Sand im Dekolleté

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Kapitel 4

Montag, 21. September 2020, 10:15 Uhr

Hotel Klabautermann, Insel Langeoog

„Eieiei … Wie sieht es denn hier aus?“, stellte Onno fest, als der Herr vom Hotel ihm das Zimmer mit der Nummer 17 aufsperrte.

„Hmm … entweder war die Frau Kolchowsky sehr unordentlich oder irgendwer hat hier irgendetwas gesucht?“, überlegte Lotta und drängte sich an Onno vorbei in das Zimmer, in dem es tatsächlich aussah als hätte dort ein Orkan gewütet, der alle Schränke aufgerissen und deren Inhalt über den Boden verteilt hätte.

„Also, ich würde eher auf Letzteres tippen“, meinte Onno und wandte sich dann an den Rezeptionisten.

„Wir brauchen Sie dann gerade nicht mehr, Herr Faust“, entließ er den Mann, der freundlich, aber auch besorgt nickte und sich dann eiligst entfernte.

„Eieiei … vielleicht sollten wir zuerst einmal die Kollegen von der Spurensicherung anrufen. Das sieht ja aus, als hätte hier ein Kampf stattgefunden“, überlegte Onno laut und sah dann zu, wie Lotta sich Gummihandschuhe überstreifte. Es war erstaunlich, an was die Kollegin immer alles dachte. Er hatte so etwas natürlich wieder einmal nicht einstecken. Noch nicht einmal Lederhandschuhe, wie er sie früher in seiner alten Dienststelle in Wittmund auf Streife immer am Mann trug, besaß er mehr, da er sie irgendwo verlegt, verloren oder vergessen hatte. So etwas brauchte ein Inselpolizist aber auch nicht. Normalerweise.

„Mach mal ein paar Fotos mit deinem Mobiltelefon, bevor ich etwas verändere“, forderte Lotta ihn derweil auf.

Onno seufzte. Er hatte kein gutes Gefühl dabei, hier herumzuwühlen, ohne dies vorher mit Willi und dessen Kollegen besprochen zu haben. Ihr Auftrag war es gewesen, die genaue Identität des Opfers festzustellen, da dieses keinerlei Papiere bei sich trug.

„Hallo … darf ich fragen, was Sie im Zimmer von Frau Kolchowsky machen?“, hörte Onno eine ihm unbekannte Stimme hinter sich sagen. Der Mann, zu dem sie gehörte, war groß. Sehr groß. Seinen Kopf, der den von Onno gut und gerne um 20 cm überragte, zierten dunkelblonde Locken. Im Arm vor der Brust trug er eine Akte.

„Nein, das dürfen Sie nicht!“, beschied Onno ihn. Wo käme er denn hin, wenn er jedem Hinz und Kunz bei der Ermittlung in einem Mordfall Auskunft geben würde.

„Dürfen wir erst einmal erfahren, wer Sie sind?“, mischte Lotta sich ein.

„Ähm ja natürlich … Schneider mein Name … Ulli Schneider vom Reisebüro Seezeit. Ich bin der Reiseleiter der Reisegruppe, zu der Frau Kolchowsky gehört“, stellte er sich vor und machte mit ausgestreckter Hand an Onno vorbei einen Schritt auf Lotta zu.

„Halt. Hier ist kein Zutritt“, bremste Onno den Hünen und schob ihn ziemlich rabiat zurück in den Flur.

„Ja, aber … das ist doch das Zimmer von Frau Kolchows­ky … Sie können doch nicht einfach … wie sieht das hier eigentlich aus? Wurde etwa eingebrochen?“, schien der Reiseleiter nun auch die Unordnung im Zimmer bemerkt zu haben.

„Das ermitteln wir noch, Herr Schneider“, vertröstete Onno ihn. Es wäre ihm am liebsten, wenn der Mann schnellstens wieder verschwinden würde, damit er und Lotta endlich ihrer Arbeit nachgehen könnten. Wie immer die auch aussehen mochte.

„Wo ist denn Frau Kolchowsky? Ist ihr etwas passiert? Wurde sie verletzt?“, stellte er nun Fragen, die Onnos kriminalistischen Spürsinn erwachen ließen.

„Wie kommen Sie darauf, dass Frau Kolchowsky etwas zugestoßen sein könnte?“, hakte er sofort ein. Der Reiseleiter stutzte.

