenn schon nicht zu überzeugen, so doch mindestens aufzurütteln vermag“. Brumlik sucht in seinen Essays gleichzeitig nach Traditionen und Blockaden einer universellen Moral. Seine Tiefenbohrungen nach jüdischchristlichen Quellen philosophischen und politischen Denkens weisen so auch der Moralphilosophie neue Wege.
Micha Brumlik, geboren 1947 in Davos, Schweiz, lehrte Erziehungswissenschaft u. a. in Hamburg und Heidelberg. Von 2000 bis 2013 war er Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main und bis 2005 Direktor des Fritz Bauer Instituts, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Seit 2013 ist Brumlik Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg.
Zahlreiche Veröffentlichungen: Aus Katastrophen lernen? (2004), Advokatorische Ethik (2004), Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts (2006), Schrift, Wort und Ikone. Wege aus dem Bilderverbot (2006) und Kritik des Zionismus (2007) bei der EVA. Entstehung des Christentums (2010) sowie Messianisches Licht und Menschenwürde. Politische Theorie aus Quellen jüdischer Tradition (2013).
Micha Brumlik
Vernunft und Offenbarung
Religionsphilosophische Versuche
Mit einem Nachwort:
Das neue Interesse an Religionsphilosophie
E-Book (EPUB):
© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2022
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung: nach Entwürfen von: MetaDesign, Berlin
EPUB:
ISBN 978-3-86393-602-0
Auch als gedrucktes Buch erhältlich:
Neuauflage CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2014
mit einem aktuellen Nachwort von Micha Brumlik
Print-Erstausgabe: © 2001 Philo Verlagsgesellschaft mbH Berlin / Wien
Print: ISBN 978-3-86393-024-0
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Vorwort
In diesen Tagen, Tagen, in denen die Fertigstellung der zweiten Auflage meines Buches Vernunft und Offenbarung ihrem Ende entgegengeht, zeigt das, was gemeinhin als „Religion“ bezeichnet wird, seine wohl hässlichste Fratze. In diesem Oktober des Jahres 2014 verteidigen kurdische Milizionäre, von den USA aus der Luft unterstützt, die an der türkisch-syrischen Grenze gelegene Stadt Kobane gegen die mörderische Soldateska des „IS“. Der „IS“ aber, eine radikalislamistische Truppe, deren Anführer jedenfalls ehrlich von der absoluten Wahrheit und Gottgefälligkeit ihres Tuns überzeugt sind, verkörpert wie in einem Brennglas alle Negativa der Religion, die die moderne Religionskritik anprangerte: Intoleranz, Gewalt und Grausamkeit.
Das Vorgehen des „IS“ erinnert zum Beispiel an die sogenannten Albigenserkreuzzüge des katholischen Frankreich gegen das südfranzösische Katharertum im frühen 13. Jahrhundert. Als die von fanatischen Dominikanern aufgehetzte französische Armee dabei war, 1209 die von Katharern gehaltene Stadt Béziers zu erobern, wohl wissend, dass sich in ihren Mauern auch katholische Christen befanden, gab der die Armee begleitende päpstliche Gesandte, Abt Arnaud Amaury, folgende Parole aus: „Tötet sie alle! Gott kennt die Seinen schon“ (Caedite eos! Novit enim Dominus qui sunt eius). Daraufhin wurden sämtliche Einwohner von Béziers, Katholiken und Katharer, Männer, Frauen und Kinder, Alte und Junge, alles in allem 20.000 Menschen, erbarmungslos umgebracht.
Das Geschehen in Kobane und um den „IS“ scheint daher all jenen recht zu geben, die – wie der Ägyptologe Jan Assmann – nachweisen wollen, dass die Verbindung von Gottes- und Wahrheitsfrage, zumal im monotheistischen Gewande, aufgrund notwendiger Intoleranz mörderische Konsequenzen zur Folge hat. Tatsächlich: In Kobane und den Kurdengebieten an der türkisch-syrischen Grenze droht derzeit, im Oktober 2014, ein Genozid; neu an dieser Situation ist seine religiöse Begründung – das 20. Jahrhundert kannte zwar viele Formen des Genozids und des Politizids, Genozide aus vor allem religiösen Ursachen kamen jedoch kaum vor – die vorgebrachten Motive für massenhafte Morde waren rassistischer, ökonomischer oder nationalistischer Art.
