Loe raamatut: «Sentry - Die Jack Schilt Saga»

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Michael Thiele

Sentry - Die Jack Schilt Saga

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Inhaltsverzeichnis

Titel

01 OFFENBARUNG

02 VERGANGENHEIT

03 SCHWARZE TRÄNEN

04 AUFBRUCH

05 TETHYS

06 VAN DIEN

07 ERGELAD

08 SKELETTFLUSS

09 LAVONIA

10 HYPERION

11 AVALEA

12 JANTABURY

13 ANGMASSAB

14 KELLSWATER

15 KELVIN

16 ICHTHYON

17 ALLEIN

18 DUNKELHEIT

19 UHLEB

20 AR-NHIM

21 WASSER

22 SENTRY

23 TRIASSISCHER SEE

24 ITHRA

25 OPREJU

26 SOKWA

27 CALDERA

28 FENNOSARMATIA

29 MITHANKOR

30 TAORSEE

31 FEUERINSEL

32 VERRAT

33 CANTRELL

34 ROB

35 GHAIA

36 DAS LETZTE DUELL

37 SCHWANENGESANG

38 TAURINACHT

39 FREMDES LAND

40 DER KREIS SCHLIESST SICH

41 DER LETZTE SEINER ART?

Anhang

Impressum neobooks

01 OFFENBARUNG

Wir waren schon in viele Stürme geraten und hatten alle miteinander mehr oder weniger gut gemeistert. Doch diesmal war es anders. Die wütende See schien sich zum Ziel gesetzt zu haben, uns hier und heute für all die glücklichen Male, die wir sie überlistet hatten, abzustrafen. Meterhohe Wellen türmten sich um uns auf, ein nicht enden wollender Ablauf von kochenden Wogen, die den Untergang des kleinen Fischerbootes wollten. Rob und ich kämpften mit Händen und Füßen dagegen an, bis endlich das Steuerruder brach und wir uns hilflos der üblen Laune des Ozeans ausgesetzt sahen. Das Entsetzen im Gesicht meines älteren Bruders schreckte mich mehr als die entfesselten Elemente. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn je ratloser gesehen zu haben.

Wie hatte es nur so weit kommen können?

Mit den Gesetzen der See vertraut, wussten wir um die Vorzeichen eines Wetterumsturzes. Auch heute Mittag noch, als wir die Fanggründe in der Nähe der Tiefen Rinne zwischen den Inseln Radan und Auckland erreichten und die Netze auswarfen, hätte ich Eide auf bestes Wetter bis in die späten Abendstunden geschworen. Nur so ist es zu erklären, dass wir uns ein Mittagsschläfchen im Schatten des leise im lauen Wind schaukelnden Sonnensegels gönnten. Ein Schläfchen, das jäh endete, als jenes Segel auf uns herabfiel. Eine Bö hatte es in Teile gerissen. Wir sprangen auf die Füße und warfen überraschte Blicke nach Nordwesten. Eine bedrohlich dunkle Wolkenfront tauchte den Horizont in tiefes Schwarz. Das Meer verhielt sich gemessen an dem, was da heraufzog, noch verhältnismäßig ruhig und gelassen.

Noch.

Wir konnten nicht lange geschlafen haben, vielleicht eine oder anderthalb Stunden. Doch die Welt um uns herum hatte sich in dieser kurzen Zeitspanne dramatisch verändert.

Hastig holten wir die Netze ein, was sich als nicht ganz einfach erwies, denn zu allem Überfluss hatte sich ein großer Auregu in den Maschen verfangen. Auregus zählen zu den weniger geschätzten Überraschungen im Netz eines Fischers. Nicht weil ihr Fleisch ungenießbar ist, im Gegenteil, doch Geschenke dieser Art nimmt man lieber mit der Angel an, als sie mühsam aus dem Netz zu schneiden. Die langen Widerhaken an den Brustflossen dieses Meeresbewohners sind geradezu prädestiniert, sich hoffnungslos im Netz zu verheddern. Vor allem dann, wenn der Fisch in Panik geraten versucht, mit ruckartigen Bewegungen zu entkommen. So mancher unerfahrene Jungfischer hat seine ersten unangenehm schmerzvollen Erfahrungen dabei gemacht, einen Auregu zu befreien, um das Netz zu schonen. Eine durchaus verständliche Reaktion, jedoch ein Fehler, den man nur einmal begeht. Die tückischen Stacheln bleiben mit Vorliebe tief in der Haut stecken. Die Wunden entzünden sich in den meisten Fällen, heilen schwer ab und hinterlassen unvergessliche Narben.

