Loe raamatut: «H. C. Artmann - Bohemien und Bürgerschreck»
Über das Buch:
H. C. Artmann war einer der großen Dichter des deutschsprachigen Raumes – ein fantasievoller Schriftsteller und Sprachspieler.
Als er im Dezember 2000 verstarb, trauerte die literarische Welt. Einer seiner langjährigen Freunde und Wegbegleiter – Michael Horowitz – zeichnet in dieser Annäherung an den außergewöhnlichen Autor ein bewegtes Leben nach: vom Rebellen der 1950er-Jahre und dem kometenhaften Aufstieg dank der Dialektgedichte „med ana schwoazzn dintn“ über seine „wilden“ Wanderjahre bis zum fulminanten Gesamtwerk.
Dieses Buch ist eine erweiterte, redigierte Neufassung zum 100. Geburtstag von H. C. Artmann am 12. Juni 2021. Die vergriffene Erstausgabe mit dem Titel „Annäherung an den Schriftsteller und Sprachspieler“ erschien vor 20 Jahren in diesem Verlag.
Die Neuauflage dieses Buches will den Dichter und Menschen näherbringen, aber auch die wilden Zeiten, die sein Leben prägten. In Berlin, Graz und Salzburg, aber vor allem in Wien. Mit seinen Freunden Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener. Mit Heimito von Doderer und Helmut Qualtinger, Wolfgang Bauer, Peter Rosei und Peter Turrini.
Ich danke Rosa Artmann für das Gespräch über H. C., das wir im Dezember 2020 führten.
Inhalt
WER SIND WIR?
VIRTUOSER SCHRIFTSTELLER UND FANTASIEVOLLER SPRACHSPIELER
ohne ende seine stolze feuerkunst möge verzaubern
BONVIVANT UND BÜRGERSCHRECK AUS BREITENSEE
Begegnungen mit einem Menschen voller Tatendrang und Traurigkeit
REISEN IM WINDSCHATTEN DER POESIE
Späte Ehrungen und ein aschenleichter Tod
AN DER BREITENSEER BASSENA
Bauchfleisch, Bösendorfer-Flügel und der Bomber der Nation
MELODIE DER PERIPHERIE
Chinesen, Dämonen, Vampire und die Riesenwirtin
MELDEZETTEL DER KINDHEIT
Breitenseer Budl-Busen und Zorro, der Rächer der Würstelmänner
KEINE KERZEN, KEINE KOHLEN – ABER HOFFNUNG
Stalin-Spenden, Schleichhandel und die Vier im Jeep
WAS HALTEN SIE VON JAMES JOYCE?
Der Dritte Mann, der g’schupfte Ferdl und der Journalist Johannes Mario Simmel
KNIETIEF IM KAFFEEHAUS
Im Wartesaal des Ruhms – zwischen Buchteln und der Erotik spezieller Körperfalten
EIN NETZ AUS SPERMIENFÄDEN
Admiral Tegetthoff und die Poetisierung der Welt
DIE BOHEMIENS VON WIEN
Savoir-vivre im Souterrain und Schmähführen im „Strohkoffer“
IM CLUB DER TOLLEN DICHTER
Von poetischen Proclamationen und alkoholbunten Sprachartisten
DIKTATUR DER PROGRESSIVEN JUGEND
Halbstarke und Heidegger, Besäufnisse und Barockliteratur
GEFÄHRDUNG DURCH HIASLN UND NEBOCHANTEN
Der Dialektdichter, die Muse Moni und Maggiwürfel
NUA KA SCHMOEZ NED
Das Donauweibchen, Woo-Doo-Zauber und bitterschwarze Gedanken
UNTERWEGS AUF DEM RÜCKEN EINES WALFISCHES
Wanderjahre, Waldmeister-Bowle und der Verlag Artmann & Artmann
ABENTEUER IM KOPF
Marlene Dietrich und die barocke Schwermut des Dr. H. C. H. C. Artmann
DER WIND, DER WIND, DAS HIMMLISCHE KIND
Der Büchner-Preis für den „Staatskünstler und Sozialschmarotzer“
AUSKLANG
„Die Zukunft war noch nie ein Baiser mit Schlag“
WERKVERZEICHNIS
WER SIND WIR?
