Süßer die Schellen nie klingen!

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Süßer die Schellen nie klingen!
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Michael Schlinck, Baujahr 1969, lebt heute wieder mit seiner Familie in der Südpfalz, in der er auch geboren wurde und aufgewachsen ist. Neben seiner Liebe zum Schreiben entspannt er sich beim gemeinsamen Musikmachen mit seiner Band und natürlich auch mit seinen Kindern und beim Kartfahren.

Michael Schlinck

Süßer die Schellen nie klingen!

Kommissar Schlemperts vierter Fall

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche

Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek

verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Alle Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit

lebenden Personen sind rein zufällig

und nicht beabsichtigt.


Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Finster

Besuch beim Doktor Kleinhardt

Der mittelalterliche Weihnachtsmarkt

Was stimmt hier nicht?

Ein Rundgang durchs Haus

Alles verkohlt

Welch ein Abend

Und nun, was für ein Tag

Unsere Strategie

Willkommen bei Grunzi

Was nun?

Die Weihnachtsfeier

Ganz woanders

Die Weihnachtsfeier Teil zwei

Lerne ich denn nie dazu?

Schon wieder Montag

Der Heuler, wie er leibt und lebt

Bemitleidenswerte Yasmin Kalt

Ist der eine nicht da, dann nervt eben der andere

Wer gibt nun nach?

Heulers Entlassung

Auch noch das

Wieder einige Puzzleteilchen

Oh Tannenbaum

Gerdas Verehrer

In unserer beschaulichen Südpfalz?

Der Bone und sein Anwalt

Jungfernfahrt

Yasis Pendel

Yasi, bitte nicht

Fröhliche Weihnacht

Finster

So ein Scheißdreck, da lieg ich schon wieder auf der Nase. Sag mal, bin nur ich so ein Trottel oder gibt es noch andere, die sich so saublöde anstellen? Warum war ich aber auch derjenige gewesen, der den Hebel betätigt hatte und herausgesprungen war. Ich meine, da drinnen gab es auch noch andere Männer, die hätten nachschauen können. »Keine Sorge«, hatte ich noch geprahlt, »ich bin Polizist und werde schauen, was da los ist.« Dann hatte ich den Hebel für den Notausstieg betätigt, war lässig von der Stufe gehüpft und im Stockdusteren im Schotterbett gelandet und vorne übergekippt. Es hätte mir aber auch klar sein müssen, dass ohne Bahnsteig der Sprung ins Ungewisse etwas tiefer ausfallen würde als gewohnt. Anschließend mit einer Rolle vorwärts den Bahndamm hinab und da lag ich nun auch noch auf dem Rücken wie ein Maikäfer und mit einem klaffenden Loch in meiner Jeans. Da hätte ich endlich einmal die Zeit, um mit meiner Familie nach Karlsruhe zum Weihnachtsmarkt zu fahren und so den Abend des ersten Adventssonntags zu genießen. Dann so etwas.

Warum wir mit der Bahn gefahren waren? Bei solchen Ausflügen lass ich gerne einmal das Auto stehen und wir nehmen den Zug. Für mich ist es sehr erholsam, wenn die ganze Familie Zeit füreinander hat und auch ich meine volle Aufmerksamkeit auf sie lenken kann. Kaum hatte die Regionalbahn den Bahnhof von Kandel verlassen, schon riss es uns aus den Sitzen. Meine Familie und ich waren so schön damit beschäftigt gewesen, uns mit Fingerspielen zu duellieren, dann von draußen das schrille Kreischen von Metall, das unter hohem Druck aneinander reibt. Bevor wir das richtig wahrgenommen hatten, war ich in den Armen meiner Frau gelandet, die mich den Umständen entsprechend weich aufgefangen hatte. Mein Sohn Maik hatte es weniger gut erwischt, er war mit voller Wucht gegen den Kopf seiner Schwester geknallt. Die war natürlich auf ihren fliegenden Bruder nicht gefasst gewesen und hatte ihn unter wilden Flüchen von sich geschleudert. Die ganze Aktion war für den Familienfrieden nicht gerade zuträglich gewesen, woraufhin Quenni ihrem Ärger ordentlich Luft machte. Da sich auch keiner der anderen Insassen erklären konnte, was diese Notbremsung ausgelöst haben könnte, fasste ich eben den Entschluss, hier draußen nachzusehen, was eigentlich los sei.

