Loe raamatut: «Der schwarze Atem Gottes»
Inhalt
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
Epilog
Weitere Atlantis-Titel
Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
März 2022
Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin
Titelbild, Innengrafiken & Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Lektorat und Satz: André Piotrowski
ISBN der Printausgabe: 978-3-86402-825-0
ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-055-1
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Prolog
Der rasche und gewaltsame Untergang des fränkischen Benediktinerklosters Eberberg nahm seinen Anfang in den Abendstunden des 22. Mai im Jahre des Herrn 1599.
Abt Odilo von Braunfels saß auf seinem hochlehnigen, mit reichem Schnitzwerk verzierten Stuhl im Kapitelsaal. Er biss sich auf die Unterlippe und warf einen kurzen Blick durch das spitzbogige, klarverglaste Fenster hinaus auf die das Kloster im Osten umgebenden Felder und den dunklen Tannenwald, der sich in der Ferne anschloss und der auf den Abt wie eine Mauer wirkte, hinter der sich die Welt in Chaos und Verwirrung verlor. Die Sonne war bereits untergegangen; sanfte Abenddämmerung legte sich über die reglosen Felder und den finsteren Wald. Es wurde zunehmend schwieriger, nach draußen zu schauen, denn die vielen Fackeln, die in Halterungen an den Wänden des Kapitelsaals blakten, spiegelten sich in dem hohen Fenster; ihre Flammen zuckten über Wald und Tal und schufen so den Eindruck, als vergehe das Gebiet jenseits der Klostermauern in einem alles verzehrenden Weltenbrand.
Abt Odilo wandte den Blick von diesem beunruhigenden Bild ab und schaute ängstlich vor sich. Er war nicht allein in dem fast quadratischen Kapitelsaal. Auf den Steinbänken, die an den drei übrigen Wänden entlang verliefen, saß der gesamte Konvent, der wie gackernde Hühner hier zusammengetrieben worden war. Die Gesichter der Mönche waren rot vom Widerschein der Fackeln, der ihre Augen zu feurigen Spiegeln und ihre vor Furcht offen stehenden Münder zu Schlünden der Hölle machte. Sie alle starrten auf die einzelne, massive Säule, die sich in der Mitte des Saales erhob und das fein gearbeitete Kreuzrippengewölbe trug, das sich mit seiner Sternbemalung wie der Himmel selbst über dem Konvent erhob. Doch heute hatte dieser Himmel nichts Tröstliches an sich. Auch er stand in Flammen. In Schattenflammen.
Um die reich kannelierte Säule mit ihrem dicken Schaft hatten sich Gestalten versammelt, die nur ein Auswurf der Hölle sein konnten. Sie waren zerlumpt, und das Feuer in ihren Augen loderte im Wettstreit mit den vielen Fackeln an den Wänden. In den Händen hielten sie Messer, Dolche und Schwerter, deren Klingen im zuckenden Licht gleißten und glitzerten.
Unter diesen Dämonen stand aufrecht und mit in die Hüften gestemmten Fäusten ein Mann, der wie ein Diamant inmitten eines noch glimmenden Aschenhaufens wirkte. Er trug ein Wams aus glänzender roter Seide, das nach neuester Mode geschlitzt und mit schwarzem Samt unterlegt war, sodass es die Schatten und die Flammen aufnahm und den eleganten Mann wie ein Feuerwesen wirken ließ, wie einen der sagenhaften Salamander, denen keine noch so große Hitze etwas anhaben konnte.
Der Mann lächelte. Seine schwarzen Augen funkelten, und er kraulte sich den sorgfältig geschnittenen Vollbart. Er nickte kurz, wie um den Abt zum Reden aufzufordern; dabei wippte die ausladende Pfauenfeder an seinem pelzbesetzten Barett aufreizend hin und her.
»Nein, das kann ich nicht«, sagte Abt Odilo schließlich und griff mit seiner fleischigen Hand nach dem goldenen Kreuz, das ihm vor der Brust baumelte. Er spielte mit dem dünnen Querbalken, wie er es immer tat, wenn er eine Entscheidung treffen musste, die ihm zuwider war.
