Loe raamatut: «Seelenkerne», lehekülg 4

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„Das wird auch nicht besser, wenn wir da reingehen!“, meinte ich trocken.

„Nein“, sagte Tommy und zog die Machete wieder zurück. „Aber ich kann dich verstehen, Janine. Die Stelle hier ist wirklich unheimlich. Aber man verliert ein wenig von der Angst, wenn man etwas unternimmt. Also lasst uns etwas tun.“

Er blickte sich um und musterte den Rand des Urwalds eingehend. „Ich will nicht einfach an irgendeiner Stelle reingehen. Es muss einen Hinweis geben, wo wir lang müssen.“

„Dann sehen wir uns um“, entschied ich, froh, noch eine kurze Galgenfrist zu haben, bevor ich diese Lichtung verlassen musste. Hier fühlte ich mich einigermaßen sicher. Aber wenn ich an die Augen dachte, die uns vielleicht beobachteten und dass die dazugehörigen Besitzer vielleicht im Dickicht auf uns warteten, wurde mir ganz anders. „Komm Sanne, wir gehen links rum und ihr beide rechts, okay?“

Janine und Tommy blickten sich an und lachten. „Okay, Chef!“, grinste Janine. „Wir gehen rechts lang, aber dann gehst du nachher vor in den Dschungel!“

Ich sagte lieber nichts mehr, aber die beiden hatten sich schon abgewandt und begannen, am Saum des Urwalds entlangzuschlendern.

„Worauf sollen wir achten?“, rief Sanne ihnen hinterher.

„Keine Ahnung!“, gab Tommy zurück. „Wenn ihr irgendeine Stelle findet, wo man durch kann, dann ruft einfach!“

Ich beobachtete aus den Augenwinkeln heraus, wie Tommy die Machete aus dem Futteral zog und sich bereit machte, sie vielleicht auch einzusetzen. Ich hätte einiges dafür gegeben, wenn ich auch so eine Waffe gehabt hätte. Aber die hatte ich nun einmal nicht. Also blieb ich dicht an Sannes Seite, als wir uns aufmachten, den Dschungelrand abzugehen.

Schon nach wenigen Metern machte sich Resignation in mir breit. Es sah alles gleich aus. Grünes, undurchdringliches, verfilztes Dickicht. Sanne schob hier und da ein Blatt oder einen Ast beiseite und lugte durch die entstehenden Lücken. Aber jedes Mal schüttelte sie enttäuscht den Kopf.

„Da kommen wir niemals durch“, murmelte sie. „Nicht einmal mit Macheten.“

Ich überholte sie, um selbst nachzuforschen. Aber es war zum Verzweifeln. Alles war so zugewuchert, dass man nicht einmal einen Meter weit hineinsehen konnte. Gerade wollte ich mich zu Tommy und Janine umdrehen, um zu sehen, wie es ihnen erging, als ich meinte, eine etwas lichtere Stelle voraus entdeckt zu haben. Sanne war ein wenig zurückgeblieben, also sagte ich nichts, sondern eilte vor, um mir das anzusehen.

Ich triumphierte. Hier gab es tatsächlich eine Stelle, an der der Urwald nicht alles beherrschte. Neugierig ging ich dicht heran, streckte die Hände vor und schob das Dickicht beiseite.

Ein Pfad!“, brüllte ich. Ich hatte einen Pfad entdeckt! Die anderen stürzten herbei und riefen aufgeregt durcheinander. Aber in dem Moment, als Tommy neben mich treten wollte, setzte sich ein gigantisches Insekt auf meinen rechten Handrücken. Vor Schreck ließ ich die Zweige los und schrie wie am Spieß. Das Vieh besaß einen Kopf wie ein außerirdisches Monster und eklige zitternde Fühler. Ich wedelte wie wild mit meiner Hand, um es abzuschütteln. Daraufhin machte es einen blitzschnellen Satz und sprang Sanne ins Gesicht! Nun kreischte meine Schwester wie verrückt, doch zum Glück schnellte das Monster wie von einer unsichtbaren Feder aufgezogen aufs Neue los, und diesmal landete es auf einem Farnblatt. Die Hunde sprangen auf das Tier zu, um es zu untersuchen.

Aus!“, rief Tommy, aber Jever und Lazy hatten selbst Respekt und blieben in gebührendem Abstand stehen. Ich bekam kein Wort heraus. Sanne hatte sich hinter mir verkrochen. „Igitt!, rief sie immer wieder. „Igitt! Igitt! War das eklig! Tommy, mach es weg!“

„Nein“, sagte Tommy ruhig. Er ging langsam hinüber zu dem Untier und bückte sich, um es sich genauer anzusehen. „Warum soll ich es wegmachen? Es ist doch nur eine Heuschrecke!“

Eine Heuschrecke?“, entfuhr es mir.