Wer ich bin? Entschuldigen Sie, mein Name ist Schlempert. Dieter Schlempert. Meines Zeichens Kriminaloberkommissar. Ich arbeite für die Polizei und leite die Dienststelle in Neustadt an der Weinstraße. Ein stressiger Job, den ich nie haben wollte und ihn trotzdem bekommen habe.

Und da liegt er nun, der Oberkommissar, nachdem er kopfüber mehrere Meter nach unten gepurzelt ist. Wieder auf den Beinen, verschaffe ich mir erst einmal einen Überblick und klopfe mir den Staub aus der Hose. Circa acht Meter vor mir, auf dem Bahndamm, steht er nun, der Zug. Eine ganz normale Regionalbahn, wie sie eben auf der Strecke zwischen Neustadt an der Weinstraße und Karlsruhe eingesetzt wird. Der Dieselmotor läuft im Leerlauf, die Fenster sind hell erleuchtet und im Innenraum kann man die Köpfe der Fahrgäste erkennen. Natalie scheint gerade damit beschäftigt zu sein, eine ältere Dame zu beruhigen. Die Scheinwerfer des Triebwagens leuchten die Gleise in Fahrtrichtung Karlsruhe aus, auf denen ich nichts erkenne, was die Notbremsung ausgelöst haben könnte. Um der Sache auf den Grund zu gehen, beschließe ich den Bahndamm wieder hochzuklettern.

Am Zug angekommen, ist es zu meinen Füßen immer noch stockfinster. Durch die Fenster strahlt das Licht so ungünstig, dass der Bahndamm gänzlich im Dunkeln liegt. Nun wäre eine Taschenlampe von Vorteil. Moment! Da fällt mir doch ein, dass mir Maik so eine App aufs Handy geladen hat, die aus dem Blitzlicht der Kamera eine Taschenlampe werden lässt. Ein paar Klicks später ist es zu meinen Füßen taghell. Nun erkenne ich auch etwas Dunkles, Blutverschmiertes vor mir. Da in der Kälte davon Dampf aufsteigt, nehme ich an, dass es sich um frische Eingeweide handelt. Dies erklärt auch unseren Halt auf freier Strecke. Also ein Zusammenstoß mit Wildgetier. Jetzt in der Vorweihnachtszeit fällt mir natürlich zuerst Rudolph das Rentier mit der roten Nase ein. Allerdings hier, so nahe am Bienwald, sollte es doch eher Rotwild gewesen sein, das mit dem Zug kollidiert ist. Um mich zu vergewissern, gehe ich etwas vor den Triebwagen. Wie zu erwarten war, ist die linke Seite der Lok mit Blut und Magen- sowie Darminhalt verschmiert.

Das linke Scheinwerferglas ist zerschlagen und im Gehäuse befindet sich ein Stück blutverschmiertes Fell. Oder? Nein, es ist ein abgerissenes Ohr. Allerdings keines von Rotwild, die tragen nämlich keine Ohrringe. Das hier ist ein menschliches Ohr. Schlagartig wird mir klar, dass wir da drinnen im Warmen »Stein, Schere, Papier« gespielt haben, während hier draußen in der Kälte ein Mensch gestorben ist.

 

„Hey Baba, was ist hier draußen los?“, höre ich die Stimmen meiner Kinder, die im Begriff sind, den Zug zu verlassen.

„Sofort wieder rein!“ So hysterisch kenne ich mich gar nicht. Allerdings ist meine Angst vor traumatisierten Kindern so groß, dass ich die beiden nun ohne weitere Erklärungen barsch zurück in den Zug scheuche.