„Ja hallo? Ihr Zimmer scheint zerwühlt, die Polizei ist da und sie ist gerade nicht anwesend“, erklärte der.

Onno musste zugeben, dass diese Argumente schon plausibel klangen.

„Herr Schneider, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Frau Kolchowsky Opfer eines Verbrechens wurde“, ließ Lotta nun die Bombe platzen. Reiseleiter Schneider war sichtlich entsetzt. Was allerdings auch gut geschauspielert sein konnte.

„Um Gottes willen … wie geht es ihr? Wurde sie verletzt?“, erkundigte er sich besorgt.

Onno blickte zu Lotta, die nach Worten suchte.

„Ja … nee … jetzt nicht wirklich verletzt“, stammelte die Kollegin herum. Onno wusste, dass Lotta im Überbringen schlechter Nachrichten nicht besonders gut war. Sie ging das immer viel zu zaghaft an. Bei solchen Dingen musste man als Polizist sachlich bleiben.

„Was die Kollegin sagen möchte, ist, … ist, dass Frau Kolchowsky verstorben ist“, erlöste er Lotta deshalb.

Reiseleiter Schneider starrte sie beide nun abwechselnd an. Sein Mund öffnete und schloss sich tonlos, als wolle er etwas sagen. Unweigerlich fiel Onno der Besuch in dem chinesischen Restaurant in Hamburg ein, das Tine und er mit Martin und Annemarie im letzten Jahr aufgesucht hatten. Während des durchaus opulenten Mahles hatte ihn die ganze Zeit einer der großen Zierkarpfen in dem Aquarium an der gegenüberliegenden Wand genauso angeguckt. Gerade so, als hätte das Tier den Fisch auf dem Teller, den sie gerade verspeisten, persönlich gekannt. Das war ihm so richtig auf den Magen geschlagen. Ja, er hatt sich in diesem Moment ertappt gefühlt. So als wäre er ein Mörder.

*

Obwohl er demnächst siebzig wurde, waren seine Augen noch immer wie die eines Luchses. Heribert Wolf und er standen gut und gerne einhundert Meter vom Tatort entfernt auf dem Holzbohlenweg. Dennoch hatte Hans Peter Thiel das Dirndl, das die Tote trug, sofort erkannt. Dass Erna Kolchowsky das Zeitliche gesegnet hatte, stand für ihn somit außer Frage. Die Kriminaltechniker und der Traktor mit dem Totenkarren daran sprachen eine deutliche Sprache.

„Tja, das war es dann wohl mit unserem ruhigen Urlaub auf der Insel“, stellte er jetzt erst einmal fest.

„Und du bist wirklich sicher, dass das unsere Erna ist?“, fragte Heribert, deutete mit einer Kopfbewegung zum Ort des Geschehens und hielt ihm das Päckchen mit seinem Tabak und den Zigarettenblättchen hin. Hans Peter überlegte kurz und lehnte dann dankend ab, obwohl es ihn in den letzten Tagen wieder einmal heftig nach einer Zigarette verlangte. Doch er war auch ein Mensch mit Prinzipien. Er hatte aufgehört, weil ihm seine Gesundheit wichtig war. Die letzte Kippe hätte ihn damals nämlich fast ins Grab gebracht – und das wortwörtlich. Zum Glück war er im Krankenhaus aus den Latschen gekippt, wo sofort ein Arzt zur Stelle gewesen war.

„Ja, das ist unsere Erna“, sinnierte er so in Gedanken, dass ihm das Wörtchen „unsere“ erst auffiel, als er es bereits ausgesprochen hatte.

„Um Gottes willen, wie tragisch“, fand Heribert und blies den Rauch seiner Selbstgedrehten in den Wind.

„Sag mal, Heri … wo warst du eigentlich, als wir das Lokal gegen halb eins heute Nacht verlassen haben?“, interessierte es Hans Peter.

Heribert drehte den Kopf und sah ihn einen Moment fragend an.

„Das ist aber jetzt nicht dein Ernst?“

„Doch, wieso? Ich hab’ dich nirgends gesehen, als Inge, ich und einige der anderen zurück zum Hotel gegangen sind“, erwiderte Thiel und tat, als wäre dies eine ganz belanglose Feststellung. Ja, mit dem Rauchen hatte er aufhören können. Aber Bulle … Bulle würde er bleiben, bis sie ihm eines Tages die Kiste zunagelten.