„Ja, eine Heuschrecke.“ Tommy winkte. „Kommt her und seht sie euch an. Sie ist zwar gigantisch, aber es ist nur eine Heuschrecke. Und Heuschrecken sind Pflanzenfresser“, meinte er augenzwinkernd zu Sanne. „Die frisst dich schon nicht.“

Zögernd traten wir näher heran, aber ein bisschen Abstand hielten wir doch, denn das Vieh konnte ja springen. Und zwar weit. Sanne stand der Ekel noch ins Gesicht geschrieben, aber sie sah sich das Tier trotzdem an.

„Mann, ist die groß!“, entfuhr es ihr. Das war sie tatsächlich. Sie war größer als meine Hand, besaß einen graugrünen Körper und komisch geknickte Beine. Aber die haben ja alle Heuschrecken. Ich schluckte. Das war wirklich nur eine Heuschrecke. Aber wenn die Heuschrecken schon so groß waren, wie groß waren dann die anderen Tiere, die hier lebten? Plötzlich machte sie wieder einen Satz, dann noch zwei, und schon war sie im Blattwerk des Urwalds verschwunden.

„Scheint, sie hat mehr Angst vor uns als wir vor ihr“, meinte Tommy.

„Das ist mir egal“, grummelte Sanne und fuhr sich angewidert übers Gesicht. „Ihre Beine waren auf meinem Mund, bähh, war das eklig!“

„Egal“, sagte Tommy ungerührt. „Jetzt ist sie ja weg. Und Heuschrecken tun uns nichts. Los, Joe, zeig uns, was du entdeckt hast!“

Nach kurzem Suchen fand ich die Stelle wieder und wir postierten uns davor. Ich suchte die Blätter gründlich nach irgendwelchem Viehzeug ab, bevor ich sie wieder anfasste und auseinander zog.

Der Pfad war noch da. Es war nicht gerade ein klassischer Pfad, aber es war deutlich zu erkennen, dass sich so etwas wie ein Weg durch den Dschungel schlängelte.

Ich blickte die anderen stolz an. „Na, was sagt ihr?“

„Nicht schlecht, Joe“, sagte Janine anerkennend. „Und jetzt zeigst du uns, wie es weitergeht!“

Ich schluckte. So hatte ich das nicht gemeint. „Äähhh …“

„Wir gehen alle“, kam mir Tommy zu Hilfe. „Aber das muss der Weg sein, den wir suchen. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass es noch einen anderen gibt. Ich kann ja vorgehen, Joe. Dann die Mädchen, und du am Schluss.“

Warum auch immer, aber der Gedanke daran, der Letzte zu sein, gefiel mir noch weniger als der, vorne gehen zu müssen. Irgendwie hatte ich die Vision, hinten könnte mich ein Tier wegschnappen ohne dass die anderen es bemerkt hätten. Wenn ich vorne ging, würden sie es wenigstens mitbekommen…

„Nein, lass man“, sagte ich mutiger als ich war. „Ich geh schon vor. Aber gibst du mir die Machete?“

„Klar! Dann geh ich eben hinten. Aber halt Lazy bei dir. Ich werd auf Jever aufpassen, damit er nicht vorläuft.“

Tommy reichte mir die Machete, und wir sahen uns für eine Sekunde in die Augen. Sanne drückte meinen Arm, und Janine schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. Dann waren wir soweit. Mit einem mulmigen Gefühl drücke ich mich durch die Lücke im Buschwerk und betrat den schmalen Pfad. Ich ging ein paar Schritte hinein und wartete, bis alle hinter mich getreten waren. Als sich die Lücke hinter Tommy wieder geschlossen hatte, wuchs das beklemmende Gefühl in mir ins Unermessliche. Ich fühlte mich gefangen. Hier komme ich nie wieder raus, dachte ich.