Erstaunlich, wie viel Licht so ein Handy erzeugen kann. Aber im Moment wäre es mir wohl lieber, wenn es nicht leuchten würde, denn was ich so nach und nach in seinem Lichtkegel zu sehen bekomme, sind Bilder, auf die ich gerne verzichten könnte. Am Abhang verteilt, finde ich immer mehr menschliche Fetzen. Als ich dicht bei den Gleisen das abgetrennte Haupt mit aufgerissenen Augen entdecke, schaff ich es gerade noch mit Mühe meinen Kopf zur Seite zu drehen, bevor sich mein Magen plätschernd über meine Füße entleert. Wieso passiert mir das auch immer wieder? Anscheinend werde ich mich nie an diese unangenehme Seite meines Berufes gewöhnen.

Benommen verwandele ich meine Taschenlampe zurück zum Mobiltelefon. In einem Automatismus rufe ich aus dem Speicher die Nummer meines jungen Kollegen Timo Gebauer auf und bestätige sie mit der grünen Taste. Obwohl sich auch Timo schon längst im Feierabend befindet, ist er noch vorm zweiten Klingeln am Telefon.

„Na Dieter, bist du noch beim Kinderpunsch oder genehmigst du dir schon einen Karlsruher Glühwein?“, trällert er fröhlich in die Leitung.

„Tttot“, beginne ich zu stottern, „zzzerfetzt“, höre ich mich noch sagen, bevor sich ein weiterer Schwall Mageninhalt vor mich ergießt.

„Langsam, Dieter, ganz langsam, was ist los bei dir?“, nun ist es meinem Kollegen nicht mehr zum Scherzen zumute.

„Vom Zug erfasst“, werden meine Sätze nun wieder länger, „vermutlich ein Farbiger. Irgendwo auf dem Bahndamm zwischen Rohrbach und Kandel.“

„Okay, Dieter, ich schicke dir die Kollegen vom Streifendienst. Beruhige dich, ich komm auch hin, okay?“

Ohne weitere Worte drücke ich den roten Knopf. Im Stockdunkeln starre ich in die Richtung, in der der Kopf liegt. In meinen Gedanken schaut er mir direkt in meine Augen. Deutlich kann ich spüren, wie der Restinhalt meines Magens sich nun wieder den Weg durch die Speiseröhre in meinen Kopf sucht. Während ich mir mit meinem Ärmel über den Mund wische, spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Auch ohne mich umzuschauen weiß ich, dass es sich um die Hand meiner Frau handelt, die mich berührt.

„Dieter, wir brauchen dich da drinnen“, sagt sie mit ruhiger, fester Stimme.

„Ich wüsste nicht, was ich drinnen tun könnte. Ich weiß nicht, was ich hier überhaupt tun könnte. Ich wollte, wir wären überhaupt nicht hier, Schatz.“ Nur mit Mühe kann ich die Tränen unterdrücken.

Da bin ich nun Dienststellenleiter und kann den Anblick einer Leiche nicht ertragen. Ich weiß nicht, wie das die Fernsehkommissare machen, die stolzieren durch den Tatort und achten dabei cool auf jedes erdenkliche Detail. Also mir geht es immer noch nahe, wenn ein Mensch sein Leben lässt. Ich sollte üben auszublenden, dass die Leichen auch ein Leben hatten. Auch dass sie sicher eine Familie hatten und vielleicht sogar Kinder hinterlassen, sollte mich keinesfalls in meiner Objektivität beeinflussen.

Das sind alles Sprüche unseres Betriebspsychologen, bei dem wir regelmäßig zur Supervision müssen. Pah, Psychologen, die haben gut reden, sitzen zu Hause am Kamin und ich habe hier die Sauerei.