Rosa Artmann im Gespräch mit Michael Horowitz, 15. Dezember 2020
Michael Horowitz: H. C. beschreibt seine literarische Figur John Hamilton Bancroft als einen „gut aussehenden Gentleman, unabhängig und wagemutig“, sah er sich auch so?
Rosa Artmann: Auch, aber nicht nur, je nach Stimmung … das hing von der Lebensphase ab, in der er sich befand. Jedenfalls war es ein Bild, das ihm gefallen hat.
Was war die wagemutigste Zeit in seinem Leben?
Er war Deserteur im Krieg. Das unerklärliche Phänomen, wer überleben darf und wer nicht, war ihm immer bewusst – da hat er wahrscheinlich auch mit weißer Magie begonnen. Und sich gefragt, warum gerade er auserwählt war, zu überleben.
Wie schafft man jahrzehntelang den Alltag mit so einem Mann – auch bei Dichtern gibt es ja einen Alltag …
Alltag mit einem Dichter ist Alltag mit einem Menschen.
H. C. war ein Dichter, für den „die Sprache eine erogene Zone ist“, ein leidenschaftlicher Mensch … wie würdest du ihn beschreiben?
Wie ortet man einen Dichter? Er stellte sich die Frage „Wer sind wir?“ Erst über Sprache existiert die Welt für den, der sie benützt, und wie er sie verwendet. Er war sprachbesessen, wie ich es auch bin. Doch weil Sprache vielfältig ist und viele Ebenen hat, gibt es verschiedene Sprachbesessenheiten. Das war eine gegenseitige Herausforderung und Begrenzung.
Hat H. C. dich zum Schreiben gebracht?
Ich weiß es nicht. Vielleicht hat er meine Sehnsucht für mich gelebt, bevor ich zu schreiben begonnen habe. Ob das ein Erklärungsmuster ist, weiß ich ebenso nicht.
Es gab so manche „Muse“ während seiner Wanderjahre im Ausland, du warst sein Anker. Kann man das so sagen?
Muse? Anker? Diese Begriffe verwende ich nicht. Wir haben die Ehe auf unsere Weise gelebt. Unsere Verbindung war unverbrüchlich, ein seelisches und herzgemäßes Erkennen. Zwei Schicksale, die wir mit unserer geliebten Tochter Emily gelebt haben.
H. C. Artmann hat 1974 den Großen Österreichischen Staatspreis, 1997 den Büchner-Preis bekommen und ist in Salzburg zum 70. Geburtstag zum Ehrendoktor ernannt worden. Sind die Auszeichnungen zu spät gekommen?
Besser spät als nie.
Wie habt ihr euch kennengelernt, was war dein erster Eindruck von H. C.?
Ich habe ihn das erste Mal im Gasthaus „Lückl“ in der Leonhardstraße in Graz gesehen. Das war 1972. Ich habe ihn als H. C. Artmann erkannt, weil wir im Gymnasium „med ana schwoazzn dintn“ gelesen hatten. Das war die erste Begegnung.
Hat er auf dich anziehend gewirkt?
Anziehend fand ich ihn, als ich ihm Monate später im „Walfisch“ am Berliner Savignyplatz begegnet bin. Ich habe damals in Berlin gelebt und Gerald Bisinger gekannt, der an jenem Abend H. C. treffen wollte und mich gefragt hatte, ob ich mitkommen will.
Wenn man heute Menschen fragt, womit H. C. Artmann berühmt wurde, werden die meisten sagen: „med ana schwoazzn dintn“.
Damit ist er in Wien berühmt geworden. Dass die „dintn“ so eingeschlagen hat, lag daran, dass Dialekt nach dem Krieg verpönt war … Dialekt steht ja soziologisch eigentlich immer für Armut. Dialekt hat nur der sogenannte niedere Stand gesprochen, für das Bürgertum und die Aristokratie war er meistens tabu. Er selbst ist ja auch nach dem Krieg äußerst arm gewesen. Die „dintn“ war ein Experiment, wie man Dialekt literarisieren kann, in einer Form, dass sich das sogenannte Volk darin emotional erkennt. Wien eignet sich mit seiner barocken Tradition, seiner Melancholie und seiner Todessehnsucht dafür. Das Wienerische hat Metaphern, die man in die sogenannte Hochsprache nicht annähernd übersetzen kann. Und das Volk lebt Literatur in seinen Metaphern. Das Volk. Die Menschen. Gespräche ergeben immer wieder neue literarische Formen, die dann ein Berufener auch in ein Gedicht transformieren kann.