*

„Du, Annemariechen. Dat war gerade der Willi am Telefon. Du weißt doch, der von der Kripo. Der meint, ich müsste dem noch ein paar Fragen wegen der Frau Erna beantworten tun“, erklärte Martin seiner Liebsten, die davon so gar nicht begeistert zu sein schien.

„Und wann machst du die defekte Klospülung im Süder­dünenring?“, kam es auch prompt sehr vorwurfsvoll zurück.

„Wenn ich der Polizei Rede und Antwort gestanden hab. Dat is ja quasi eine Bürgerpflicht, dat man da helfen muss“, erwiderte er.

Annemarie blickte ihn über den Rand ihrer Lesebrille an.

„Dann beeil dich. Der Gast hat schon zweimal angerufen und gefragt, wann endlich jemand vorbeikommt“, gab sie klein bei.

Martin nickte, gab Lumpi einen Wink ihm zu folgen und sah dann eiligst zu, dass er davonkam. Eine Hektik war das bisher heute gewesen. Zum Glück wirkten die Tabletten, die Jan Martin ihm vorhin gegeben hatte, endlich. Seine Kopfschmerzen waren wie weggeblasen. Dafür war sein Appetit wiedergekommen.

Keine drei Minuten später stoppte er mit quietschenden Bremsen sein Rad vor dem Fischimbiss in der Barkhausen­straße, der zum Glück nicht nur Fisch im Angebot hatte. Von Kriminalhauptkommissar Willi Bogner war weit und breit noch nichts zu sehen. Nun gut, von der Stelle am Strand, wo Martin morgens die Tote entdeckt hatte, bis hierher war es zu Fuß auch ein gutes Stück zu laufen. Man vertat sich schnell bei den Entfernungen auf der Insel.

„Ich hätte dann gerne eine Currywurst mit Pommes“, bestellte er deshalb schon einmal eine seiner Leibspeisen, die direkt nach der kölschen Version von Himmel und Ääd kam. Wobei … nein … an die gebratene Kölner Blutwurst mit Speckzwiebel, Apfelmus und Püree kam so schnell gar nichts ran. Leider gab es diese Köstlichkeit aber nicht auf der Insel, weshalb er mit Currywurst vorliebnehmen oder sich selbst bekochen musste. Zumindest so lange, bis er das nächste Mal seine Heimatstadt Köln besuchen würde. Überhaupt verhielt es sich ja mit traditionellen Gerichten so, dass die am besten da schmeckten, wo sie auch heimisch waren. Schweins­haxe aß man am besten in Bayern und bestimmt nicht auf Malle, dafür schmeckte die Paella am besten in Spanien. Und eine Pizza, wie die damals im italienischen Paestum, die gab es auch nirgends anders. Currywurst mit Pommes hingegen konnte man überall essen. Genau wie die Burger im Restaurant zum goldenen M. Die schmeckten auch überall gleich nach Pappe.

Gerade als Martin die erste goldgelbe Pommes frites mit der Gabel aufspießte, entdeckte er Willi Bogner, der zielstrebig auf ihn zusteuerte.

 

„Moin, Willi“, grüßte er den Kriminalen und biss dann genüsslich in die Pommes.

Moin moin, Maddin“, grüßte der Polizist zurück und verzog dann, nach einem Blick auf Martins Teller, angewidert das Gesicht.

„Och nein … Maddin … wer so etwas zum Frühstück isst, der frisst auch kleine Kinder.“

Martin ließ die Gabel sinken und blickte dann auf seine Armbanduhr.

„Wieso, dat is doch schon Mittach. Wat kann ich dafür, dat ihr bei der Polizei so lange schlafen tut?“, gab er kontra, obwohl es tatsächlich bis Mittag noch gut und gerne etwas über eine Stunde war.

Willi erwiderte nichts, sondern orderte derweil ein Matjesbrötchen mit extra viel Matjes und Zwiebeln.

„Und, Maddin, wie geht’s dir denn? Onno und Lotta meinten, dich hätte es heute Morgen ziemlich aus den Schuhen gehauen“, erkundigte er sich nach seinem Wohlbefinden.

Martin winkte ab.

„Nä, Willi. Is alles wieder tuti pallettus … ich hatte ja auch gar keine Schuh an … ich wollte ja baden gehen tun“, erklärte er den Sachverhalt, legte dann die Gabel ab, öffnete die beiden Schnallen seiner Latzhose und zog sein T-Shirt am Halsausschnitt so weit runter, dass die beiden roten Flecken zutage kamen.