„Komm, Dieter, der Lokführer sieht überhaupt nicht gut aus“, reißt Natalie mich aus meinen Gedanken, „rede du bitte einmal mit ihm.“

Hinter der verschlossenen Tür zum Fahrerstand sitzt ein großgewachsener Mann, ein Kerl wie ein Bär, um die zwei Meter hoch und sicher einhundertfünfzig Kilo schwer, würde ich sagen. Das kreidebleiche, schweißgebadete Gesicht will allerdings nicht so recht zu dem Sumoringertyp passen. Auf mein Klopfen hin reagiert er nicht. Einen Türdrücker suche ich vergeblich, was kein Wunder ist, wenn man so hört, was mancher Lokführer schon so über sich ergehen lassen musste. Da ist es ja nur logisch, dass die Tür zum Fahrerstand nur von innen zu öffnen ist. Jetzt wäre es allerdings wünschenswert, wenn ich zu dem apathisch dreinschauenden Mann vordringen könnte.

Mit lauter Stimme versuche ich ihn zum Öffnen der Tür zu bewegen. Doch noch immer starrt er auf die blutverschmierte Frontscheibe. Gut kann ich mir vorstellen, was sich in seinem Kopf abspielt. Plötzlich, wie aus dem Nichts, taucht ein menschlicher Körper aus der Dunkelheit auf, innerhalb eines Sekundenbruchteils klatscht es und du kannst dabei zuschauen, wie es den Körper in Stücke reißt. Was dieser Mann gesehen hat, möchte ich niemandem im Detail zumuten.

„Ich weiß, dass Sie schreckliche Dinge gesehen haben“, versuche ich die Flucht nach vorne, „bitte öffnen Sie die Tür, damit wir reden können.“

Irgendwie scheinen meine Bemühungen Früchte zu tragen, denn langsam, fast wie in Zeitlupe, dreht sich der stämmige Mann samt Sitz in meine Richtung. Von vorne sieht er noch schlimmer aus, als ich es vermutet hatte. Was will ich auch erwarten, schließlich hat er vor wenigen Minuten den Tod persönlich gesehen.

Ganz langsam hebt er die ebenfalls kreidebleiche, schweißnasse Hand an, um sie dann auf die Türklinke fallen zu lassen. Da sich die Tür nun öffnet, kann ich viel leiser sprechen: „Kann ich etwas für Sie tun? Die Polizei habe ich bereits verständigt.“

„Ich kann nicht mehr“, beginnt er kaum verständlich zu flüstern, „ich will nicht mehr. Das war bereits der Dritte.“ Mit diesen Worten beginnt der Kleiderschrank von einem Mann bitterlich zu weinen. Im Affekt nehme ich seinen Kopf, um ihn an meine Schulter zu betten.

Jetzt erst fällt mir der säuerliche Geruch in der Fahrerkabine auf. Beim Blick auf seine Schuhe wird mir schlagartig klar, dass auch er seinen Mageninhalt nicht bei sich behalten konnte.

Etwa zehn Minuten sind noch vergangen, bis der einsame Bahndamm zum Leben erwachte. Inzwischen suchen etwa ein Dutzend Schutzpolizisten mit Strahlern den Bahndamm ab. Sanitäter kümmern sich um die Blessuren der Fahrgäste, Fahrzeuge der Feuerwehr leuchten vom benachbarten Wirtschaftsweg den Bahnabschnitt aus und in der Fahrerkabine kümmert sich ein bahneigener Psychologe um unseren Lokführer.

Draußen sind auch zwei Reisebusse vorgefahren, um die Fahrgäste nach Karlsruhe zu bringen. Die Evakuierung findet selbstverständlich über die in Fahrtrichtung rechte, also die blutfreie Seite des Zuges statt.

Wer nun noch fehlt, ist Timo, der uns doch abholen wollte. Meine Kinder habe ich in dem Glauben gelassen, dass der Zug mit einem Wildtier zusammengestoßen wäre. Sie spielen wieder »Stein, Schere, Papier«, wobei ich beobachten kann, wie Maik seine Schwester besiegt.