»Ich verstehe Euch nicht, ehrwürdiger Vater«, sagte der Mann und blickte geradezu erstaunt und enttäuscht aus seinen dunklen Augen, die jede Sekunde einen anderen Ausdruck anzunehmen schienen: einmal boshaft, dann wieder sanft, doch sofort darauf zornig, danach belustigt und manchmal all das zugleich. »Was habt Ihr denn davon, wenn Ihr es mir verheimlicht?«
»Ich rechte nicht mit dir, Satan«, erwiderte der Abt leise; es klang, als müsse er seine ganze Kraft und seinen ganzen Mut zusammennehmen, um überhaupt ein Wort sagen zu können. Jetzt hielt er das Kreuz auf seiner Brust so fest gepackt, dass die Knöchel seiner fetten Hand weiß aus dem rosigen Fleisch hervorstachen.
»Satan?« Der Mann lachte. Seine Bande fiel krächzend und rau in dieses Gelächter ein. So musste sich das Lachen der Hölle anhören. »Zu viel der Ehre.« Der Mann richtete sich noch etwas mehr auf. Er war größer als die meisten seiner Genossen, aber seine Dürre ließ ihn nicht sehr imposant erscheinen. Es war die reiche, vornehme Kleidung, die seine majestätische Wirkung ausmachte, nicht der in ihr verschwindende Körper. Er hob die Hand, und als hätte man den rauen Buben allesamt im selben Augenblick die Kehle durchgeschnitten, herrschte absolute Ruhe.
»Entspricht es Eurem Verständnis von christlicher Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft, einem armen Sünder den löblichsten Wunsch, den er in seinem verworfenen Leben je gehegt hat, abzulehnen und ihn im wahrsten Sinne des Wortes zum Teufel zu jagen? Was will ich denn mehr als eine Unterredung mit dem heiligmäßigen Pater Hilarius, auf dass er meine Seele auf den rechten Weg führe und die drängendsten Fragen, die mein elendes Dasein quälen, beantworte?«
Der Abt gab sich einen Ruck. »Der heiligmäßige Pater Hilarius ist in einer Mission unterwegs, die ihn frühestens in einer Woche zurück in unser geliebtes Kloster führt.« Seine Worte klangen nun fester und bestimmter. Er ließ das Kreuz vor seiner Brust los.
»So lange kann ich nicht warten.«
»Dann kann ich nichts für dich tun.«
»Oh doch, das könnt Ihr. Wenn Ihr mir sagt, wo ich Pater Hilarius finde, wäre uns allen geholfen.«
»Dir wäre geholfen, willst du damit wohl sagen.« Der Abt wollte sich ablenken und versuchte noch einmal, aus dem hohen Spitzbogenfenster zu schauen, doch draußen war es bereits so dunkel, dass er dort nichts mehr erkennen konnte. Er sah im Widerschein der Fackeln das Innere des Kapitelsaals und seine Mitbrüder, die noch immer reglos auf die Eindringlinge starrten und zu befürchten schienen, dass sie sogleich unter Blitz und Donner geradewegs in die Hölle entführt würden.
Der Mann ergriff wieder das Wort. »Ich sehe, dass wir uns im Kreis bewegen. Mir scheint, Ihr benötigt einen Ansporn, um Eure Zunge zu lösen. In Ermangelung eines guten Tropfens werden wir wohl auf ein anderes Mittelchen verfallen müssen. Hütlein!«
Einer der Verlotterten löste sich aus der Gruppe; es war ein mittelgroßer Kerl mit leeren Augen, braunem, verfilztem Haar, einem zerschlissenen Lederwams und einem riesigen Schwert, das beinahe so groß war wie er selbst. Er stürmte auf die ihm am nächsten gelegene Steinbank zu und packte wahllos einen der Mönche am Arm. Der Mönch quiekte auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wollte um sich schlagen, doch als der Bandit mit erstaunlicher Leichtigkeit sein Schwert hob, war der Geistliche sofort still. Widerstandslos ließ er sich neben den Anführer der Bande ziehen.
»Sehr schön«, sagte dieser. »Wen haben wir denn da?«
Der Mönch brachte keinen Laut hervor.
»Ich frage dich noch einmal, Bruder: Wie heißt du?«
»Das ist Pater Hieronymus«, antwortete der Abt schnell für seinen Mitbruder. Unwillkürlich kroch seine Hand erneut auf das große Goldkreuz über seinem Bauch zu.