„Schon gut, Martin, ich glaub es dir auch so“, flüsterte Willi, verzog das Gesicht, sah sich suchend um und machte eine Geste mit der Hand, die wohl bedeuten sollte, dass Martin sich wieder anziehen sollte.

„Also wenn du mich fragen tust, hatte die Olle nit mehr alle Latten am Zaun“, stellte Martin noch einmal klar und rückte seine Kleidung wieder zurecht.

„Sie behauptet, du hättest der Toten an die Brüste gegriffen“, sagte Willi und legte den Kopf schief.

Martin merkte, wie seine Kinnlade nach unten klappte und sein Hals zu schwellen begann.

„Die sagt wat? Die spinnt ja wohl … die … die“, fehlten ihm jetzt tatsächlich die Worte. Aber anstatt sich weiter aufzuregen, wie er es früher in so einem Fall getan hatte, schloss er einfach die Augen, faltete die Hände, atmete tief ein und ließ ein langes Ommmmmmmm … erklingen. Sofort merkte er, wie sein Puls sich zu beruhigen begann. Als er nach einigen Sekunden die Augen wieder aufschlug, starrte Willi ihn an, als habe er sie nicht mehr alle.

„Dat hab’ ich von meinem Mariechen gelernt, die macht neuerdings mit ihrem Mann, dem Herrn Doktor Heitschi … oder wie man dat nennen tut. Solltest du auch mal probieren tun, Willi“, gab er dem Kriminalen einen guten Tipp und widmete sich dann dem ersten Stück Currywurst.

„Ahh ja … werde ich mir merken. Aber jetzt noch mal zu der Frau, die dich heute Morgen am Strand mit dem Elektrosch …“, weiter kam Willi nicht, da Martin wütend mit der Faust auf den Tisch hieb.

„Willi, willst du unbedingt, dat ich mich wieder aufregen tu und mir der Appetit vergeht? Mir tun doch grad so schön essen“, schimpfte Martin so laut, dass Lumpi unter dem Tisch ebenfalls ein lautes und sehr zorniges Knurren zum Besten gab. Martin nahm eine Pommes und gab sie dem Hund zur Beruhigung. So etwas tat er allerdings auch nur, wenn Annemarie nicht dabei war. Die regte sich nämlich immer total auf, wenn er dem Hund etwas vom Tisch gab.

Martin hatte keine Lust, über den Vorfall am Morgen zu reden. Zumindest nicht mit Willi und schon gar nicht, solange wie er noch am Überlegen war, was er dem Kriminalbeamten überhaupt sagen konnte, ohne einen Verdacht auf sich selbst zu legen. Ja, er hatte der toten Erna ins Dekolleté gefasst. Aber dies war ja nicht aus niederen sexuellen Beweggründen geschehen, sondern weil er wissen wollte, ob das Los noch da war, wo sie es in der Nacht vor aller Augen hatte verschwinden lassen. Wenn er dies allerdings Willi gegenüber zugäbe, könnte der gewiefte Polizist aber auch schnell ganz falsche Schlüsse ziehen. Nachher würde der noch behaupten, Martin hätte Erna erwürgt, um an das Los zu kommen. Nein, nein. Das Beste würde sein, er hielt sich an seine erste Geschichte. Er hatte fühlen wollen, ob das Herz der Frau noch schlug, um diese dann zu reanimieren. Wozu es ja nicht mehr kam, da just in dem Moment die bekloppte rosa Tante mit ihrem Elektroschocker dazwischenging. Zum Glück war Willis Fischbrötchen nun auch fertig und der erst einmal anderweitig beschäftigt. Einen Freund wie Willi anzuflunkern, fiel Martin nämlich auch nicht eben leicht.