„Scheiß Psychokasper!“, schreit plötzlich der Zugführer, der anscheinend wieder zu Kräften gekommen ist. „Ohne euch wäre ich inzwischen umgeschult oder pensioniert. Aber nein, ich musste ja wieder auf den Bock, so wie ein Kind, das vom Pferd gefallen ist. Ihr scheiß Fachidioten solltet euch so lange ins Führerhaus setzten, bis ihr wisst, wovon ihr redet.“

Ich kann ihn gut verstehen, auch ich werde noch lange an den Dingen zu kauen haben, die ich da draußen gesehen habe.

Nun wäre es an der Zeit, einmal was Angenehmes zu sehen, das mir auch genau in diesem Augenblick gelingt. Auf dem Wirtschaftsweg kommt der Dienstwagen von Timo gefahren, gefolgt von einem weiteren mir bekannten Auto. Es ist das Auto von Martin Schneider, einem Spurensicherer, mit dem ich seit langer Zeit befreundet bin. Zweimal habe ich schon in seinem Ferienhaus in Gossersweiler-Stein gewohnt. Aber das sind andere Geschichten. Wenige Sekunden später befinde ich mich auf dem Weg zu meinen Kollegen, um sie zu begrüßen.

„Sorry Dieter, es wurde etwas später“, begrüßt mich Timo, „ich habe in Kandel noch auf Martin gewartet, da er hier nicht besonders ortskundig ist.“

„Ja Martin“, gebe ich mich überrascht, „ich freue mich dich zu sehen, aber das ist doch kein Fall für die Spurensicherung, offensichtlich handelt es sich doch um einen Suizid.“

„Eben, mein lieber Dieter“, entgegnet mir der Martin fröhlich, „das Wort Selbstmord beinhaltet schließlich das Wort Mord und da werden wir eben automatisch verständigt. Deshalb werde ich mich auch gleich an die Arbeit machen. Wollen wir noch Pizza essen gehen, wenn ich fertig bin?“

„Nein Martin, beim besten Willen nicht. Zum ersten hat das »La Rusticana« geschlossen und zum anderen ist das, was du gleich zu sehen bekommst, alles andere als appetitanregend. Ich will nur noch mit meiner Familie nach Hause.“

„Du weißt doch, dass mir nichts den Appetit verschlagen kann, dazu habe ich schon zu viel gesehen. Aber wenn dir dein schwacher Magen zu schaffen macht, dann sei dir verziehen.“

Dies klingt zwar nicht nach einer Verabschiedung, sollte aber eine gewesen sein, denn Martin geht inzwischen mit seinem Koffer in Richtung Zug.

Also, der Weihnachtsmarkt ist nun auch passé, weshalb ich Timo darum bitte, mich und meine Familie nach Waldrohrbach, zu unserem alten Bauernhäuschen zu bringen.

„Ich hole dich morgen früh gegen halb acht ab“, sagt Timo, als er uns in unserem Hof absetzt, was ich mit einem fragenden Blick beantworte.

„Na, euer Familienvan steht nicht auf seinem Platz unter der Überdachung, was mich als Polizist sofort zu der Annahme bringt, dass dieser in Landau am Bahnhof parkt.“ Womit er auch richtig liegt.

Wir gehen ins Haus. Während Natalie mit den Kindern noch etwas spielt, bleib ich im Keller und bearbeite viel zu laut meine Gitarre, was meinem Gehör sicher weiteren Schaden zufügt, aber die Nerven beruhigt.

Besuch beim Doktor Kleinhardt

Heute, am frühen Montagmorgen, sitze ich ohne Frühstück im Bauch im Büro hinter einem Aktenberg. Timo hatte mich pünktlich abgeholt und davon überzeugt, dass mir die Abwechslung im Büro etwas gut tun würde. Einen Fall für die Mordabteilung gibt es zurzeit glücklicherweise nicht. Zumindest kann ich ja zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, dass es den eigentlich schon gibt. Aber schön der Reihe nach:

Da wir also kein Kapitalverbrechen aufklären müssen, haben wir uns der Abteilung »Organisiertes Verbrechen« zur Unterstützung angeschlossen. Die beißen sich derzeit an einer Einbruchsserie die Zähne aus. In den letzten zwei Wochen wurden im Umkreis täglich gut situierte Menschen brutalst ausgeraubt, immer nach dem gleichen Muster: Die drei vermummten Täter überfallen ihre Opfer, während diese gerade ihr Haus betreten. Einmal im Gebäude, fordern sie unter Androhung von Gewalt und mit vorgehaltener Waffe Geld und Wertgegenstände. Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, schlagen sie dann auch gerne einmal heftig zu. Einige der meist im Rentenalter befindlichen Opfer mussten sogar stationär im Krankenhaus behandelt werden. Das Fluchtfahrzeug, ein dunkelgrauer Van, wird immer erst kurz vor den Überfällen mit frisch gestohlenen Kennzeichen versehen.

Ich finde es schrecklich, mich durch einen Aktenberg zu kämpfen. Ich schreibe und lese nicht gerne, eine Buchhandlung betrete ich höchstens aus ermittlungstechnischen Gründen. Den Schreibkram im Büro erledigt glücklicherweise mein Kollege Timo. Vor ein paar Monaten wurde er dabei noch von Laura Schmitt unterstützt, die wir eigentlich immer Lara, nach der Lara Croft, aus dem Computerspiel Tomb Raider nannten. Wenn es ein lebendes Ebenbild der Computeramazone gab, dann war es Laura. Immer sportlich und figurbetont war sie gekleidet. Topfit und durchtrainiert, ohne nur ein Gramm sichtbaren Fetts. Sie hatte immer, wirklich immer, die Dienstwaffe am Körper. Ich glaube manchmal, dass sie ihre Knarre selbst unter der Dusche trug. Allerdings hatte sie zwischenzeitlich den Polizeidienst quittiert, um für die Gerechtigkeit im Dienste der Fremdenlegion zu kämpfen. Dort hat es ihr beim ersten Einsatz beide Beine abgerissen. So habe ich beim zuständigen Innenministerium Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um sie wieder in mein Team zu bekommen. Nun sitzt sie in meinem Büro an ihrem Arbeitsplatz. Ich habe auch schon einen Aufzug beantragt, um unsere Dienststelle behindertengerecht zu gestalten.

Da ich nun der Meinung bin, etwas frische Luft zu benötigen und mein Dienstwagen zu Hause im Hof parkt, beauftrage ich Timo, mich ins Städtische Klinikum zu fahren. Dort möchte ich gerne mit einem der Überfallopfer persönlich sprechen. Timo kann bei der Gelegenheit auch gleich den von mir ungeliebten Schreibkram übernehmen und Protokoll führen. Eigentlich ist ja Timo mein offizieller Vertreter und somit sollte einer von uns beiden immer im Büro präsent sein, aber in diesem Ausnahmefall übernimmt diesen Job mal Laura, denn sie kann ja aus verständlichen Gründen das Büro nur beschwerlich verlassen. Nachdem ich mit dem Opfer geredet habe, kann Timo mich ja dann auch am Landauer Bahnhof absetzen, damit ich Natalie unseren Van nach Waldrohbach bringen kann, um den Dienstwagen wieder in meine Obhut zu nehmen.

 

Aber nun geht es zuerst einmal ins Neustadter Klinikum. Dort besuchen wir Herrn Doktor Kleinhardt, der vor zwei Tagen vor seinem Haus überfallen und dann in seinem Flur niedergeschlagen wurde.

Ein sehr betagter Mann, der sich allerdings aus Eitelkeit die Haare von rechts nach links über die Kopfhaut gekämmt hat. Allzu viel Sinn macht dies allerdings nicht, da seine Tonsur durch das strähnige Haar deutlich zu erkennen ist. Sicherlich hat er sich einer privaten Krankenversicherung angeschlossen, denn er liegt im Seidenpyjama in einem Einzelzimmer.