Wurde er nicht auch oft missverstanden oder falsch interpretiert?
Ja. Er hat gesagt: „Ich bin immer nur das Gefäß.“ Und dieses „Ich“ war für ihn alles andere als narzisstisch oder für seine Person als Funktion in der Gesellschaft gedacht. Überhaupt nicht. Oft wurde er missverstanden. In jeder Gesellschaft wird Bescheidenheit, vor allem bei Hab und Gut, missinterpretiert. In verschiedensten Rollen hat er Spiegelbilder der Gesellschaft vorgelebt, die aufzeigen sollten, welche Funktionen wir in der Gesellschaft einnehmen. Das war sein gelebtes politisches Manifest. Er war ein Menschenliebender und hat versucht, Hierarchien nicht nur zu unterwandern, sondern sie auch aufzuzeigen. Auch in seiner Literatur – eine Interpretation von mir …
… aber mit der wäre er einverstanden, nehme ich an …
Ich glaube, dass ihm meine Interpretation entsprochen hat – zwar nicht hundertprozentig, doch bin ich mir sicher, dass er sich in seinen Intentionen von mir verstanden erlebt hat.
Er ist vor 20 Jahren gestorben, wie hat sich der Stellenwert seines Werkes aus heutiger Sicht verschoben, verändert?
Literatur hat momentan einen geringeren Stellenwert, Werte verändern sich immer. Die Welt von heute ist durchfunktionalisierter denn je. Seine Anschauung war: Ich bin Geist und habe einen Körper.
Er war ein Verwandlungskünstler, der ein Leben lang versuchte, seine Biografie zu verschleiern – hat er sich hinter den Masken und Synonymen von der Außenwelt abschirmen wollen?
Nein. Er hat zeigen wollen, welche Masken wir tragen – sobald wir in Gesellschaft öffentlich werden. Das hat er vorgezeigt. Ich glaube, das ist ein großes Missverständnis, er wäre immer in Maske gewesen und sich nie gezeigt hat. Im Gegenteil, ich sage, er hat es gewagt, seine Fehlerhaftigkeit zu zeigen. Er hat kein Bild des Perfekten vorgespielt. Wann ist etwas Maskerade?
Wie würde er heute leben?
Still, über das Alter verändert. Und wäre wahrscheinlich betrübt, was heutzutage vermeintlich Freude macht und das Lebendige zu ersticken droht.
Wie würde er seinen 100. Geburtstag feiern?
Wie immer. Man sitzt, spricht und trinkt. Er wäre froh und traurig zugleich, weil er das Leben sehr schätzte, auch wenn er immer wieder betont hat, wie schwer es ist, zu altern. Über seine Krankheit hat er wenig gesprochen, seine Gebrechlichkeit war für ihn kein Thema. Würdevoll elegant hat er sie angenommen.
Was sind deine schönsten Erinnerungen an ihn?
Kann und will ich nicht sagen. Das Schöne liegt ja im Alltag. Meine schönste Erinnerung an ihn? Er fehlt, und nicht nur mir.
Oft war er schlaflos, hatte immer wieder Albträume von Krieg, Flucht und Überleben … Wie sehr hat das seine Arbeit beeinflusst?
Ja, er hat sehr wenig darüber gesprochen. Er hat die Menschen mit seiner Melancholie äußerst wenig belastet. Es ist in der Literatur auch nicht psychologisch bearbeitet worden, sondern eher archetypisch im kollektiven Unbewussten. Für ihn war das Wichtigste – und sein einziges explizit geschriebenes politisches Manifest: „Nie wieder Krieg!“ Er wäre entsetzt, wie viele Kriege es heute immer noch gibt. Krieg ist das Unzivilisierteste überhaupt. „Warum lesen die Menschen nicht mehr, sondern erschießen andere?“
Er hat einmal gesagt, er habe pro Zeile eine Zigarette geraucht … immerhin ist er 79 Jahre alt geworden. War es leicht für ihn, sich vom Leben zu verabschieden?