„Sanne“, rief Tommy von hinten. „Du nimmst dir die rechte Seite vor! Pass auf, ob du was entdeckst! Janine, du die linke! Joe voraus und ich hinten, okay? Alles klar?“

Wir nickten stumm. Alles klar. Toll. Sonnenklar. Ich brauchte nur gucken, bis mir ein Tiger entgegenkam und mich fressen würde. Aber Tommy hatte Aufgaben erteilt und damit unsere Gedanken abgelenkt. Ich seufzte und schaute voraus. Irgendwo im Dschungel grunzte etwas, und mir lief ein Schauer den Rücken hinunter. Ich dachte daran, was Tommy vorhin gesagt hatte: Wenn wir selbst genug Krach machten, rissen die Tiere aus…

„Okay!“, rief ich laut. „Ich geh jetzt los! Aber bleibt ja nicht stehen!“

Ich richtete die Augen auf das sichtbare Ende des Pfades und ging langsam los. Lazy blieb so dicht bei mir, dass ich aufpassen musste, nicht über ihn zu stolpern. Auch mein Hund hatte Angst. Selbst Jever blieb von allein bei Tommy, was ihm sonst sichtlich schwer fiel.

Ich versuchte, die Augen überall zu haben. Die Geräusche um mich herum waren unglaublich. Ich verspürte den unbändigen Wunsch, auf der Stelle umzukehren, auf die Lichtung zurück zu rennen und zu versuchen, die Hecke wiederzufinden. Aber ich wusste, so kamen wir nicht nach Hause. Warum nur hatten wir uns diesmal auf dieses Abenteuer eingelassen? Was war denn dabei, wenn Leon nicht lernen konnte? Das ging doch vielen so. Ärgerlich über mich selbst schüttelte ich den Gedanken ab. Das war nicht gerecht. Ich dachte nur an mich selbst. Außerdem spielte es sowieso keine Rolle mehr. Ich war in diesem Dschungel, und ich musste vorangehen.

Abwechselnd den Boden und das Dickicht fixierend ging ich weiter. Der Pfad war gerade so breit, dass ein Mensch ihn begehen konnte. Ein Mensch oder ein großes Tier! durchfuhr es mich. Ich hatte das Gefühl, meine Ohren wurden größer, so sehr strengte ich mich an, die Laute zu deuten, die von überallher kamen. Gott sei Dank hörte ich auch meine Freunde hinter mir.

Minute für Minute verging. Nichts Gefährliches geschah, und so langsam entspannte ich mich etwas. Als ich einmal nach oben blickte, sah ich einen bunt schillernden Vogel von einer Seite zur anderen flattern. Ab und zu bewegte sich etwas im Busch, aber nicht ein einziges Mal konnte ich die Ursache der Bewegung ausmachen. Dann lag plötzlich etwas Dunkles mitten auf dem Weg. Ich stoppte und hob die Hand.

„Was ist?“, kam es von hinten.

„Da liegt ein Haufen auf dem Pfad!“, sagte ich und bückte mich, um mir das näher anzusehen. Es war tatsächlich ein Haufen. Und was für einer! Ich tat so, als würde ich einen Finger hineinstecken und drehte mich dann zu meinen Freunden um.

„Das ist Tapirkacke“, dozierte ich. „Von einem männlichen Tier. Vielleicht eine Stunde alt.“

Waaas?“, kam es von Janine. „Woher weißt du das denn?“

Ich stand auf und lachte. „Das hab ich mir ausgedacht! Aber Kacke ist es wirklich! Passt auf, dass ihr nicht rein tretet!“

Tommy kam zu mir und tippte vorsichtig mit dem Fuß dagegen. „Ist schon hart. Wer auch immer hier auf dem Klo war, ist schon lange wieder weg.“

„Schöner Trost“, murmelte Sanne. „Und wenn er schon wieder muss?“

„Dann wird er woanders aufs Klo gehen“, meinte Tommy trocken. „Lasst uns weitergehen. Sieht aus, als würde der Pfad dort hinten breiter.“

Ich schaute voraus. Tommy hatte Recht, es schien, als würde sich der Weg verbreitern. Mit allen Sinnen angespannt setzte ich mich wieder in Bewegung. Zwei Minuten später bekamen wir Gewissheit. Der Pfad wurde nicht nur breiter, sondern mündete nach einer weiteren Biegung in eine große Lichtung. Was wir dort erblickten, ließ uns wie angewurzelt stehen bleiben. Am gegenüberliegenden Ende der Lichtung stand ein Tempel! Ich konnte zumindest einen Teil einer sandsteinfarbenen Mauer sehen, der Rest verschwand unter dem Gewirr unzähliger Lianen und Wurzeln, die sich von riesigen Bäumen herab wanden und das Bauwerk, das sich dahinter verbergen musste, komplett versteckten. Aber dass es ein großes Bauwerk sein musste, war ganz deutlich zu sehen.

„Eine Ruine“, flüsterte Sanne, die dicht neben mich getreten war.