»Falsch!«, zischte der Anführer. »Das war Bruder Hieronymus.«
Hütlein holte weit aus und schlug mit infernalischer Kraft auf den bedauernswerten Mönch ein. Der Hieb spaltete ihm den Schädel. Graue Hirnmasse spritzte aus den beiden auseinanderklaffenden Hälften hervor und platschte auf den Steinfußboden vor dem Stuhl des Abtes. Das Schwert blieb zwischen den Schulterblättern stecken. Hütlein zog es mit einem heftigen Ruck heraus. Die Mönche kreischten auf.
»Vielleicht haben wir jetzt eine bessere Grundlage für unser Gespräch gefunden«, sagte der Anführer mit eisiger Kälte in der Stimme. Er lächelte.
Der Abt wollte etwas sagen, doch mehr als ein atemloses Krächzen brachte er nicht hervor.
»Nun, gut, wie ich sehe, reicht Euch der Beweis meiner Entschlossenheit noch nicht aus. Hütlein!«
Und wieder stürmte der Mordgeselle auf dieselbe Bank zu, doch diesmal machte er sich nicht mehr die Mühe, einen der Mönche auf die Beine zu zerren. Er stach einfach mit seinem gewaltigen Schwert auf einen der Fratres ein. Der Getroffene sackte zusammen. Hütlein zog das blutige Schwert aus ihm hervor, drehte sich kurz nach seinem Herrn und Meister um und hieb dann dem unglücklichen Nachbarn des durchbohrten Mönchs den Kopf mit einem einzigen Streich von den Schultern. Das abgeschlagene Haupt, dessen Augen in ungläubigem Entsetzen aufgerissen waren, polterte mit einem abscheulich dumpfen Geräusch zu Boden.
»Halt ein!«, rief Odilo so laut er konnte. »Ich sage dir, wo Pater Hilarius ist.« Sollte sich dieser doch mit dem Dämonenhaufen herumschlagen; schließlich war er geübt darin. Der Abt wollte nur noch die versammelten Mitbrüder schützen – und sich selbst.
»Warum denn nicht gleich so?«, fragte der Anführer belustigt.
»Er ist mit den Brüdern Suitbertus und Martin nach Volkach gereist, wo er in seiner Eigenschaft als unfehlbarer Hexenschnüffler an einem Zaubereiprozess teilnimmt. Hüte dich vor ihm, wenn du auf ihn triffst. Ihn wirst du nicht so leicht besiegen. Möge die Hölle dich verschlingen.« Erst jetzt spürte Odilo den Schmerz in seiner rechten Hand und bemerkte, dass er die Querbalken seines Brustkreuzes zerbrochen hatte; sie hatten sich in das weiche Fleisch gebohrt und pressten große Blutrubine aus ihm hervor.
»Ich danke Euch für dieses aufschlussreiche und überaus angenehme Gespräch, ehrwürdiger Vater, und auch für Eure wohlgemeinte Warnung. Ich hoffe, dass Ihr nun begreift, wie dumm Eure anfängliche Weigerung war, deren Folgen Ihr Euch selbst zuzuschreiben habt. Da ich annehme, dass Ihr mit dieser Schmach und Sünde nicht mehr weiterleben wollt, werde ich Euch die Gefälligkeit erweisen, Euch und Eure erbarmungswürdigen Brüder vom Antlitz dieser Erde zu tilgen. Möge Euer schwacher Gott Euch aufnehmen – wenn er kann.« Er drehte sich um und verließ den Kapitelsaal.
Seine dämonischen Schergen machten sich mit Feuereifer an die blutige Arbeit. Danach legten sie an verschiedenen Stellen der Abtei Brände, die die Nacht zum Tag machten.
Nun verging das Kloster selbst in einem alles verzehrenden Weltenbrand.
1. Kapitel
»Was glaubt Ihr, Pater Hilarius«, fragte Bruder Martin, während er sich noch eine Scheibe von dem dicken Brotlaib abschnitt, der zwischen zwei zusammengerollten Würsten auf dem blank gescheuerten Holztisch lag, »wird der schändliche Zauberer sein gottloses Werk freiwillig gestehen?« Er kaute abwechselnd an dem Brot und dem Wurstzipfel, den er neben seinem Weinbecher zurechtgelegt hatte, und spülte mit dem leicht herben, verdünnten Wein nach.