Das weiß ich nicht, das sind immer Prozesse. Ich habe seinen nahenden Tod verdrängt und wollte ihn nicht wahrhaben, ich glaube, er hat sein Ende erspürt, aber ich weiß nicht, wie schwer er das Leben verlassen hat. Das ist seine Erlebniswelt, die kann man mit niemandem teilen. Ich war allein mit ihm, als er in die andere Dimension getreten ist. Es war tiefernst und es entstand eine andere Form der Schönheit. Das Ende kann auch eine Form der Schönheit entwickeln. Wie Adolf Muschg einmal erklärt hat: „Das Großartige in der Literatur ist, wenn man zum Beispiel Dostojewski liest, dass selbst in der schlimmsten Thematik eine Schönheit darin liegt, dies zu lesen.“
VIRTUOSER SCHRIFTSTELLER UND FANTASIEVOLLER SPRACHSPIELER
ohne ende seine stolze feuerkunst möge verzaubern
Friederike Mayröcker
H. C. Artmann. Die Sprache ist für den „empfindsamen Lauscher an Nachtigallenschnäbeln“ eine erogene Zone. Wörter seien eine „magnetische masse, die gegenseitig nach regeln anziehend wirkt; sie sind gleichsam ‚sexuell‘, sie zeugen miteinander, sie treiben unzucht miteinander“.
Über den Dialekt bringt der Dichter die Menschen zur Poesie. Der Bonvivant und Bürgerschreck aus Breitensee ist ein liebenswerter Rebell. Ein virtuoser Sprachspieler. Ein literarischer Globetrotter. Ein Mensch mit der Neugier eines Kindes. Angetrieben von zügellosem Wissensdrang und grenzenloser Fantasie lässt er die Realität oft hinter sich.
Im Sommer 1921 kommt Hans Carl im 14. Hieb zur Welt. Seine Mutter Marie kocht wunderbar. Vor allem das „einzig original spezial-erdäpfelgulasch der familie artmann“. Danach türmt sich ein „matterhorn aus häferln und tellern auf dem kuchltisch pres-to-omo-sil-glänzend“.
Der später als H. C. Artmann gefeierte schillernde Schriftsteller wächst in einem winzigen Kabinett mit Fenster auf die Gasse auf. Zwischen Breitenseer Bassena, tristem Alltag und der Poesie der Wiener Vorstadt. Sein Vater ist Schuster. Er stellt sogar Schischuhe her, wie der Sohn stolz meint, dennoch hätte er ihn gerne als Seemann erlebt. Voller Sehnsucht beschreibt Artmann später die Abenteuer in fiktiven, weit entfernten Kontinenten.
Volksschule. Hauptschule B-Zug. Bereits als Vierzehnjähriger beginnt er mit außergewöhnlichem Sprachgefühl wie besessen zu lesen, erlernt durch Selbststudium viele Sprachen. Nach der Schule arbeitet Hans Carl als Lehrling in einer „Chinasilber-Erzeugung“ in Wien-Neubau. Der Chef, der Herr Freisinger, ist nie da, der Lehrbub kann den ganzen Tag lesen. Nur jeden Abend muss er die Post und die Buchhaltung ins Café Tuchlauben bringen, dort tarockiert der Herr des Silbers.
Zweiter Weltkrieg. Oberschenkel-Durchschuss an der Ostfront. 52-prozentige Invalidität. Neun Monate ist Artmann im Lazarett, danach zweieinhalb Jahre in einer Strafkolonie. In Sibirien, Finnland, zum Schluss in Frankreich. Seine permanenten Fluchtversuche werden vereitelt. Schließlich gelingt die Desertation. Er lernt im Krieg mit der Gefahr zu leben. Noch viele Jahre danach hilft das 10er-Valium nicht mehr. Er träumt immer das Gleiche. Von Krieg, Flucht und Überleben.