„Ich weiß nicht“, sagte Tommy leise. „Für eine Ruine sieht die Mauer noch aus wie neu. Und mehr können wir ja nicht sehen. Kommt, lasst uns nachsehen! Aber achtet auch auf die Umgebung!“

Nervös betrat ich die Lichtung. Lazy blieb dicht bei mir. Ich spürte sein Fell an meiner Wade. Jever hopste ein paar Meter voraus, und diesmal rief Tommy ihn nicht zurück, obwohl er zwischen den großen, die Lichtung bedeckenden Pflanzen kaum noch zu sehen war. Die lichte Stelle im Dschungel durchmaß etwa dreißig Meter. Merkwürdige kniehohe Pflanzen mit riesigen gelben Blüten wuchsen wild durcheinander, dazwischen Farne mit weit ausladenden Wedeln. Wir wateten regelrecht hindurch. Als ich etwa die Hälfte der Distanz hinter mir hatte, sprang dicht vor mir ein Tier auf und raste davon. Ich bekam einen Heidenschreck, aber mehr als einen behaarten Rücken und ein dunkles Hinterteil konnte ich nicht erkennen.

„Was war das denn?“, rief Sanne.

„Keine Ahnung“, gab ich so cool wie möglich zurück, obwohl ich mir fast in die Hose gemacht hätte. „Sah aus wie ein Riesenhase.“

„Macht mehr Krach!“, entschied Tommy. „Dann flüchten sie.“

Den Rest des Weges klatschten wir in die Hände und riefen durcheinander, aber es schien das einzige Tier auf dieser Lichtung gewesen zu sein.

Dann standen wir vor der Mauer und starrten empor.

„Kein Eingang“, stellte Janine fest. „Und die Wurzeln haben die Mauer eingeschnürt. Da kommen wir nie gegen an. Nicht mal mit deiner Machete.“

„Stimmt“, antwortete Tommy. „Das brauche ich gar nicht erst zu versuchen. Aber mein Gefühl sagt mir, dass wir hier richtig sind. Wenn nicht, fress ich den Riesenhasen!“

„Guten Appetit!“, meinte Sanne trocken. „Aber wie soll uns so eine Mauer weiterhelfen? Hier gibt es ja nicht einmal Schriftzeichen.“

„Gehen wir sie ab“, entschied mein Freund. „Vielleicht finden wir ja auch am Rand noch einen Durchschlupf. Achtet auf alles! Joe, gibst du mir meine Machete wieder?“

Ich reichte meinem Freund das Buschmesser und wir begannen, den Tempel zu untersuchen. Wie sich herausstellte, war es kein gigantisches Bauwerk. Die Seitenlänge betrug vielleicht zwanzig Schritte. Außer hauchdünnen Fugen, an denen man sehen konnte, wo die großen Steinblöcke aufeinander geschichtet waren, konnte ich nichts erkennen. Tommy schob die eine oder andere Liane mit der Machete beiseite, aber das Ergebnis blieb das gleiche. Nichts. Am Ende angelangt, standen wir ratlos da. Tommy stocherte zwischen den Farnen herum, die neben der Tempelmauer noch dichter wuchsen.

„Jetzt fällt mir auch nichts mehr ein“, sagte er hilflos. „Habt ihr noch eine Idee?“

Sanne ließ die Schultern hängen. „Nein. Wenn Joe wenigstens seine Holografie hätte. Dann könnten wir einfach so durch die Mauer gehen.“

„Einfach so geht nicht“, meinte Tommy nachsichtig. „Eine besondere Aufgabe hat immer auf uns gewartet. Es muss etwas… hey, was ist das denn?“

Mitten im Wort hielt er überrascht inne und begann, die Farne mit der Machete zu bearbeiten. Stängel für Stängel hieb er ab, dann stieß er einen Freudenschrei aus.

Ich hab’s gewusst! Schaut euch das an!“

Tommy hatte tatsächlich etwas freigelegt, das mit Sicherheit von Menschenhand geschaffen worden war. Eine Steinplatte! Ein wie ein Kreuz geformter Stein, der aus einer langen Grundplatte und einem kürzeren, oben quer eingefügten Stein bestand. Ich konnte ein Muster erkennen, und kleine Figuren standen am unteren Ende der Platte aufgereiht.

Janine drängelte sich an mir vorbei. „Was ist das?“

„Wartet einen Moment“, hielt Tommy uns zurück. „Ich mach uns noch ein bisschen Platz. Geht mal ein Stück zurück.“

Er wartete, bis wir uns in sichere Entfernung zurückgezogen hatten und schlug dann mit dem Buschmesser die Farne rund um die Platte ab. Als er damit fertig war, schob er die Blätter mit dem Fuß beiseite, so dass wir genügend Platz hatten, uns diesen merkwürdigen Stein genauer anzusehen. Die Platte war in den Boden eingelassen. Wie ein liegender Grabstein! durchfuhr es mich. Sie war schneeweiß und vollkommen sauber, was mich verblüffte.