»Dann könnte er vielleicht noch seine Seele retten«, mischte sich Bruder Suitbertus ein, der neben Martin saß und sich gleichermaßen dem Morgenschmaus ergeben hatte. Von seinen Fingern tropfte das Wurstfett, das er sich mit einer kleinen Brotkante abwischte. Danach verschlang er rasch das glänzende Brot.
»Diese verstockte Bande gesteht nie etwas«, erwiderte Pater Hilarius, der den beiden jungen Mönchen gegenübersaß und kaum etwas von dem Frühstück angerührt hatte. »Und ob sich Gott seiner armen, irregeleiteten Seele gnädig erweisen wird, kann niemand wissen. Ich für meinen Teil hoffe, dass dieser Ketzer und Hexer auf ewig in der Hölle schmoren wird.« In seinen Augen brannte ein seltsames Feuer.
Bruder Martin fragte sich nicht zum ersten Mal, warum der im Rufe der Heiligkeit stehende Pater Hilarius kaum je etwas aß und doch einen so gewaltigen Leibesumfang hatte. Sein langes Gesicht mit den großen Pferdezähnen war zwar in der Tat eingefallen und hager und erinnerte Martin an das eines Geiers, doch seine schwarze Kutte wölbte sich über einem beträchtlichen Bauch, der es seinem Träger kaum möglich machte, nahe genug an den Tisch heranzurücken, um bequem essen zu können.
Plötzlich rammte ihm Bruder Suitbertus den Ellbogen in die Seite und deutete mit einer weiteren Brotkrume in die Mitte des zu dieser Tageszeit noch beinahe leeren Schankraumes. Dort stand die junge Magd des Wirtes vor einem der Tische, wischte ihn mit einem dreckigen Lappen ab und beugte sich dabei so tief in die Richtung der Mönche, dass der Ausschnitt ihres einfachen, etwas zerknitterten Kleides Ausblicke preisgab, an die der arme Bruder Martin noch nicht gewöhnt war. Es war seine erste längere Abwesenheit aus dem Kloster Eberberg, und die neue Welt, in die er nun hineingeraten war, verwirrte ihn noch sehr.
»Ein hübsches Früchtchen«, zischte Suitbertus, der zwar ein Jahr jünger als Martin war, jedoch auf Botengängen bereits häufiger die Klostermauern hinter sich gelassen hatte.
»Aber mein Bruder«, flüsterte Martin atemlos zurück, »du hegst doch wohl nicht etwa unkeusche Gedanken?«
»Weißt du überhaupt, was unkeusche Gedanken sind?«, gab der andere grinsend zurück.
Die Magd richtete sich wieder auf und lächelte die Mönche an. Martin spürte, wie er rot im Gesicht wurde. Er richtete den Blick ganz fest auf Pater Hilarius und versuchte sich abzulenken. »Wird es gefährlich für uns sein?«, fragte er den Pater.
»Nicht, wenn ihr genau das tut, was ich euch sage«, gab er zur Antwort. »Ihr werdet einen Blick in den Abgrund der Hölle werfen, aber ich bin ja bei euch. Schluckt herunter; wir müssen gehen.«
Suitbertus steckte noch schnell ein Wurststück unter seine Kutte. »Wegzehrung«, flüsterte er.
Pater Hilarius stand langsam auf; sein enormer Bauch wippte hinter der Tischkante hervor und verblüffte Martin ein weiteres Mal. So ähnlich stellte er sich den heiligen Thomas von Aquin, den Doctor Angelicus vor, für den man damals sogar eine Ausbuchtung in den Refektoriumstisch geschnitten hatte, doch das Gesicht des Paters Hilarius wollte einfach nicht zum Rest seiner Erscheinung passen. Natürlich, der Pater hatte schon schreckliche Dinge gesehen und mehr als einmal mit den Mächten der Hölle gekämpft, was ihn beträchtlich älter aussehen ließ als die zweiundfünfzig Jahre, die er zählte, aber es war etwas an ihm, das Martin einfach nicht verstand. Als der Pater ihn vor Kurzem zu seinem Gesellen im wichtigen und gefährlichen Handwerk der Hexenschnüffelei bestimmt hatte, war ihm gar nicht wohl gewesen, auch wenn er den älteren Mönch fast wie einen Heiligen verehrte und der Umgang mit ihm eine hohe Auszeichnung war, um die ihn viele seiner Mitbrüder beneideten. Doch Martin konnte nicht verleugnen, dass er Angst hatte. Angst vor dem, was der heutige Tag bringen würde.