Die Neuauflage meines Buches, in dem es um eine Sichtung emanzipatorischer Gehalte der jüdischen Tradition geht, ist um ein umfangreiches neues Kapitel, ein Nachwort, ergänzt worden, in dem ich mir darüber Rechenschaft abzulegen versuche, ob und wie „Offenbarung“ heute, im frühen 21. Jahrhundert, noch zu verstehen sei.
Vom Blick auf Kobane beinahe geblendet, ist kaum noch nachzuvollziehen, was ein Theologe und Religionsphilosoph, der Berliner Professor Friedrich Daniel Schleiermacher, meinte, als er 1799 in Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern schrieb, dass Religion „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ sei. Auch Karl Marx’ bekanntes Wort, „Religion“ sei „Opium des Volkes“, trifft das Phänomen digital verbreiteter Mordtaten wie das Köpfen von Menschen überhaupt nicht mehr: Hier findet sich nichts, was auch nur im Geringsten einschläfernd oder beruhigend wirken könnte. Man kann daher kaum verstehen, was es heißen soll, dass beides, sowohl diese Gräueltaten als auch das mutige Eintreten von Papst Franziskus für im Mittelmeer gestrandete Flüchtlinge, Fälle desselben Phänomens, von „Religion“, sein sollen. Hilft die vom Schweizer reformierten Theologen Karl Barth getroffene Unterscheidung von „Religion“ und „Glaube“ weiter? Und wenn ja: Wer kann, wer darf überhaupt beanspruchen, im wahren, im richtigen „Glauben“ zu sein?
Ich widme dieses Buch Freunden, denen ich aus über Jahrzehnte währenden Debatten zum Thema Religion und Theologie Wesentliches verdanke: Hauke Brunkhorst, der, seit ich ihn kenne, seit 1970, als Gesellschaftstheoretiker im Geist einer negativen Dialektik jede vorschnell ausgerufene „Transzendenz“ und damit jeden falschen Trost kritisiert; Werner Schneider-Quindeau, der mich vor mehr als drei Jahrzehnten mit dem Denken Karl Barths vertraut gemacht hat und wesentlicher Partner in der Erneuerung des jüdisch-christlichen Gesprächs war und ist; und schließlich meinem Freund und langjährigen Mitstreiter aus der „AG Juden und Christen“ beim „Deutschen Evangelischen Kirchentag“, dem Bochumer Theologen Klaus Wengst, dessen eindringliche Exegese neutestamentlicher Schriften mir neue Horizonte eröffnet hat.
Nicht zuletzt gilt mein Dank Irmela und Axel Rütters, die sich seit Jahren meiner Bücher annehmen.
Berlin, 14. Oktober 2014
Inhalt
Vernunft und Offenbarung
Patriotismus und ethischer Unsterblichkeitsglaube: Hermann Cohen
Der Begriff der Offenbarung bei Steinheim und Schelling
Leo Baecks Theorie des Judentums als Vollendung der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik
Modernes Judentum und antitotalitärer Konsens
Freuds Religionskritik und die Theorie der Moral
Theologie und Messianismus im Denken Adornos
Vom theologischen Sinn des Bilderverbots
Carl Schmitts theologisch-politischer Antijudaismus
Das verkörperte ‚Sein für die Anderen‘ Zu Sartres Theorie des Judentums
George Herbert Mead und Ernst Bloch als Theoretiker des ‚Neuen‘
Trauerarbeit an der Moderne und melancholischer Messianismus
Gerechtigkeit zwischen den Generationen
Universalistische Moral ohne Gott? Emmanuel Levinas’ Ethik der Asymmetrie
Anerkennung und Erkenntnis in der geschlechtlichen Liebe Anmerkungen zu Positionen biblischen Denkens
Quellennachweise
Anmerkungen
Nachwort: Das neue Interesse an Religionsphilosophie
Anmerkungen zum Nachwort
Vernunft und Offenbarung
Vernunft und Offenbarung – das Spannungsverhältnis von autonomem menschlichem Denken und geschenktem göttlichen Wort beschäftigte die abendländische Religionsphilosophie von allem Anfang an. Ist der Mensch aus eigener Kraft in der Lage, Gottes Willen zu erkennen oder ist er – letzten Endes blind und befangen – auf ein unvordenkliches göttliches Wort verwiesen, dem er vertrauen muß und darf, auch dann, wenn er ihm nicht im letzten folgen kann?