„Wie aus dem Laden“, bestätigte Tommy meine Gedanken. „Sieht aus, als wäre er gerade gestern hier hingelegt worden. Nicht ein Staubkörnchen oder Spinnenweben.“

„Aber er war zugewuchert“, murmelte Janine.

„Stimmt“, nickte Tommy. „Das heißt, dass lange schon niemand mehr mit dem Ding gespielt hat.“

„Gespielt?“, fragte Sanne verblüfft.

„Na, sieht doch aus wie ein Spiel, findest du nicht? Das Muster der Linien, die aufgemalten Kästchen hier und die vier Figuren … es kann eigentlich nur ein Spiel sein.“

„Und wir sollen es spielen?“, fragte ich atemlos.

Tommy drehte sich um und blickte über die Lichtung. „Siehst du hier noch jemanden? Du kannst ja den Hasen fragen! Aber ich wette mit dir. Das Spiel hier ist für uns bestimmt.“

„Ich wette nicht“, grummelte ich. Dann fiel mir siedendheiß etwas ein.

„Tommy… wir hatten schon einmal ein Rätsel mit einer Platte, weißt du noch?“

Tommy nickte. „Wie sollte ich das vergessen?“

„Ja, aber damals im Keller sind wir mit der Platte in ein Loch gefallen!“

„Und, hast du dir wehgetan?“, fragte Tommy ungerührt.

„Nein … aber …“ Wenn ich an den sekundenlangen freien Fall ins Nichts dachte, wurde mir selbst jetzt noch hundeelend.

„Ich will auch nicht noch mal abstürzen!“, rief Sanne.

„Wir wissen doch gar nicht, was uns diesmal erwartet“, versuchte Tommy uns zu beruhigen. „Wir werden spielen müssen, sonst verschimmeln wir hier im Dschungel.“

Für ein paar Sekunden standen wir schweigend vor dem steinernen Spiel. Schließlich ging Tommy auf die Knie und fuhr mit dem Finger die Linien nach. Dann nahm er vorsichtig eine der kleinen Figuren hoch und drehte sie in der Hand hin und her.

„Menschen mit Schakalköpfen“, sinnierte er. „Das ist Anubis. Der Gott der Toten. Den kennen wir ja schon.“

„Was macht der auf einem Spiel? Und warum sind sie alle gleich?“, fragte Sanne ängstlich.

„Hmm …“, überlegte Tommy. Dann schaute er mich an und grinste. „Joe…, du warst doch letztes Jahr mit mir im Museum. Hast du dir auch das antike Spielzeug angesehen? Da war sogar ein Fußball dabei.“

„Ja, hab ich gesehen“, antwortete ich. „Und ein Holzpferd und Puppen, alles tausende von Jahren alt. Aber da war kein Brettspiel.“

„Stimmt schon“, lächelte Tommy. „Aber du hättest den großen Prospekt lesen sollen. Da waren alte Spiele für Erwachsene abgebildet. Und ich glaube, da war auch so ein Spiel wie dieses hier dabei.“

Janine ließ sich ebenfalls auf die Knie nieder. „Weißt du noch, wie es geht?“, fragte sie aufgeregt.

„Nur noch so ungefähr“, gab Tommy zu. „Es hat mich ein bisschen an das Malefiz-Spiel erinnert. Jeder Spieler bekommt eine Figur …“ Er hielt inne. „Da stehen vier Figuren!“

„Wir sind doch vier!“, rief Sanne.

„Ja, aber ich weiß nicht mehr, ob das Spiel aus dem Katalog auch mit vier Figuren ging“, überlegte Tommy. „Aber egal, vier Figuren, vier Spieler. Wie für uns geschaffen.“

„Und wie spielt man es nun?“, fragte Janine drängend.

Tommy antwortete nicht. Sein Blick ging ins Nirgendwo. Sanne wollte ihn antippen, aber ich hielt sie zurück. Ich kannte meinen Freund. Wenn er nachdachte, war er bisweilen ganz woanders. Es dauerte eine Weile, doch schließlich überzog ein Lächeln sein Gesicht.