„Guten Tag, Herr Doktor“, begrüße ich ihn so, wie es mir meine Mutter beigebracht hat. »Mein Junge«, sagte sie immer, »der Titel steht immer über dem Namen.« Glücklicherweise sagen die meisten Leute »Herr Schlempert« oder einfach »Dieter« zu mir und nicht »Herr Oberkommissar«. Aber ein »Doktor« ist schon ein besonderer Titel und so rede ich den Mann auch als solchen an: „Mein Name ist Dieter Schlempert und ich komme von der hiesigen Kriminalpolizei.“

„Ach, die Polizei ist auch schon da“, sagt er sichtlich verärgert, aber mit starker Stimme, „hat auch lange genug gedauert.“

„Entschuldigen Sie“, entschuldige ich mich, „aber wenn wir Sie nicht besuchen, heißt das ja nicht, dass wir in Ihrem Fall nicht ermitteln.“

„Na, dann will ich mal Gnade vor Recht ergehen lassen. Wie weit sind denn Ihre Ermittlungen fortgeschritten?“

„Ja, die haben sich als schwierig erwiesen. Fest steht, dass es sich um eine ganze Raubüberfallserie handelt. Die Täter lauern ihrem Opfer auf, warten ab, bis diese die Alarmanlage deaktiviert haben und schlagen dann mit äußerster Brutalität zu“, umschreibe ich den Umstand, dass wir noch absolut im Dunkeln tappen.

Da Timo inzwischen seinen Laptop hochgefahren hat, kann ich nun mit dem offiziellen Teil der Befragung beginnen.

„Herr Doktor, bitte erzählen Sie einfach, was vorgestern Abend genau passiert ist.“

„Also, ich kam gegen zwanzig Uhr nach Hause und stellte mein Auto wie immer in der Garage ab. Dann ging ich zur Tür und deaktivierte die Alarmanlage. Anschließend öffnete ich die Haustür. In diesem Moment kam eine vermummte Gestalt aus dem Heckenzaun, der den Hofbereich zum Garten hin abtrennt. Er drückte mich zur Tür hinein und zwei weitere ebenfalls vermummte Gestalten kamen hinterhergestürmt. Einer von den dreien begann gleich damit, mich mit Tritten zu attackieren und forderte die Herausgabe meiner Wertgegenstände. Nachdem ich mich weigerte, ihnen mein Hab und Gut auszuhändigen, schlug dieser mir in die Magengegend. Dann wurde es mir schwarz vor Augen. Als ich wieder zu mir kam, hatten die drei Männer schon mein ganzes Haus durchsucht und den Schmuck meiner Frau an sich genommen. Anschließend zwangen sie mich, meinen Tresor zu öffnen und nahmen auch noch mein ganzes Bargeld und das Gold, das ich als Wertanlage dort deponiert hatte, mit.“

Nun macht der Alte eine Pause, um an seinem Tee zu trinken. Timo freut sich darüber, denn mit einem solchen Redetempo, welches Herr Kleinhardt an den Tag legt, kann er beim Protokollieren kaum mitthalten.

„Ist Ihnen etwas auffallen, irgendetwas, das Sie außergewöhnlich fanden?“, versuche ich den Doktor zum Weiterreden zu verleiten.

„Außergewöhnlich? Für gewöhnlich werde ich nicht überfallen. Um genau zu sein, war dies mein erstes Mal.“

„Ich meine ja nur, vielleicht ist Ihnen ja etwas aufgefallen, ein Tattoo oder ein Dialekt oder sonst etwas?“

„Jetzt, wo Sie es sagen, der eine gab sich zwar Mühe dialektfrei zu sprechen, aber es schlug deutlich durch, dass er ein Einheimischer war, während die beiden anderen nicht einen Laut von sich gaben.“

Nun gönnt er sich wieder etwas Tee. Ich denke auch, dass wir nun hier fertig sind.