Jüdische Religionsphilosophie seit der Aufklärung – wesentlich von Kant beeinflußt – hat sich dieser Frage immer wieder gestellt und dabei den scholastischen, katholischen Weg einer natürlichen Vernunft nur bedingt akzeptiert. Umgekehrt haben sich verschiedenste nichtjüdische Denker immer wieder mit den Grundstrukturen jüdischen Denkens und jüdischer Existenz auseinandergesetzt und den Versuch unternommen, dessen Eigentümlichkeiten positiv oder negativ zu bewerten. Darüber hinaus haben oft genug jüdische Denker, auch dann und dort, wo sie sich nicht explizit mit jüdischen Themen auseinandergesetzt haben und judaistischer Kenntnisse durchaus entbehrten, in ihren Arbeiten Motive der jüdischen Tradition entfaltet, weiterentwickelt und in einigen Fällen zur Vollendung gebracht.
Die hier versammelten Beiträge aus vierzehn Jahren gehen den Spuren jüdischen Denkens in der frühen Moderne nach und sind um den Nachweis bemüht, daß spezifisch jüdische Motive über den Begriff der Offenbarung hinaus, also etwa die „Auferstehung der Toten“, das biblische Bilderverbot, die Idee eines noch ausstehenden Messias, einer unbedingten göttlichen Weisung sowie einer Solidarität der menschlichen Generationen einen rationalen Kern enthalten, der auch jenseits konventionell gebundenen Glaubens wenn schon nicht zu überzeugen, so doch mindestens aufzurütteln vermag.
Die Prägung moderner jüdischer Religionsphilosophie durch Immanuel Kant, seine Kritik der Gottesbeweise sowie seiner kategorische Morallehre ließ bei jüdischen Denkern, gleichgültig, ob orthodox oder liberal eingestellt – eine Wahlverwandtschaft zur Offenbarung der Thora am Sinai sichtbar werden.
Für Hermann Cohen, dessen nachgelassenes Werk Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums auf der Basis Kants eine intersubjektivistische Moral mitmenschlicher Verantwortung entwarf, galt dies ebenso wie für den heute nach wie vor vergessenen Salomo Ludwig Steinheim, dessen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erschienenes Werk Die Offenbarung nach dem Lehrbegriffe des Synagoge von Kant her biblische Schöpfungstheologie und moralische Verantwortlichkeit miteinander zu verbinden sucht. Das hier vorgelegte Kapitel zu Cohen vollzieht nach, auf welchen Wegen und Irrwegen der bekannteste Neukantianer jüdisches Ethos, kantianische Philosophie und deutsches nationales Pathos im Rahmen einer biblisch inspirierten universalistischen Moral zu vereinigen suchte. Demgegenüber wollte Steinheim sechzig Jahre früher das Gebot menschlicher Sittlichkeit ebenso kühn wie überzeugt nicht aus der praktischen Philosophie Kants, sondern aus seinem theoretischen Hauptwerk, der Kritik der reinen Vernunft, ableiten. An Cohen und Steinheim läßt sich lernen, wie wenig auch eine aufgeklärte Moral auf das religiöse Erbe verzichten kann.