„Das Isis-Spiel! Es ist das Isis-Spiel! Ich weiß wieder, wie es geht! Ich hab damals gedacht, das ist wie bei unseren Abenteuern! Man muss von der diesseitigen Welt in die jenseitige gelangen! Hier, mit den vier Figuren müssen die Spieler Züge machen, die sie bis nach oben in den Querbalken bringen. Jeder Spieler spielt gegen die anderen und kann sie vom Weg abbringen. Es ist ein Strategiespiel, das verflixt schwer ist.“

„Und wer gewinnt?“, fragte Janine voller Spannung.

„Der, der als erster den Thron besteigt“, sagte Tommy und rutschte auf Knien ein Stück nach oben. Dann deutete er mit dem Finger auf ein Zeichen, das in eines der Kästchen im Querbalken des Spiels eingelassen war.

„Seht ihr, das ist ein Thron, der dem Sieger gebührt.“ Er stutzte. „Aber hier sind vier. Ich kann mich nur an zwei erinnern.“

Dann hellte sich sein Gesicht auf, aber Janine war schneller. „Wir sind ja auch vier!“, rief sie und strahlte.

„Na klar“, grinste ich. „Aber nur einer kann gewinnen… oder, Tommy?“

Tommys Gesicht verfinsterte sich. „Stimmt. Wenn alle gewinnen würden, braucht man ja nicht spielen. Hmm … jetzt weiß ich auch nicht mehr weiter. Hat jemand von euch eine Idee?“

Sanne wischte sich den Schweiß vom Gesicht. „Puuh, mir ist so warm. Können wir nicht erstmal was trinken?“

„Ich hab auch riesigen Durst. Aber lass uns erst das Rätsel lösen“, meinte Tommy. Ich spürte meinen Rucksack an meinem klatschnassen Rücken kleben, aber ich verdrängte das Gefühl. Ich verdrängte auch den Gedanken daran, was passieren würde, wenn wir das Rätsel nicht lösten. Wir mussten es einfach lösen. Aber noch hatten wir ja nichts probiert.

„Tommy …“, fragte Sanne. „Kannten die alten Ägypter Würfel?“

Tommy dachte über die Frage nach. „Das weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, nach welchen Regeln das Isis-Spiel gespielt wird. Und wenn ich es wüsste, wäre immer noch nicht klar, ob sie auch für uns gelten. Hier liegen jedenfalls keine Würfel und auch sonst nichts mehr herum.“

„Dann können wir ja mogeln“, grinste Janine.

„Wenn du mit mir spielen würdest, könntest du es ja versuchen!“, lachte Tommy. „Aber hier können wir nicht mogeln.“

„Ich glaube nicht, dass wir spielen müssen“, sagte ich so vor mich hin.

„Was hast du gesagt?“, fuhr Tommy auf. Sanne und ich standen immer noch, und wir gingen jetzt auch neben Tommy und Janine auf die Knie. Jever und Lazy hatten sich am Kopfende platziert und schauten uns neugierig zu.

„Na ja“, überlegte ich laut. „Du hast doch gesagt, es macht keinen Sinn, wenn alle gewinnen würden. Wenn aber nur einer von uns gewinnt, macht das auch keinen Sinn. Wir sind doch Die Vier Herzen. Und wenn da vier Throne eingezeichnet sind, müsste doch für jeden ein Thron bestimmt sein, oder nicht?“

„Ja“, meinte Tommy gedehnt. „Aber eigentlich hat der gewonnen, der als Erster seinen Thron besteigt. Doch du könntest Recht haben.“

„Dann besteigen wir sie doch alle gleichzeitig!“, rief Janine.

Tommy lachte. „Zwei Königinnen und zwei Könige! Na, das würde einen Streit geben im Königreich! Aber warum nicht? Versuchen wir es einfach. Janine, fang du an. Du bist die Jüngste.“

Janine schaute uns mit großen Augen an, aber wir nickten nur.

„Na gut, ich mach’s. Aber nicht am Kopf!“

Vorsichtig umfasste sie die erste Figur. Sie vermied es, Anubis am Kopf anzufassen. Ich konnte sie verstehen, denn der Schakalkopf sah irgendwie gruselig aus. Dann holte sie tief Luft und nahm die Figur von ihrer Ausgangsposition.

„Auf welchen Thron soll ich ihn setzen?“

Tommy zuckte die Schultern. „Wenn wir alle Throne besteigen, ist es wohl egal. Setz ihn einfach auf den linken.“

Ohne weiter zu zögern setzte sie ihren Anubis in das Kästchen mit dem Thron, der links im Querbalken eingezeichnet war. Blitzschnell ließ sie los und zog ihre Hand zurück. Atemlos warteten wir, ob etwas passieren würde, aber es tat sich nichts.