*

Hans Peter Thiel hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und ging gemütlich und mutterseelenalleine über den Holzbohlenweg am Strand entlang, der sich langsam mit Urlaubern füllte. Das Meer brandete heftig an den Strand und obwohl die Sonne von einem unbewölkten Himmel brannte, war ihm in seinem Sakko und den langen Hosen nicht zu warm. Vermutlich dank des Windes, der kräftig von See her wehte. Ob er es wollte oder nicht, seine Gedanken kreisten um Erna Kolchowsky, die vorhin von einigen Männern in einer Zinkkiste in den Bestattungsanhänger gewuchtet wurde. Was war da heute Nacht passiert? Er und Inge hatten das Lokal gegen halb eins gemeinsam mit einem guten Dutzend Rumkugeln und den befreundeten Insulanern verlassen. Ungefähr die Hälfte der Truppe war noch geblieben. Darunter Erna Kolchowsky und sein alter Schulfreund Heribert Wolf. Heri war eben, als Thiel ihn darauf ansprach, förmlich explodiert. Reagiert so etwa jemand, der nichts zu verbergen hatte? Andererseits war Heribert aber auch nicht der Typ, der aus Habgier eine Frau erwürgte. Wobei … war es denn überhaupt ein Mord aus Habgier? Wie kam Hans Peter eigentlich darauf? Natürlich … er nahm es an. Wegen des Loses, das Erna um kurz nach Mitternacht freigerubbelt hatte. Dies musste aber auch nicht sein. Überhaupt stand ja noch gar nicht fest, ob Erna tatsächlich ermordet worden war. Auch dies war nur eine Vermutung von ihm. In Wahrheit könnte die Gute auch einfach betrunken ins Meer gefallen, ertrunken oder an einem Herzleiden gestorben sein. Das Aufgebot der Kriminalpolizei war sehr überschaubar gewesen. Wenn er sich nicht verzählt hatte, fünf Leute in Zivil mit weißen Schutzanzügen darüber. Als Heribert und er vorhin das Hotel verließen, waren ihnen auch noch zwei Uniformierte begegnet. Ein Mann und eine Frau. Die junge Frau hatte Hans Peter erkannt. Es war die Freundin seiner Stieftochter Nina Moretti gewesen. Die, die im Frühjahr mit ihrer Familie in Betzdorf zu Besuch gewesen war. Lotte oder Lotta hat sie geheißen. Das Mädchen war so schnell mit ihrem blauen Elektrorad an Hans Peter vorbeigeschossen, dass die ihn bestimmt nicht erkannt hatte. Hans Peter kam an eine Weggabelung, überlegte kurz und bog dann nach rechts in Richtung des großen Wasserturms ab, der hoch aus dem Dünenmeer herauslugte. Den konnte man auch vom Hotel aus sehen, weshalb die Richtung dorthin wohl grob stimmen müsste. Er schüttelte den Kopf, so als wolle er die lästigen Gedanken abschütteln. Er musste den Fall Erna Kolchowsky vergessen. Es ging ihn schlichtweg nichts an, ob die jetzt tot umgefallen oder ermordet worden war. Hans Peter hatte die Frau weder näher gekannt noch gemocht. Nein, hier waren die norddeutschen Kollegen zuständig. Schlimm genug, dass Heribert nun sauer auf ihn war. Wobei der sich auch wieder beruhigen würde.

*

„Komischer Typ … so hilfsbereit … hm … sehr, sehr verdächtig“, knötterte Onno, als die Tür des Seminarraums hinter Reiseleiter Ulli Schneider ins Schloss fiel und Lotta und der Kollege wieder unter sich waren.

Lotta ließ die Teilnehmerliste der Kegelclubgesellschaft sinken und blickte Onno irritiert an.

Was, zum Kuckuck, ist dir denn an dem Mann verdächtig?“, verstand sie jetzt mal ganz und gar nicht.

Onno wackelte mit dem Kopf hin und her.

„Der ist mir einen Tick zu freundlich.“

„Das ist doch Käse, Onno. Ich fand den einfach nur nett und hilfsbereit. Da ist doch nichts Verdächtiges dran“, erwiderte Lotta.

„Genau das ist es ja, was ich meine. Was, wenn der uns nicht helfen, sondern uns lediglich auf eine falsche Spur bringen möchte?“

Lotta antwortete ihm nicht. Onnos Thesen und Schlussfolgerungen waren manchmal derart abstrus, dass es ihr einfach zu dumm war, darauf zu antworten. Stattdessen widmete sie sich der Liste mit den Teilnehmern der Kegelclubtour. Insgesamt handelte es sich um zweiundzwanzig Namen inklusive dem des Reiseleiters. Einer war der von der verstorbenen Erna Kolchowsky. Laut Reiseleiter Ulli Schneider waren Erna und gut die Hälfte der anderen gestern Abend noch zum Feiern in der „Düne 13“ gewesen. Die Namen derer, von denen er annahm, dass sie dabei waren, hatte er mit einem gelben Textmarker markiert.