Und Angst vor Pater Hilarius.
Auf dem Weg zum Rathaus, in dem der Zauberer gefangen saß und verhört werden sollte, kamen die drei Mönche am Marktplatz des kleinen Städtchens vorbei. Noch nie hatte Martin ein solch buntes Treiben gesehen. All die Karren, Stände, Waren, das Geschrei der Verkäufer, die umhertollenden Kinder, die Gerüche von Obst, Gemüse und Fischen, die Laute der frei herumlaufenden Schweine, der eingepferchten Lämmer und der gackernden Hühner erfreuten und verwirrten ihn zugleich.
Als sie gestern in Volkach angekommen waren, hatte das Städtchen schon in tiefem Schlaf gelegen, und es war gar nicht einfach gewesen, durch das Tor hineingelassen zu werden. Alles hatte so ruhig gewirkt, so tot. Jetzt dagegen war das Leben mit all seinem Lärm, seiner Buntheit und seinen Aufregungen zurückgekehrt.
Zu lange hatte Martin hinter Klostermauern gesessen, zu lange hatte er die Welt nicht mehr gesehen. Schon als kleines Kind war er von seinen Eltern an der Pforte abgegeben worden, weil sie ihn nicht mehr hatten ernähren können; er hatte sie nie wiedergesehen. So war das Kloster ihm Vater und Mutter geworden, und über der Betrachtung Gottes hatte er die Betrachtung der Welt völlig vergessen. Daher war er froh, als sie endlich in den Laubengang des Rathauses traten und Hilarius gegen das schwere Portal pochte.
Es wurde von einem Büttel geöffnet, der die Geistlichen offenbar schon erwartet hatte. Mit einem tiefen Diener verbeugte er sich vor ihnen und ließ sie wortlos in die hohe Halle eintreten, die Martin an den Kapitelsaal seines Klosters erinnerte. Er bemerkte, dass er sich bereits heftig nach Eberberg zurücksehnte. Dort war die Welt so überschaubar und klar gefügt.
Der Büttel führte die drei Mönche über eine breite Treppe in einen großen Saal, an dessen Stirnwand ein langer Tisch stand. Vor ihm kauerte einsam und verloren wirkend ein einzelner Stuhl wie ein Büßer vor den Augen des Gerechten.
Martin sah sich kurz um. Die Decke bestand aus altersgeschwärzten Balken; an der dem Tisch gegenüberliegenden Wand befand sich ein gleichermaßen geschwärzter, riesiger Kamin, und in den Boden war ein verschlungenes, stark abgetretenes Intarsienmuster eingelassen.
»Der Richter und die Schöffen sowie der Notar werden bald eintreffen«, sagte der Büttel mit einer lächerlich hohen, näselnden Stimme, die beinahe unter der Wichtigkeit der Worte zerquetscht wurde. »Wenn Eure Ehrwürdigkeiten bitte hier Platz nehmen möchten …« Er wies ihnen die drei Außenplätze an der Fensterfront zu.
Zuerst setzte sich Pater Hilarius; er nahm den Stuhl, der sich der Mitte am nächsten befand; ihm folgte wie selbstverständlich Bruder Suitbertus, und für Martin blieb der Außenplatz übrig. Er ließ sich mit einem leisen Seufzer auf dem knarrenden, altersschwachen Stuhl nieder. Gern hätte er einen Blick aus den Fenstern geworfen, die dem Lärm nach zu urteilen auf den Marktplatz hinausgingen, aber ihre grünen Butzen waren so uneben, dass er kaum mehr als Schemen hinter ihnen erkennen konnte.