„Jetzt du, Sanne“, forderte Tommy meine Schwester auf. „Du bist die Zweitjüngste.“

„Okay.“ Sanne hatte Mut gefasst, als sie sah, dass bei Janine nichts passiert war und setzte ihre Figur schnell, aber sicher auf den nächsten Thron.

„Du bist dran!“, grinste Tommy mich an. „Du bist immerhin eine Woche jünger als ich!“

„Höre stets auf den Rat eines weisen alten Mannes!“, lachte ich und zog meinen Anubis nach. Der letzte Zug blieb Tommy vorbehalten. Er griff nach dem Spielstein und hielt ihn dann dicht über den letzten Thron.

„Los!“, sagte Sanne leise.

Ohne zu zögern stellte er seine Figur sicher auf den letzten Thron. Unwillkürlich fuhren wir alle ein Stück zurück. Hektisch irrten meine Blicke über den Boden. Mein Magen zog sich in Erwartung eines plötzlichen Sturzes zusammen, und schon meinte ich, Risse in der Platte wahrzunehmen. Aber meine Augen hatten mir nur einen Streich gespielt.

Sekunde für Sekunde verging. Nichts rührte sich. Sanne stieß einen Seufzer aus. „Es funktioniert nicht.“

Jever sprang auf und kratzte mit der Pfote auf der Platte herum.

„Hör auf!“, rief Tommy. „Mogeln gilt nicht!“

„Und was jetzt?“, fragte Janine und schaute ängstlich auf die Lichtung. „Lange will ich hier nicht mehr bleiben.“

Tommy erhob sich ebenfalls, und Sanne und ich machten es ihm nach. Ich wusste nicht mehr weiter. Wir hatten das Spiel gespielt. Alle Figuren saßen auf ihren Thronen. Ich grübelte angestrengt nach. Wie sonst hätte man es spielen können? Wenn man die Regeln nicht kannte, war es eigentlich unmöglich, es richtig zu spielen. Ich wurde wütend.

„Dann mach ich mir eben eigene Regeln!“, entfuhr es mir.

Tommy blickte mich stirnrunzelnd an.

„Warum nicht?“, murmelte er. „Auf jeden Fall wird dieses Spiel hier eigene Regeln haben. Nämlich nur für uns. In seiner Zeit besaß es natürlich feste Regeln, aber es steht für uns hier. Und wir kennen die alten Regeln ja nicht. Es muss eine Lösung geben, auf die wir auch ohne Regelheft kommen müssten.“

„Es gab niemals vier Könige auf einmal“, murmelte Sanne. „Warum gibt es dann vier Throne?“

„Das hatten wir doch schon“, seufzte ich. „Weil wir vier sind.“

„Vielleicht ist es wie bei den echten Königen“, überlegte Janine. „Wenn eine Königin und ein König vier Kinder haben, besteigt der älteste zuerst den Thron.“

Tommy schaute unsere Freundin verblüfft an. „Janine, das ist eine tolle Idee!“ Dann verfinsterte sich sein Gesicht wieder. „Aber Königskinder sind wir ja nicht gerade.“

„Nein“, grinste ich. „Obwohl Sanne ja oft das Prinzesschen spielt!“

Meine Schwester wollte aufbrausen, aber ich winkte beruhigend ab. „Hey, das war Spaß!“

Irgendetwas krabbelte an meinem Bein hoch, und ich wischte es panisch weg. In diesem Moment kam mir ein Gedankenblitz.

Der älteste zuerst!“, rief ich. „Na klar! Das ist es! Der älteste besteigt zuerst den Thron, und wenn der nicht mehr lebt, kommt der nächste!“

„Tommy, du bist der älteste“, grummelte Sanne. „Aber ich will nicht, dass du stirbst, damit ich dran komme!“

„Keine Angst!“, lachte Tommy. Dann wurde er schlagartig wieder ernst. „Also, das könnte stimmen. Es ging bei den Rätseln immer irgendwie um unser Alter oder die Reihenfolge unserer Geburten. Bis jetzt haben wir immer mit der jüngsten begonnen. Aber hier könnte es andersherum sein. Versuchen wir es einfach.“

Ich zögerte. „Ja, aber … die stehen doch schon alle auf ihren Thronen. Und außerdem sehen sie alle gleich aus. Wir wissen doch gar nicht, welcher zu uns gehört.“

Tommy ließ sich von meinen Zweifeln nicht beirren. Er bückte sich und nahm die Spielsteine an sich.

„Ich nehm einfach irgendeinen. Wenn du Recht hast mit der Thronfolge, dann ist es egal, welchen Stein ich nehme. Aber als ältester Königssohn muss ich anfangen“, grinste er.