Am 14. April 1945 verfasst der 24-Jährige sein erstes Gedicht, eine Liebesballade „nach chinesischem und japanischem Vorbild“: „Unter Blütenbäumen“, geschrieben in Hollabrunn. Der 24-Jährige widmet es der Tochter eines Müllers, einer Unschuld vom Lande. Jahrzehnte nach dem ersten literarischen Versuch schwärmt der Literaturkritiker Jörg Drews von der Sinnlichkeit seiner Sprache: „Artmanns Dichtung ruft höchste Lust am Text hervor: Die Erotik überträgt sich gewissermaßen.“
Nach 1945 verdient Artmann in Wien während der Besatzungszeit als Postbote ein paar Schilling pro Woche. Abends schreibt er auf einer Maschine, die ihm seine Mutter gekauft hat, Gedichte. Und schickt sie an Radio Wien. Drei davon werden 1947 gesendet. Das Funkhaus der RAVAG liegt in der russischen Zone. Man will mit Schulfunk- und Wissenschaftssendungen vor allem Bildung vermitteln. Ein Auszug aus dem Programm: „Ein Bild fliegt durch den Äther – das Wunder des radioelektrischen Fernsehens“, „Wie das Radium nach Wien zurückkam“, „Mit Atomkraft zum Mond“, „Schildkrötenfang im Atlantik“ oder „Leo Slezak, der Künstler und Lebenskünstler“.
Das autodidaktische Sprachstudium des Kriegsheimkehrers reicht aus, um als Dolmetscher bei der amerikanischen Militärpolizei zu arbeiten. Später übersetzt er aus dem Englischen Nonsens-Verse von Edward Lear und den viktorianischen Kinderroman „Junge Gäste“ des neunjährigen Mädchens Daisy Ashford, aus dem Irischen religiöse Dichtungen der Kelten, aus dem Schwedischen die „Lappländische Reise“ des Naturforschers Carl von Linné. Er überträgt Quevedos „Lebensgeschichte des Buscón“ des frühen 17. Jahrhunderts aus dem Spanischen und das Testament seines französischen Idols François Villon ins Wienerische – von Artmanns Freund Helmut Qualtinger später zu Jazzbegleitung auf einer Schallplatte konserviert.
H. C. Artmann versucht sich im chaotischen Wien der Nachkriegszeit auch als Edel-Statist am Burgtheater. Er darf Faust und Mephisto – von Ewald Balser und Albin Skoda verkörpert – Stichworte geben. Später lockt auch der Film: Eine kurze Szene im Kinoklassiker „Der Dritte Mann“ über den skrupellosen Schwarzhändler Harry Lime. Der Satz: „Was halten Sie von Joyce?“ wird vom ambitionierten Kleindarsteller zu dialektgefärbt gesprochen – und rausgeschnitten. In dieser Lebensphase gibt es jede Nacht exzessive „Kaffeehaus-, Keller- und Kneipenexerzitien“.
1951 wird der Art Club als Treffpunkt der künstlerischen Avantgarde, der Bohemiens von Wien, gegründet: Savoir-vivre im Souterrain. Man „lebt auf kleinstem Raum bestens aneinander vorbei“. Gerne tritt auch ein schlanker, soignierter Herr nachts hier auf. Was er tagsüber macht, weiß niemand. Irgendwann sickert durch, der Mann sei Dichter.
1953 verkündet dieser die „acht-punkte-proklamation des poetischen actes“. Als Protest gegen das „konventionelle, anonyme, normative“ initiiert H. C. Artmann eine „poetische demonstration“. Die Teilnehmer mit weißgeschminkten Gesichtern deklamieren, begleitet von Lampionträgern, Texte von Baudelaire, Poe und Trakl. Und verursachen ein Verkehrschaos in der Wiener Innenstadt.
Um den fantasievollen Sprachspieler hat sich schon ein Jahr zuvor die „Wiener Gruppe“ formiert, ein Kreis experimenteller Schriftsteller wie Konrad Bayer, Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner und Oswald Wiener. Aus verschiedensten künstlerischen Sphären stammend, sind sie sich in der Zersplitterung und Neuordnung der literarischen Form einig, wollen Kunst und Leben verbinden. Mithilfe von radikalen Aktionen, Lautpoesie und visueller Lyrik.