Jetzt trat das Hohe Gericht ein: ein Richter, der einen pelzbesetzten Umhang trug, welchen er auch im Raum nicht ablegte, vier Schöffen, die keineswegs den hehren Vorstellungen entsprachen, die sich Martin von einem Gericht gemacht hatte, und ein Notar mit einem staubigen Wams und fadenscheiniger Hose, deren Stoff an den Knien schon sehr dünn geworden war. Unter dem Arm trug er einen Stoß unbeschriebenes Papier sowie ein Aktenfaszikel, und in der rechten Hand hielt er einen Gänsekiel wie einen Dolch nach vorn auf einen unsichtbaren Feind gerichtet. Er sah niemanden an und steuerte sofort auf den äußersten Platz am rechten Ende des Tisches zu. Dort breitete er seine Schreibgeräte aus, schob die Akten in die Mitte des Tisches, spitzte dann geräuschvoll den Kiel und holte aus den Tiefen seines Umhangs ein kleines Tintenfass hervor, das er lautstark auf der Tischplatte abstellte.
Der Richter begrüßte die Mönche förmlich, aber nicht ohne Ehrerbietung; Martin bemerkte, dass die Motten viele kleine Löcher in dessen Umhang gefressen hatten. Die Schöffen hingegen nickten der Geistlichkeit nur kurz zu.
»Ungehobelte Tölpel«, zischte Bruder Suitbertus, »die niedrigsten ihrer Zunft. Und so etwas spricht Recht! Pah!« Er beugte sich ein wenig nach vorn, zog die aus dem Wirtshaus mitgebrachte Wurst unter seiner Kutte hervor und biss ein Stück ab. Sofort setzte sich ein Lächeln auf seinen kauenden Mund.
Dann wurde der Beschuldigte von zwei mit kurzen Lanzen bewaffneten Bütteln hereingeführt. Martin betrachtete ihn aufmerksam und ängstlich zugleich. Es war ein kleiner, dicklicher Mann mit einer Halbglatze, sodass er beinahe wie ein tonsurierter Mönch aussah. Er steckte in einer härenen, grauen Kutte, die ihm bis fast zu den Füßen reichte. Seine Hände waren hinter dem Rücken mit einem groben Strick zusammengebunden. Der Gefangene zuckte mit den Schultern, als wolle er seine Fesseln etwas lockern, damit sie ihm nicht so sehr ins Fleisch schnitten. Er wurde unsanft auf den Stuhl gesetzt, der unter ihm ächzte und knackte. In seinen Augen lag Angst.
Als Martin den besorgten Blick des Gefangenen auf sich ruhen spürte, sah er verlegen fort. War das etwa ein gefährlicher Zauberer, der den Heerscharen der Hölle gebieten konnte? Martin hatte sich ein völlig anderes Bild von ihm gemacht – ein dämonischeres.
Das Verhör begann. Zunächst wurde der Mann nach seinem Namen gefragt. Der Notar schrieb ihn eifrig nieder. Dann ging der Richter auf die Vorwürfe der Zauberei ein, die dem Angeklagten zur Last gelegt wurden:
»Gestehst du, dass du der Meierin die Kuh auf zauberische Weise leer gesaugt hast?«
»Ich gestehe nicht«, antwortete der vermeintliche Zauberer leise. Martin warf einen seitlichen Blick auf Pater Hilarius. Dieser starrte den kleinen Mann an, als wolle er ihn durch die Macht seines priesterlichen Blickes versengen.
»Gestehst du, dass du das Kind der Schmidtlin getötet hast, als du bei ihr warst und Brot von ihr gekauft hast?«
»Ich gestehe nicht.« Jetzt klang es schon fester.
»Gestehst du, dass …«
Martin hörte bereits nicht mehr zu. Sein Blick glitt wieder zu den grünen Butzenscheiben und den Schemen dahinter. So langweilig hatte er sich einen Zaubereiprozess nicht vorgestellt. Welche absurde Angst hatte er doch vor diesem Verfahren gehegt, aber wenn er ganz ehrlich zu sich war, so war diese Angst in gewisser Weise auch erregend gewesen. Nun aber schien alles auf einmal so durchschnittlich und unwichtig zu sein. Seine Gedanken schweiften ab. Wie gierig Bruder Suitbertus nach der drallen Magd in der Schänke gestarrt hatte … das war widerlich gewesen.