„Es kommt Sturm auf“, erinnerte ich meinen Bruder, der eifrig begonnen hatte, Masche um Masche aufzutrennen, um sich des unliebsamen Fanges zu entledigen. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich das Netz einfach ins Boot gezogen, mit dem Auregu darin oder nicht. Rob setzte offensichtlich andere Prioritäten. Kein Wunder, immerhin handelte es sich bei dem Fangnetz um eine seiner letzten Arbeiten, an der er mehrere Wochen gesessen hatte. Verständlicherweise wollte er den Schaden so gering wie möglich halten.

Ich kümmerte mich also um das zweite Netz, holte es so schnell es alleine ging ein und nahm dabei keine Rücksicht auf die gefangenen Fische, die darin zappelten. Ich wollte so rasch wie möglich zurück. Ein ausgewachsenes Unwetter auf offener See konnte unserem kleinen Boot gefährlich werden, und ich verspürte nicht die geringste Lust, seine Belastbarkeit auszutesten. Während Rob nun doch laut fluchend das geliebte neue Netz zerschnitt, setzte ich das Hauptsegel und brachte den Kahn in den immer stärker werdenden Wind. Wir nahmen zügig Fahrt auf, doch selbst bei diesem Wind würden wir gute zwei Stunden benötigen, um Stoney Creek zu erreichen.

„Vielleicht zieht das Unwetter an uns vorbei“, mutmaßte Rob, der den herausgeschnittenen Auregu mitsamt den unbrauchbar gewordenen Teilen des Netzes achtlos über Bord warf.

„Was tust du denn?“ Einen Auregu dieser Größe einfach so aufzugeben, wollte ich nicht verstehen, Sturm hin oder her.

„Eine Gefahrenquelle weniger“, erklärte Rob trocken. „Wer weiß, was da auf uns zukommt. Ich übernehme!“ Er nahm mir das Steuerruder aus der Hand und änderte unverzüglich und kommentarlos den Kurs in westliche Richtung und damit auf Radan zu. Ich ärgerte mich, nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen zu sein.

Die Wolkenfront hatte uns inzwischen spielend eingeholt. Wir begruben alle Hoffnungen, ungeschoren davonzukommen. Erste heftige, erstaunlich kalte Böen erreichten uns, welche das Segel auf eine arge Zerreißprobe stellten. Wir zogen wärmende Kleidung über und hofften auf einen guten Ausgang. Das Boot schipperte über die immer stärker werdende Dünung in Richtung Westen auf Radan zu. Bei guter Sicht hätte die Insel bereits in Sichtweite sein müssen, doch verbarg sie sich vor unseren Augen hinter einem düsteren Horizont, der keine Rettung versprach.

Rob hielt das Steuer umklammert, während ich das gereffte Segel im Auge behielt, bereit, es gänzlich einzuholen, sollte der Wind noch an Kraft zulegen.

Und das tat er.

Eine mächtige Bö ergriff uns. Mit garstigem, höhnisch klingendem Knall, nicht unähnlich dem einer Peitsche, riss das Segel entzwei, welches wie ein entfesseltes Gespenst wild flatternd um sich zu schlagen begann.

„Segel einholen!“ rief Rob.

Der Wind heulte inzwischen so laut, ich vernahm seine Stimme nur noch wie durch einen Schleier. Er zerrte an seinen Worten und entführte sie aufs Meer hinaus, bevor sie mein Ohr erreichten.

Mit flinken, tausendfach geübten Handgriffen begann ich die Fetzen einzuholen, die einmal unser Segel gewesen waren. Ein neuerlicher Windstoß riss sie mir mit unheimlicher Gewalt und mitsamt der Takelung aus den Händen. Innerhalb weniger Augenblicke war unser einst seetüchtiges Boot schwer beschädigt und am Rande der Manövrierunfähigkeit. Seewasser wogte überall herein.

Die rasante Fahrt über Wellenkämme und hinunter in immer tiefere Täler nahm unerträgliche Ausmaße an. Ich spürte Übelkeit aufkommen und schauderte bei dem Gedanken, gegen Todesangst und Brechreiz gleichzeitig ankämpfen zu müssen.