Jüdisches Denken ist gleichwohl seit den biblischen Schriften ein Denken der Geschichte – aber auch ein Denken in Geschichten, in Narrativen, ein Umstand, der in verblüffender Weise Grundüberzeugungen der aus der Romantik entstandenen verstehenden Geisteswissenschaft Wilhelm Diltheys entspricht. Leo Baeck, der letzte bedeutende Repräsentant des klassischen deutschen Judentums promovierte bei Wilhelm Dilthey. Sein Hauptwerk Das Wesen des Judentums, eine apologetische Reaktion auf die antijudaistische Abhandlung zum Wesen des Christentums des liberalen Theologen Adolf von Harnack zu Beginn des Jahrhunderts, zehrt ganz und gar von der geisteswissenschaftlichen Tradition und versucht gleichwohl, ihrem Historismus eine universalistische Moral entgegenzuhalten.
Hannah Arendt und Sigmund Freud standen beide bewußt und stolz zu ihrer jüdischen Tradition, ohne doch jüdische Denker in dem Sinne zu sein, daß sie sich in ihren Hauptwerken mit Themen der jüdischen Tradition befaßten. Als jüdisch in ihrem Denken lassen sie sich jedoch dann bezeichnen, wenn man die Auseinandersetzung mit jüdischer Existenz in der Moderne als eine ihrer zentralen Fragen betrachtet, wofür sowohl Freuds Mann Moses als auch Arendts Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft sowie ihre Aufsätze zur Verborgenen Tradition sprechen. Daß die jüdische Frage das gar nicht so geheime Leitmotiv der Ursprünge und Elemente darstellt und Freuds Mann Moses sowie die darin enthaltene Theorie der Moral aus der existentiellen Bedrohung des europäischen Judentums in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts heraus geschrieben wurden, belegt, in welchem Ausmaß allgemeine Zeitdiagnose zur Deutung jüdischer Existenz und diese wiederum zur Chiffre ihrer Epoche wird.
Die Abstraktheit des jüdischen Monotheismus mitsamt seinem Bilderverbot und einem gleichwohl anthropomorphen, personalen Gott hat Spuren bis in die moderne Ästhetik, aber auch bis in die Theorie der Intersubjektivität hinein hinterlassen. Die gleichermaßen in den dreißiger und vierziger Jahren entstandenen Schriften jener Autoren, die später unter dem Etikett „Frankfurter Schule“ firmieren sollten und im Anschluß an Hegel eine Theorie kritischer Negativität wider die bestehenden Verhältnisse präsentierten, zehrten stärker von anverwandelten Motiven jüdischer Theologie als das auf den ersten Blick deutlich wird. „Theologie und Messianismus im Denken Adornos“ gewinnen ihr volles Gewicht dann, wenn man sich noch einmal den „theologischen Sinn des Bilderverbots“ vergegenwärtigt und sich klar macht, in welchem Ausmaß sich bereits die biblischen Schriften als eine Theorie sinnlicher Intersubjektivität lesen lassen, die konträr zur Abstraktheit des platonischen Denkens steht, auch und gerade dort, wo sich dieses auf dialogische, zwischenmenschliche Beziehungen einzulassen versucht.
Der jüdische Universalismus war in der Moderne stets all jenen ein Dorn im Auge, die die konkreten Selbstbehauptungsinteressen partikularer Gemeinwesen zum Zentrum ihres Denkens machten. Dabei konnten sie oft genug von Traditionen antijudaistischen Denkens in christlicher Tradition zehren. Der den Nationalsozialisten schließlich hörige, auf seine Weise genialische deutsche Verfassungsrechtler Carl Schmitt hat sich dieser Argumentationsweisen ausgiebig bedient. Im Negativ seines Antijudaismus wird deutlich, wie das Judentum in der Moderne wahrgenommen werden konnte. Aber auch einem aus existentieller und politischer Verantwortung für die Juden eintretenden Autor wie Jean-Paul Sartre gelingt es nicht immer – nicht einmal dort, wo er sich mit dem Antisemitismus auseinandersetzt – jenen Klischees zu entgehen, die er doch kritisieren möchte.