Als der Doktor bemerkt, dass wir aufbrechen wollen, sagt er noch: „Einen Moment bitte“, und schon sind wir wieder aufmerksam, „komisch fand ich auch, dass, nachdem sie wirklich nur Schmuck, Geld und Gold mitgenommen hatten, plötzlich einer der Schweigsamen auch noch den Fernsehapparat hinausgeschleppt hat.“

Nun verabschieden wir uns aber endgültig und fahren nach Landau. Nachdem ich dann zu Hause unseren Familienvan gegen den Mini ausgetauscht habe, komme auch ich wieder im Büro an.

Zuerst vergleiche ich mal die Aussage von unserem Doktor mit denen der anderen Opfer. Mir fällt dabei auf, dass überall nur einer der Täter gesprochen hat. Zwei weiteren fiel auch der Pfälzer Einfluss bei der Sprache des gewalttätigen Haupttäters auf. Und immer wieder ging ein Haushaltsgegenstand mit, hier eine Waschmaschine, da eine Küchenmaschine und so weiter. Ansonsten gleichen sich die Überfälle wie ein Ei dem anderen, immer nur Schmuck, Gold und Bargeld. Und immer nur gut situierte Senioren, die vorher anscheinend gut ausspioniert wurden.

Per Mail ist inzwischen auch der Bericht von Martin Schneider zu dem Selbstmord eingetroffen. Alles scheint so, wie ich es auch schon an Ort und Stelle vermutet hatte. Keine Auffälligkeiten, anscheinend ein ganz normaler Suizid. Was man eben bei einem Suizid normal nennt.

Sicherheitshalber rufe ich noch beim zuständigen Pathologen, dem Hansi an.

„Ach, der Dieter“, begrüßt er mich, „na, magst du ein paar Kräuterbonbons? Wenn du welche magst, dann lass ich dir gerne welche bringen.“

Ja, das mit den Bonbons ist eine alte Geschichte, die ich hier nicht aufwärmen möchte. Auf jeden Fall bekomme ich immer so einen fahlen Minzgeschmack auf der Zunge, wenn ich es mit Hansi zu tun habe.

„Behalte deine scheiß Bonbons für dich!“, blaffe ich ohne Begrüßung los, was mein Gesprächspartner mit einem schadenfrohen Lachen quittiert.

„Was kann ich denn für den Herren Oberkommissar tun?“, fragt mich der Arsch, nachdem er sich wieder beruhigt hat.

„Dir deine dummen Bonbon-Witze abgewöhnen, das kannst du für mich tun!“, lass ich ihn meine Wut spüren. „… und mir dann etwas über die Leiche von dem Bahnunglück erzählen.“

„Ach, den menschlichen Fleischsalat, den ihr mir geschickt habt? Über den gibt es nicht gerade viel zu erzählen, ein Farbiger, wahrscheinlich aus Zentralafrika stammend und sehr unterernährt. Mehr war aus dem nicht herauszuholen. Auch Papiere haben wir bei ihm keine gefunden.“

„Okay! Und was passiert nun mit ihm?“, will ich wissen.

„Das Standardprogramm, ich behalte ihn noch zwei Wochen hier in der Kühlung, falls sich noch Angehörige melden und dann gebe ich die Überreste zur Verbrennung frei.“

Na, das sind ja schöne Aussichten. Wenn sich keiner meldet, dann wirst du einfach verheizt und dienst der Fernwärme. Das hat allerdings schon seine Richtigkeit, was soll man denn sonst machen? Wir können die Toten ja schlecht behalten, da wüsste man sicher irgendwann nicht mehr wohin mit ihnen.

Da ich keine weiteren Fragen mehr habe, verabschiede ich mich von Hansi und lege wieder auf.

Nun gehe ich zum Fenster und stelle fest, dass es draußen angefangen hat zu schneien. Das versüßt doch etwas die Vorweihnachtszeit, wenn sich die Landschaft in einen weißen Mantel bettet. Während sich mein Herz erwärmt, fasse ich den Entschluss, unseren Weihnachtsmarktbesuch, der gestern ja aus bekannten Gründen ins Wasser gefallen ist, heute nachzuholen. Also mach ich schon um vier Feierabend, um meine Familie zu überraschen.