»… gestehe nicht.« Jetzt hörte es sich bereits beiläufig an.
Plötzlich sprang Pater Hilarius auf. Sein Bauch schaukelte über der Tischkante. »Es ist genug!«, donnerte er. Der Angeklagte fuhr zusammen. »Dieser Wicht wird hier nichts gestehen! Die Befragung ist unsinnig. Auf die Folter mit ihm! Wir wollen doch einmal sehen, ob die zupackenden Daumenschrauben seine Zunge nicht zu lösen vermögen! Und das Streckbrett! Und die Spanischen Stiefel!« Er stützte sich mit den Händen auf der Tischplatte ab. Sein merkwürdig schmales, verhärmtes und faltiges Gesicht war hochrot geworden.
»Gemach, gemach«, wiegelte der Richter ab. »Wir müssen uns an die Regeln halten. Und das Gesetz schreibt vor, den Angeklagten zuerst mit seiner Anklage bekannt zu machen, wie Ihr sehr genau wisst. Wir sind noch nicht fertig.«
Pater Hilarius wandte sich dem Richter zu. »Glaubt Ihr etwa, dass er auch nur ein einziges Mal eine andere Antwort geben wird? Der böse Feind flüstert ihm immer nur diese drei Worte ein. Vertraut auf meine Erfahrungen; schließlich habt Ihr mich nach Eurem Gutdünken beigezogen.«
»Ich werde mich an Euch wenden, sobald ich Eurer Hilfe bedarf«, sagte der Richter. Eiseskälte schwang in seiner Stimme mit. Dann fuhr er mit dem Katalog der Beschuldigungen fort. Erst als der letzte Punkt verlesen war und der Angeklagte zum letzten Mal »Ich gestehe nicht« gesagt hatte, stand der Richter auf und verkündete: »Hiermit ordne ich die peinliche Befragung des Angeklagten an. Man bringe ihn in die Folterkammer.«
Die beiden Büttel ergriffen den kleinen Mann, zogen ihn vom Stuhl hoch und zerrten ihn mit sich aus dem dunklen Saal. Das Gericht erhob sich, und auch Pater Hilarius war bereits aufgestanden.
Martin sah ein letztes Mal zu den grünen Butzenfenstern hinüber. Er zuckte zusammen.
Ihm war, als habe er einen riesigen, schwarzen Schemen hinter ihnen gesehen. Und ihm war, als höre er ein fernes, böses Lachen.
Fackeln brannten an den Wänden des unterirdischen Gewölbes. Martin war noch nie in einem solch unheimlichen Raum gewesen. Natürlich gab es auch im Kloster finstere Keller, in deren Schatten es raschelte und huschte, doch hier herrschte eine völlig andere Atmosphäre. Hier waren es nicht die ungewissen Dinge, die Furcht erweckten, sondern die gewissen, die klar und deutlich zu sehenden: das Streckbrett, der Folterstuhl mit den unzähligen Nägeln auf der Sitzfläche, die unscheinbare Rolle an der Decke, über die das Seil gelegt war, an dem der Angeklagte nun mit noch immer auf den Rücken gebundenen Händen hochgezogen hing, sodass es ihm die Schultern auskugelte, die vielen Bein- und Daumenschrauben, die noch auf ihren Einsatz warteten, die säuberlich auf einem kleinen Tisch neben der Tür aufgereihten Mundbirnen in verschiedenen Größen und einige Instrumente, deren Gebrauch er nicht aus den Erklärungen erraten konnte, die ihm Pater Hilarius bereits im Kloster gegeben hatte.
Dem Angeklagten, an dessen Namen sich Martin schon nicht mehr erinnerte, waren die Marterinstrumente gezeigt worden, aber auch das hatte ihn nicht zum Reden gebracht. Daraufhin hatte Pater Hilarius angeordnet, dass er aufgezogen werden sollte. Man hatte ihm einen schweren Steinklotz an die Beine gebunden, und jetzt zerrten die beiden Büttel heftig an dem Seil, das dem Zauberer die Arme hinter dem Rücken hochriss. Der Nachrichter, dem die Folterung eigentlich oblag, stand stumm und mit finsterer Miene daneben. Er mochte es offensichtlich nicht, wenn man sich in seinen Aufgabenbereich einmischte.