Dabei war Schmitts Ahnung von einer Wesensverwandtschaft von Judentum und Moderne so abseitig nicht. Im Werk so heterogener Autoren wie Ernst Bloch, Franz Kafka, Walter Benjamin und Emmanuel Levinas werden Begriffe, die die Signatur der Moderne ausmachen – „das Neue“, „das Späte“, „zu Späte“, „das Jähe“ und „das Unmittelbare“ – ausdrücklich oder unausdrücklich an Gehalte der jüdischen Tradition rückgebunden. Wo Bloch seiner Ontologie des „Noch-Nicht“ und der Hoffnung einen nun in der Tat heterodoxen Begriff eines sich selbst forttreibenden Absoluten zumißt, bezieht sich Franz Kafka auf die biblische Idee des Messias, um sie gegen jeden Optimismus zu kehren und die Heils- und Hoffnungslosigkeit aller geschichtlichen Erfahrung zu demonstrieren. Die gleiche Idee wird bei Walter Benjamin zum Unterpfand einer plötzlichen Rettung, eines Auftrages an die je Gegenwärtigen, dem geschichtlichen Verlauf noch einen rettenden Abschluß zu verleihen.
Daß das Unterpfand der Rettung sich als eine Weisung zeigt, die als Spur Gottes in jedem menschlichen Antlitz unmittelbar sichtbar wird, ist die Überzeugung von Emmanuel Levinas, der von Bibel und Talmud her die ontologische Grundstruktur allen abendländischen Philosophierens und dessen Moralvergessenheit kritisiert.
Nach Levinas Überzeugung war es diese Moralvergessenheit, die das abendländische Denken zum Wegbereiter der Vernichtungslager werden ließ. In striktem Gegensatz zur theoretischen Einstellung der abendländischen Philosophie seit der griechischen Antike setzt Levinas daher auf eine unvordenkliche Praxis, die die Menschen je schon in wechselseitige Verantwortungs- und Verpflichtungsverhältnisse gesetzt hat, in Verhältnisse, die sie aufgrund ihrer theoretischen Einstellungen verdrängt haben. Indem Levinas jedoch unbarmherzig auf den durchaus zwanghaften Charakter dieser Verantwortungsverhältnisse hinweist, bleibt er der Moderne, die bewußt an der Moral leidet, treu. Kann die gebietende Stimme vom Sinai, die die Verhärtungen des menschlichen Herzens aufbrechen wollte, in diesem Sinne als Ursprung eines die Moderne überwindenden oder gar zur Vollendung bringenden Denkens verstanden werden?
Patriotismus und ethischer Unsterblichkeitsglaube: Hermann Cohen
I.Deutscher Professor und jüdischer Denker
„Wir leben in dem Hochgefühl des deutschen Patriotismus, daß die Einheit, die zwischen Deutschtum und Judentum die ganze bisherige Geschichte des Judentums sich angebahnt hat, nunmehr endlich als eine kulturgeschichtliche Wahrheit in der deutschen Politik und im deutschen Volksleben, auch im deutschen Volksgefühl aufleuchten werde. Wenn mit diesem Kriege die letzten Schatten verscheucht werden, welche die innere deutsche Einheit verdunkeln, dann wird über alle Schranken der Religionen und der Völker hinweg der weltbürgerliche Geist der deutschen Humanität auf der Grundlage der deutschen Nationalität, der deutschen Eigenart in seiner Wissenschaft, seiner Ethik und seiner Religion die anerkannte Wahrheit der Weltgeschichte werden.“1
Als Hermann Cohen diese Zeilen im Jahr 1915 schrieb, war er bereits siebenundsiebzig Jahre alt, gerade seit drei Jahren als emeritierter Professor aus den Diensten der Universität Marburg ausgeschieden und lehrte an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums.