Rob tat sein bestes, uns vor dem Kentern zu bewahren. Mit aller Kraft hing er am Ruder, riss es mal nach backbord, mal nach steuerbord. Das geschundene Boot tanzte eigensinnig wie eine tollwütige Ballerina auf und ab und hin und her, rotierte dabei um seine eigene Achse, drohte mehrmals umzuschlagen, richtete sich ächzend und stöhnend wieder auf, schluckte immer mehr Wasser und raste auch schon den nächsten Kamm hinauf.

Meine ermüdenden Arme schöpften unaufhörlich Wasser aus dem volllaufenden Kahn. Zeitgleich mit dem ersten ohrenbetäubenden Donnerschlag verlor ich den Kampf gegen den rebellierenden Magen und fing hemmungslos an zu kotzen, was mir trotz der körperlichen Anstrengung wie eine Befreiung vorkam. Das heftige Schaukeln des um sein Leben kämpfenden Bootes wollte jedoch so gar nicht im Rhythmus der Schüttelkrämpfe ablaufen, die mich im Griff hielten, und als ich mit der Stirn gegen den Bootsrand prallte, wurde mir schwarz vor Augen. Eine Sekunde lang dachte ich, ich verlöre die Besinnung. Hinter meiner Schädeldecke explodierte ein ganzes Farbenmeer. Ich spürte den eigenen Pulsschlag mit der Wucht eines Hammerwerks durchs Gehirn jagen. Robs resignierenden Aufschrei, der mit dem Bersten des Ruders einherging, bekam ich nur noch am Rande mit. Krampfhaft hielt ich mich am Bootsrand fest, um nicht über Bord gespült zu werden. Eines war mir trotz meines angeschlagenen Zustands äußerst klar: keine fünf Minuten würde ich in der aufgewühlten See überdauern. Festhalten hieß die Devise und das war auch alles, auf was ich mich noch zu konzentrieren in der Lage war.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich mich festklammerte, mir die Frage stellte, wie viel Zeit es noch dauern konnte, bis das Boot auseinanderbrach und versank, als es plötzlich mit unerwartetem Ruck zum Stillstand kam. Den Halt verlierend schrie ich auf und stürzte mit dem Kopf voran in die erzürnte See. Augenblicklich ergriff mich starker Sog. Wie Treibgut wurde ich nach allen Seiten hin und her geworfen und spürte plötzlich Sandboden unter meinem gebeutelten Körper.

Prustend kam ich zum Stillstand, spie Salzwasser und Erbrochenes aus, und versuchte mich instinktiv auf allen Vieren krabbelnd aus der Gefahrenzone zu bringen.

Wir waren gestrandet, womöglich auf Radan.

Die Angst, von der Strömung erfasst und aufs Meer hinaus gezerrt zu werden, verlieh mir neue Kräfte. Wie ein Seehund fern seines natürlichen Elements robbte ich die Küste hinauf, kam endlich auf die Füße und rannte los. Doch die Brandung holte mich spielend ein. Mit Urgewalt packte sie zu, fegte mich von den Füßen, schleuderte und schleifte mich mit sich. Jede Sekunde erwartete ich gegen Felsen zu schlagen und schützte den Kopf so gut wie unter diesen Umständen möglich mit beiden Armen. Als sich das Wasser zurückzog fand ich mich halb eingegraben im Sand wieder. Schwer atmend nahm ich die letzten Reserven zusammen und kroch umständlich weiter, nur weg, nur raus aus dem Brandungsbereich. In meinem Schädel dröhnte und hämmerte es.

Mir fiel mein Bruder ein. Für einen kurzen Moment zögerte ich, hin und her gerissen von der Angst um das eigene und Robs Leben, arbeitete mich dann aber weiter und kämpfte mich erneut auf die Füße. Der Orkan zerrte wie besessen an meinem Körper, fest entschlossen mich wieder zu Boden zu werfen, wo ich seiner Meinung nach hingehörte. Entschieden rang ich dagegen an und wagte endlich einen ersten Blick über die Schulter die Küste hinunter. Ich befand mich bereits außerhalb der Reichweite der zusammenfallenden Wellenberge und stolperte noch ein Stück weiter, bis meine Beine den Dienst versagten und ich mit dem Gesicht voran in nassem, eisig kaltem Sand landete.

Angeschlagen blieb ich liegen.