In Artmann-Texten aus der Zeit der „Wiener Gruppe“ findet man 1956 erlesene Anmerkungen wie „ein erzherzog darf kein hühnerauge haben“, „ein lotterleben mit derwischen und baupolieren verbieten“ oder „einen sicheren posten aufgeben, um einer innsbruckerin aus dem hemd zu helfen“.
Zwei Jahre danach erscheinen die Dialektgedichte „med ana schwoazzn dintn“. Poesie pur. Artmanns erster Erfolg. Der Band mit den Balladen aus der Vorstadt wird zur literarischen Sensation Wiens, H. C. zum populären Volksdichter. Man spricht in der Tramway über ihn. Und kulturaffine Bürger laden ihn zu sich nach Hause ein. Obwohl seine Sprache ja aus der Gosse stammt …
Der dichta aus bradnsee erhält erstmals Honorare. Jeden Ersten 4000 Schilling – „am 10. hatte ich nur mehr 400, mit denen musste ich mich bis zum Monatsende durchg’ fretten …“ Und der plötzlich berühmt gewordene Bürgerschreck aus Breitensee bekommt eine Gemeindewohnung zugewiesen. Doch bereits nach einiger Zeit folgt die Delogierung – wegen permanenter nächtlicher Ruhestörung und massivem Mietrückstand.
Die schulterklopfende Anerkennung ufert aus. Es wird zu eng in Wien. Als Dialektdichter hier zu leben, wird immer belastender. Mit einer schwedischen Studentin flüchtet H. C. nach Stockholm. Später findet er in Berlin Asyl. Überall begleitet ihn seine „Olympia“-Reiseschreibmaschine. Manchmal auch eine Muse. Nach diesen wilden Zeiten reist der ruhe- und rastlose kuppler und zuhälter von worten durch ganz Europa. Befindet er sich gerade in Grönland, in Schottland oder in den Niederlanden? Für Elfriede Jelinek ist er ein „Gentleman mit einem Reisekoffer, ein Anarchist, garantiert wieder einmal mit Tausenden von nackten, wispernden Eskimomädchen unterwegs, die aus ihren Körpern Lieder bilden.“
Der Abenteurer Artmann lässt in seinen Büchern Figuren aus fremden Ländern, Lemuren, Vampire und Werwölfe auferstehen. Batman und Robin, Donald Duck und Robinson Crusoe. Seine Fantasie scheint grenzenlos. Wenn der chinesische Schurke Dr. Phoo Manchu brüllt, klingt das so: „Tsen wei wui ting örh bo ming hui!“ und auch die Sprache der blauen Wilden von Carpentaria in Nordaustralien beherrscht der sprachkundige Autor: „Oarrngh mmmflullwp ahrkpp nnnschnl!“
In „Nachrichten aus Nord und Süd“ schreibt er 1978: „Bitte bitte sagt mir doch, wer ich bin, damit ich mich wenigstens in Zukunft danach richten kann.“ Irgendwann findet er in einem kleinen Haus am Ende einer Allee mit schlanken, schönen Birken in Salzburg-Moos Ruhe. Zwischen Föhn- und Lodeneskapaden, aber Artmann genießt es, dass Hasen am frühen Morgen bis an sein Küchenfenster hoppeln. Hier lebt er mit seiner Frau, der Schriftstellerin Rosa Pock, die drei Jahrzehnte verlässlich an seiner Seite bleibt, und Tochter Emily Griseldis.
Der Poet aus Österreich wird längst auch international gewürdigt. Im deutschen Feuilleton schreibt Kritiker-Legende Gerhard Stadelmaier über den Wiener mit den größten lyrischen Kopfwelten: „Der Dichter als Erzieher. Zieht sich Masken übern Kopf. Und legt reimweise die Kinder, die in seinen Lesern stecken, übers Schreckensknie … H. C. (Hans Carl) Artmann, gelernter Schuhmacher und gewordener Poet, Wörtergerber und Dichtungsvernäher, Surrealitätsreimspieler und Fantasieraumvermesser, der kleingeschrieben die größten lyrischen Kopfwelten med ana schwoazzn dintn hintuschte.“
An seinem 60. Geburtstag wird ausgiebig gefeiert. In Berlin. Sechs Verflossene sind da. 60 Rosensträuße mit 60 Rosen. 60 Flaschen Champagner. Und 600 Flaschen Chianti. Zum 70. Geburtstag erhält der inzwischen vielfach ausgezeichnete Dichter aus Breitensee das Ehrendoktorat der Universität Salzburg: „Dr. h.c. H. C. Artmann“. Wie das klingt, das gefällt ihm.