„Schau mal, Hans Peter Thiel und Inge Moretti waren angeblich gestern am Abend auch mit in der ‚Düne 13‘“, sagte sie, deutete auf das kleine grüne Kreuz und hielt es Onno vor die Nase.

„Dann sollten wir unsere Befragung mit den beiden beginnen. Du kennst sie doch, oder?“, erwiderte er.

„Ja, was heißt kennen. Mehr die Inge … die war ja mit uns in Köln auf dem Karneval. Er ist zu Hause geblieben und hat auf die Kinder geschaut. Scheint eine ziemliche Spaßbremse zu sein“, antwortete Lotta. In Wahrheit hatte sie mit diesem Herrn Thiel bei ihrem Besuch im Westerwald nicht ein einziges Wort gesprochen. Dass der nicht so auf Feiern und Karneval stand, wusste sie lediglich von den Aussagen der anderen. Inge Moretti, die Mutter ihrer Freundin Nina, hingegen war eine sehr spaßige und auch kommunikative Person. Aber es hieß ja auch immer, dass Gegensätze sich anzogen. Was auch logisch war. Gar nicht auszudenken, wenn bei einem Paar beide quasselten wie ein Wasserfall. Bei ihnen war auch eher Krischan der ruhigere Part. Wobei Lotta sich jetzt auch nicht als eine Quasselstrippe sah.

„Laut der Liste bewohnen die beiden das Zimmer vierundzwanzig. Am besten, wir schauen gleich mal, ob sie da sind“, beschloss sie und machte sich ohne Onnos Antwort abzuwarten auf den Weg.

Im Flur bog sie so hastig um die Ecke, dass sie beinahe mit einem älteren Herrn zusammengestoßen wäre.

„Upps, sorry“, entschuldigte sie sich bei dem beleibten Graubärtigen und wollte schon weiterhasten, als ihr noch etwas einfiel.

„Hallo Sie …“, rief sie ihm hinterher. Der Graubärtige drehte sich zu ihr um und blickte sie fragend an.

„Sind Sie ein Gast?“, fragte sie und taxierte ihn blitzschnell von Kopf bis Fuß. Er trug eine Wollmütze mit der Aufschrift „Moin Moin“, wie man sie hier überall in den Souvenirläden kaufen konnte, dazu Jeans, Turnschuhe und ein T-Shirt mit Zebrakopf und der Aufschrift MSV Duisburg, das vor dem Bauch etwas spannte.

„Ja“, antwortete er.

Der gehörte bestimmt nicht zu dem Kegelclub, ging es Lotta durch den Kopf. Die kamen ja alle aus dem Westerwald. Warum sollte von denen einer das Shirt eines Fußballvereins aus dem Ruhrgebiet tragen?

„Dann bräuchte ich bitte Ihren Namen und die Zimmernummer“, forderte sie ihn jetzt erst einmal auf.

Der Graubärtige blickte sie verwundert an und zog dann einen Zimmerschlüssel hervor und schaute auf den Anhänger daran. Hinter dem Herrn tauchte nun endlich auch Onno auf.

„Heribert Wolf. Zimmer achtzehn“, antwortete der Gast nun und Lotta überflog schnell die Liste in ihren Händen. Sie wurde fündig.

„Dann gehören Sie auch zu diesem Westerwälder Kegelclub“, antwortete sie.

Heribert Wolf verzog genervt das Gesicht.

„Ja … leider“, erwiderte der.

Bevor sie nachfragen konnte, was es mit dem „leider“ auf sich hatte, mischte Onno sich in die Befragung ein.

„Achtzehn. Dann bewohnen Sie also das Zimmer direkt neben Frau Kolchowsky?“

Heribert Wolf nickte und schluckte. Ob der etwa schon wusste, dass diese Erna tot war?

„Ja … ich glaube, die wohnte nebenan. Schlimme Sache. Wirklich schlimm.“

„Was meinen Sie mit schlimme Sache?“, kam Onno ihr wieder zuvor.

„Na, weil … ja … ich komme gerade vom Strand. Und da haben wir sie ja gesehen … das Dirndl ist ja unverkennbar“, stammelte Wolf.