Die Schreie des Zauberers waren markerschütternd.
»Gestehst du nun endlich deine Schandtaten?«, rief Pater Hilarius. Um ihn herum standen der Richter und die Schöffen. Der Notar hielt sich etwas abseits. Es gab kein Geständnis, das er hätte aufschreiben können. Außer den Schreien gab der Angeklagte nichts von sich. Pater Hilarius wandte sich Bruder Martin zu und murmelte: »Der Teufel hat ihn verstockt.«
»Man muss ihm nur noch ein paar Gewichte an die Beine hängen«, brummte der Nachrichter und überkreuzte die Arme vor dem ausladenden Brustkorb.
»Nehmt ihn ab«, befahl der Pater stattdessen. Der Nachrichter zog ein grimmiges Gesicht, machte aber keine Einwände.
Die Büttel ließen das Seil gleichzeitig los, sodass der Zauberer mit einem heftigen Schlag auf den Boden prallte. Sein Schreien ging in ein Röcheln über.
Pater Hilarius kniete sich neben ihn und sagte: »Du solltest jetzt besser gestehen, denn auf der nächsten Folter wirst du dich nach der vergangenen zurücksehnen wie nach einem lauen Sommerabend.« Martin sah, wie der gekrümmt am Boden liegende Mann den Kopf schüttelte.
Dann wurde er auf den Nagelstuhl gesetzt, und gleichzeitig legte man ihm Bein- und Daumenschrauben an. Blut quoll unter den Fingernägeln und aus den Schienbeinen hervor. Er schrie, wimmerte, heulte, aber er sagte noch immer nichts.
Erst als alle Schrauben ein weiteres Mal angezogen wurden, rief der Angeklagte: »Halt! Ich gestehe!«
Sofort befahl Pater Hilarius den Schergen, die Schrauben zu lösen und den Zauberer auf einen gewöhnlichen Stuhl zu setzen. Dann stellte er sich vor den Geschundenen und fragte: »Bist du nun bereit, deine schändlichen Taten zur höheren Ehre Gottes zu gestehen?«
»Du sagst es. Zur höheren Ehre Gottes«, keuchte der Mann. »Alles habe ich zur höheren Ehre Gottes getan.«
Pater Hilarius sprang auf. »Besudele nicht den Namen des Allmächtigen!«, schrie er außer sich vor Wut. »Willst du etwa behaupten, dass du mit deinen schändlichen Zaubereien Gott dienen wolltest? Das ist Blasphemie!«
»Nein«, stöhnte der Zauberer. »Ich gestehe, dass ich Zauberei getrieben und die Mächte der Finsternis angerufen habe. Doch es ist nur zu einem guten Zweck geschehen.« Er krümmte sich vor Schmerzen auf dem Stuhl zusammen.
»Weißt du nicht, dass es ein schreckliches Verbrechen ist, mit bösen Mitteln Gutes tun zu wollen?«, sagte Pater Hilarius, der seine Wut wieder unter Kontrolle gebracht hatte.
»Wenn der Himmel schweigt, muss man die Hölle befragen, um die Welt zu retten.«
»Um die Welt zu retten? Hat dir die Folter etwa auch das Hirn ausgerenkt?«
»Die Apokalypse …« Weiter kam der Zauberer nicht mehr. Er fiel von dem Stuhl herunter und geradewegs vor die Füße des Paters. Martin, der neben ihm stand, wollte einen Schritt zurückweichen, doch Hilarius packte ihn mit erschreckender Schnelligkeit am Arm und hielt ihn fest. »Schau genau hin«, zischte er seinem jungen Gehilfen zu. »So sieht ein Geschöpf der Finsternis aus.«
Die Büttel hoben den Mann auf und setzten ihn wieder auf den Stuhl. Hilarius kniete sich, wobei ihm sein Bauch beträchtliche Schwierigkeiten machte, und brachte sein langes, geierhaftes Gesicht nahe an das des Zauberers heran. »Was meinst du mit der Apokalypse?«, fragte er und packte den Mann bei den rundlichen Wangen.
Der Zauberer schaute Pater Hilarius an. In seinem Blick lagen Angst und Erschöpfung. »Der Untergang …«, sagte er leise.
»Genauer«, forderte der Geistliche.