Der Platz vor dem Salzburger Literaturhaus wird nach ihm benannt. Einem Rebellen im Ruhestand. Zu viele Jahre hat er pro Zeile eine Zigarette geraucht. Der Enthusiast, als der er auch immer wesentlich Jüngere mitgerissen hat, ist müde geworden. Er blickt zurück, erschöpft von einem Leben aus Euphorie und Einsamkeit, Tatendrang und Traurigkeit, barocken Allüren und tiefer Melancholie. Auf Erfolge und Exzesse, auch auf seine literarische Spurensuche vergessener Barockdichter, die er in sensiblen Übersetzungen zugänglich gemacht hat. Und auch seine „Asterix“-Nachdichtung ins Wienerische, die nicht nur in seiner Heimatstadt Kultstatus erlangt.
H. C. Artmann. Durch die Verbindung von Avantgarde und Volkstümlichkeit setzt er literarische Maßstäbe. Ein Herr mit Grandezza. Ein rastlos Reisender, der real, im Kopf und in der Sprache unterwegs ist. Ein Mann, der mit fünf Frauen fünf Kinder hat, der mit 40 zum ersten Mal heiratet, aber drei Monate später bereits wieder geschieden ist. Und in einem Gedicht schreibt: „ich bin kein jäger kein hasentöter sechzig kinder möchte ich zeugen keine hasen töten“. Das Leben ist ihm nur allzu bekannt. Aber „sein überschwang hatte niemals eine lächerliche note“ wie er selbst attestiert.
Er lässt sich nie blenden, von „leuten, die kommen und etwas in einer sprache sagen, die keiner außer ihnen versteht“. Er ist ein Exzentriker und Individualist, ein Schelm und Provokateur. Ein Dichter, der scheinbar ein Leben lang versucht, seine Biografie zu verschleiern, der sich hinter Masken und Synonymen von der Außenwelt abschirmt. Er sieht sich als Husar, Surrealist, „kurfürstlicher sylbenstecher“, chinesischer Hofdichter oder empfindsamer Lauscher an Nachtigallenschnäbeln. Er tritt auch als „Artmann Quirin Kuhlmann“, „Metro Goldwyn Artmann“ oder „Artmann of Arabia“ auf.
Lange Zeit fühlte er sich „für einen Philosophen noch zu knusprig. Ich bin ein elastischer Mensch!“ Doch irgendwann ist er müde geworden, vom Leben. Die Zeiten, als sein milchiger Mopedscheinwerfer die Abende erhellte, als ihn die Vision beflügelte, „den Lenker einfach auszulassen und in die untergehende Sonne hineinzurauschen“, sind vorbei. Auch die wilden Berliner Tage, als er beim Twist-Tanzen in Berlin Günter Grass die Mädchen ausspannte, als er grinsend in einem Sarg liegend sein „Dracula“-Buch präsentierte.
„Aus fernen augen hast du uns angesehen“, meint Ernst Jandl, „gluecklich, wessen zeit mit deiner zusammentraf. mit dir, uns allen voran, haben wir in unserer sprach eine neue dichtung gemacht.“
Er hat nie vernünftig gelebt. Die Wirklichkeit hat ihn eingeholt. Er leidet an seelischem Rheuma. Während der letzten fünf Jahre lebte H. C. Artmann wieder in Wien, in der Josefstadt. Flügeltüren. Parkettböden. Gediegene Atmosphäre.
In der Nacht von 4. auf 5. Dezember 2000 ist das Herz zu schwach, um weiterzuschlagen. H. C. Artmann stirbt in seiner Wiener Wohnung.