Lotta bemerkte, wie Onno die Augen zusammenkniff. Sie kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut. Der Kollege hatte die Fährte aufgenommen. Auch ihm war dieser Wolf nicht geheuer. Der Mann wusste mehr, als er wissen dürfte und verheimlichte vermutlich irgendetwas vor ihnen.

„Reisen Sie alleine oder in Begleitung?“, erkundigte Lotta sich, obwohl sie natürlich aus der Liste des Reiseleiters bereits wusste, dass Herr Heribert Wolf ein Einzelzimmer bewohnte.

„Alleine … weshalb?“, antwortete Wolf brav, schien aber den Braten auch bereits zu riechen. Seine Stimme hatte etwas Vorsichtiges, Lauerndes. Der merkte genau, dass sie ihn gerade quasi in die Mangel nahmen und passte dementsprechend auf, was er sagte. Außerdem hatte er gerade bereits gestanden, am Strand gewesen zu sein. Das war typisch. Ein Täter kehrte angeblich immer noch einmal an den Ort seiner Tat zurück. Zumindest hieß es doch schon immer so. Warum dem so war, wusste Lotta nicht, aber wenn es immer alle behaupteten, musste ja etwas dran sein.

 

„Wo waren Sie denn heute Nacht zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens?“, stellte Onno eine der entscheidenden Fragen.

Wolf blickte sie abwechselnd und ziemlich feindselig an.

„Sagt mal … spinnt ihr jetzt alle. Wo soll ich denn bitte schön gewesen sein? Ich hab’ geschlafen, nachdem wir aus diesem Lokal zurückgekommen sind“, schimpfte er.

„Wann genau haben Sie welches Lokal verlassen und mit wem“, hakte Onno nach.

Wolf schnaufte.

„Genau weiß ich es nicht mehr. Das Lokal hieß … irgendwas mit einer Düne …“ „Düne 13“, half Lotta ihm und erntete einen bösen Blick von Onno. Was der schon wieder hatte? Da war doch nichts dabei. Sie legte dem potenziellen Täter mit solch einer Hilfestellung keine Worte in den Mund.

„Ja, ich glaube so hieß das. Düne 13“, bestätigte Wolf und fuhr dann fort.

„Um Mitternacht haben wir die Erna ja noch hochleben lassen – die wird ja heute sechzig. Irgendwann hab’ ich gezahlt, mir eine Zigarette gedreht, bin mit einigen der anderen raus aus dem Lokal und alleine noch ein paar Meter in Richtung Strand gegangen“, berichtete er.

„Sie waren also nach Mitternacht noch am Strand?“, nahm Onno die Steilvorlage auf.

„Nein, war ich nicht“, erwiderte Wolf patzig.

„Aber Sie sagten doch gerade …“, mischte Lotta sich ein.

„Ich sagte, ich bin in Richtung Strand gegangen. Keine fünfzig Meter vom Lokal hab’ ich oben auf der Düne gestanden und eine geraucht. In den Kneipen darf man ja heutzutage nicht mehr“, stellte Wolf klar. Lotta konnte sich die Szenerie gut vorstellen. Sie kannte die „Düne 13“, von dort waren es tatsächlich nur wenige Meter bis zu der Stelle, wo der Holzbohlenpfad begann, der hinunter zum Strand führte. Sie konnte sich vorstellen, wie Wolf dort gestanden hatte, auf das Meer geblickt und geraucht hatte.

„Sie haben also oben auf der Düne geraucht. Was ist dann passiert?“, forschte Onno in strengem Ton weiter.

„Ich hab’ die Zigarette am Pfahl eines Schildes ausgedrückt, die Kippe ordnungsgemäß entsorgt und bin dann zum Hotel gegangen“, behauptete Wolf.

„War jemand bei Ihnen oder waren Sie allein“, ließ Onno nicht locker.

„Ich war alleine und das war auch gut so“, reagierte Heribert Wolf nun wieder etwas ruppiger.

„Warum war das gut so?“, musste Lotta nun wissen.

Heribert Wolf lächelte gequält.

„Weil es irgendwann auch mal gut ist. Diese Rumkugeln kann man auf Dauer nämlich nur sehr schwer ertragen“, gestand er. Lotta nickte. Heriberts Aussage von vorhin fiel ihr wieder ein. Er hatte „leider“ gesagt, als sie ihn fragte, ob er zu dem Kegelclub gehöre.