Der Begründer der Marburger Schule des Neukantianismus hatte ursprünglich in Breslau, am Seminar Zacharias Fränkels ein rabbinisches Studium aufgenommen, sich dann aber in Berlin dem Studium der Philosophie zugewandt. Nach einer Promotion in Halle und der Habilitation in Marburg lehrte er dort rund dreißig Jahre, bis zum Jahre 1912. Hermann Cohen dürfte der einzige nichtgetaufte Jude gewesen sein, dem es gelang, während des wilhelminischen Reiches eine ordentliche Professur zu erhalten. In einer Reihe von Arbeiten zu Kant und Platon, die in den systematischen Hauptwerken Logik der reinen Erkenntnis (1902), Die Ethik des reinen Willens (1904) sowie der Ästhetik des reinen Gefühls (1912) gipfelten, begründete er das mit, was später als Neukantianismus bezeichnet wurde. Dabei orientierte sich Cohen, nicht anders als Immanuel Kant selbst, an den konstruktiven Prinzipien der Mathematik.
II.Jüdisches Bekenntnis in Reaktion auf Kulturantisemitismus
Gleichwohl ging es Cohen stets auch um Fragen der Ethik. Als einziger bekennender jüdischer Professor im Deutschen Reich mußte sich auch ein Wissenschaftstheoretiker wie er von den antisemitischen Ausfällen des bedeutenden nationalliberalen Historikers Heinrich von Treitschke getroffen fühlen, der im Jahr 1879 – mitten in der Gründerkrise des Bismarckreiches – den christlich sozialen Antisemitismus des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker mit dem schriftlich fixierten Ruf „Die Juden sind unser Unglück“ unterstützte.2
Treitschkes rassenantisemitisch unterfütterter Angriff galt allen Beteuerungen zum Trotz indessen nicht nur den aus Mittel- und Osteuropa zuwandernden Juden, sondern eben auch jenen wenigen deutschen Juden, denen es mühsam gelungen war, öffentliche Anerkennung und Reputation zu finden. „Unter den führenden Männern der Kunst und Wissenschaft“ – so hetzte Treitschke – „ist die Zahl der Juden nicht sehr groß, umso stärker die betriebsame Schaar der semitischen Talente dritten Ranges.“3
Hermann Cohen, der sich aufgrund seines einzigartigen Status und seiner fraglosen Anerkennung in der deutschsprachigen Wissenschaftlergemeinschaft jedenfalls nicht persönlich geschmäht fühlen mußte, kam Treitschke in einer persönlichen Entgegnung in einer heute unverständlichen Konzilianz entgegen: „Nicht als Sprecher einer jüdischen Partei, sondern als Vertreter der Philosophie an einer deutschen Hochschule und Bekenner des israelitischen Monotheismus“4 stellte Cohen in seinem Bekenntnis zur Judenfrage zunächst fest, daß Rassenfragen ohnehin nicht argumentativ lösbar seien und es daher nur darum gehen könne, Treitschkes Meinung, das Judentum sei lediglich die Nationalreligion eines fremden Stammes, zu widerlegen. Auf dieser Basis nämlich, so Cohen, sei „dem hartnäckigsten, zudringlichsten Verlangen nach Verständigung der Boden entzogen“.5
Indem Cohen im folgenden dennoch, seinem mutigen Bekenntnis zum Trotz, argumentativ auf Treitschke einging, kam er dem Kontrahenten weiter entgegen, als es der Sache nach geboten war. Indem Cohen als naturwissenschaftlich interessierter Philosoph die Triftigkeit der Rassentheorie nicht gänzlich in Abrede stellen wollte, blieb ihm nur noch der Ausweg, den wahren Universalismus des Judentums herauszustellen. Insofern kann Cohens Antwort auf Treitschke aus dem Jahr 1880 zugleich als Urfassung der posthum 1919 erschienenen Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums gelten. In diesem Sinne stellt Cohen den historischen israelitischen Monotheismus als eine durch die Idee der Geistigkeit Gottes und der messianischen Verheißung geprägte Religion dar, als historische Urgestalt eines menschheitlichen Projekts geschichtsphilosophischer Art. Die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren freilich in Deutschland seit etwa 1830 durch die Ablehnung jener, vor allem der hegelschen Geschichtsphilosophie gekennzeichnet.