Mit gemischten Gefühlen sah ich zu, wie er einen der schakalköpfigen Figuren an sich nahm. Sanne und Janine griffen sich ebenfalls einen der Steine, und ich nahm den letzten.

„Okay, dann mach ich mal“, grummelte Tommy. Er überlegte nicht lange. „Ich glaube, es ist egal, auf welchen Thron ich ihn setze. Ich fang einfach wieder mit dem linken an.“

Er bückte sich und platzierte die Figur auf dem linken Thron. Diese Hundeköpfe waren mir nicht geheuer. Irgendwie hatte ich das Gefühl, sie könnten jeden Moment ihre spitzen Schnauzen öffnen und zubeißen.

„Jetzt du“, sagte Tommy und schaute mich auffordernd an. Ich war froh, nicht der letzte zu sein und platzierte meine Figur auf dem nächsten Thron. Danach war Sanne dran, und auch Janine zögerte nicht, sondern stellte ihren Anubis rasch auf den letzten freien Platz.

Unwillkürlich hielt ich den Atem an. Ein, zwei Sekunden lang passierte nichts. Dann, ohne Vorwarnung, erschütterte ein lautes Whumm die Umgebung. Es war ein Geräusch wie wenn ein Düsenjäger die Schallmauer durchbricht. Kurz darauf schoss ein Windstoß durch den Urwald. Sanne stieß einen Entsetzensschrei aus und klammerte sich an mich. Voller Angst und vollkommen verkrampft standen wir da und warteten darauf, dass etwas Schreckliches passieren würde.

Was war das?“, flüsterte Janine mit zittriger Stimme. „Schießt jemand auf uns?“

Unsere beiden Hunde standen mit gesträubtem Fell da und witterten. Panisch starrte ich auf das Spiel, ob sich irgendetwas verändern würde. Doch nichts tat sich.

„Das war kein Schuss“, krächzte Tommy.

„Was denn dann?“, fragte ich drängend. Ich war pitschnass geschwitzt. Mein T-Shirt und meine Hose klebten an mir, und der Rucksack hing wie Blei auf meinem Rücken. Am liebsten wäre ich losgerannt. Aber wohin?

„Ich weiß nicht“, sagte Tommy unsicher. „Hörte sich an wie ein Flugzeug.“

„Das kann nicht sein!“, entfuhr es Janine. „Wir sind in einer anderen Welt! Hier gibt es keine Flugzeuge!“

Tommys Blicke irrten zwischen dem Spiel, dem Saum des Urwalds und der Lichtung hin und her. „Ich weiß. Aber was sollte es sonst gewesen sein?“

Für mindestens eine Minute standen wir reglos um das Spiel herum und warteten darauf, dass sich das Geräusch wiederholte. Aber das tat es nicht. Plötzlich hopste Jever drauflos und rannte auf die Lichtung hinaus. Tommy wollte ihn zurückrufen, besann sich aber eines Besseren. „Kommt“, sagte er bestimmt. „Das Spiel bringt uns nicht weiter. Vielleicht hat Jever etwas entdeckt.“

Ich gestand mir ein, dass ich froh war, wieder aus dem dichten Dschungel herauszukommen, wenngleich die Lichtung nur eine trügerische Sicherheit bot. Nach allen Seiten sichernd tasteten wir uns zurück auf die lichtdurchflutete Stelle im Urwald.

„Hört ihr das?“, flüsterte Janine.

„Was denn?“, flüsterte ich gepresst zurück. Ich lauschte angestrengt, aber alles, was ich vernahm, war ein Rauschen in meinen Ohren.

„Es ist so still. Ich höre überhaupt kein Tier mehr.“ Janines Worte trafen mich wie ein Schlag. Sie hatte Recht. Alle Laute des Dschungels waren verstummt. Die Stille in dieser Umgebung war so unnatürlich, dass ich die Luft anhielt. Wo waren die Tiere hin? Oder hatten sie einfach nur Angst, so wie ich? Ich schluckte. Was war hier los?

Da!“, schrie Tommy unvermittelt. „Seht doch, der Tempel!“

Unsere Köpfe flogen herum. Jever stand mit gesträubtem Fell vor dem vom Dschungel halb versteckten Bauwerk und schien wie festgefroren. Er bellte nicht, wie es sonst seine Art war, sondern knurrte nur leise vor sich hin. Aber genau das verursachte mir eine Gänsehaut nach der anderen. Dann realisierte ich, was Tommys Hund so nervös machte: In der Tempelwand gähnte ein Loch!

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