Aus Tausenden Kübeln ergoss sich Regen. Ich setzte mich auf, wandte den Kopf um und versuchte vergeblich durch den Niederschlag zu spähen. Es war unmöglich. Der dichte Vorhang des Regens nahm mir jegliche Sicht. Vehement überkam mich die Angst um meinen Bruder. Wie hilflos ich mich fühlte! Tränen der Hoffnungslosigkeit und des Schmerzes rannen aus den Augen und verloren sich in Sturzbächen aus Regenwasser.

Mit schon schwindender Energie sprang ich auf und schrie Robs Namen anklagend in Richtung Meer. Dann gingen sämtliche Lichter aus. Mein ausgelaugter Körper hatte kapituliert, ich kippte nach hinten weg und verlor das Bewusstsein.

In einer veränderten Welt kam ich wieder zu mir. Zögernd schlug ich die Augen auf und blinzelte mehrmals bevor ich es wagte, den heftig pulsierenden Schädel erst nach rechts und dann nach links zu neigen.

Okay, ich lebte.

Mit diesen Kopfschmerzen musste man noch unter den Lebenden weilen.

Mit zitternden Händen tastete ich meinen Kopf ab und berührte Stoff. Jemand hatte mir allem Anschein nach einen Verband angelegt. Auf die Ellenbogen gestützt blickte ich mich in der Höhle um. Sie war nicht sonderlich geräumig, bot aber genügend Schutz vor der sengenden Sonne, die draußen wieder das Regiment übernommen hatte. Das blendende Licht, das in die Höhle drang, schmerzte in den Augen und verstärkte das Pochen unter der Schädeldecke. Neben mir erspähte ich die Reste eines Hemdes.

Robs Hemd.

„Rob?“ Ich erkannte meine eigene Stimme nicht wieder. „Rob, wo bist du?“

Keine Antwort.

Ich setzte mich auf. Da es besser ging als erwartet, wagte ich mich auf die Beine. Zwar nahmen die Kopfschmerzen sofort an Intensität zu, doch sie ignorierend machte ich erste unsichere Schritte und trat vor die Höhle hinaus ins Freie. Die Xyn, die gute alte Sonne, stand bereits tief und tauchte die Welt in goldenes Licht. Vor mir lag das spiegelglatte Meer. Nichts erinnerte an das Unwetter, das hier vor kurzem noch getobt hatte. Nach einigen weiteren Schritten drehte sich mir der Kopf und ich sah mich gezwungen, den Stamm einer willkommenen Palme als Stütze anzunehmen.

Dann vernahm ich die Stimme meines Bruders.

„Bist du wieder unter den Lebenden?“ Vor mir stand ein lächelnder, kerngesunder Robert Schilt. Keine Schramme, keine Blessur war in seinem tief gebräunten Gesicht oder sonst irgendwo am von der Sonne gegerbten Körper auszumachen, der nur noch in einem alten Paar zerschlissener Hosen steckte.

Wieder einmal stellte ich fest, wie verblüffend ähnlich wir uns sahen. Manchmal war mir so, als blickte ich in den Spiegel, wenn ich sein Gesicht dicht vor meinem gewahrte. Er war drei Jahre älter und sah mit seinen beinahe dreißig Lenzen reifer und erwachsener aus als ich, aber dies war natürlich eine rein subjektive Ansicht. In Stoney Creek konnte man uns schon als Kinder nur schwer voneinander unterscheiden. Natürlich war Rob als der Ältere auch immer der Größere gewesen und neben ihm verriet mich stets mein geringerer Wuchs. Tatsächlich sollte ich ihn später einmal einholen und sogar um wenige Zentimeter überragen. Ich mochte vielleicht ein paar Haaresbreiten größer sein als er, dafür verfügte Rob über kräftigeren Körperbau. Er glich seine geringere Körpergröße durch breitere Schultern aus, ein für das ungeübte Auge durchaus markantes Unterscheidungsmerkmal.

Rob reichte mir einen hölzernen Becher.

„Hier, trink! Du hast bestimmt Durst.“

Erst jetzt bemerkte ich, wie Recht er hatte, ergriff das Gefäß und trank. Das Wasser war kühl und süß, und mir verlangte sogleich nach mehr. Rob ging in die Knie und schöpfte aus einem alten Holzeimer nach. Eimer und Becher waren keine Unbekannten. Das letzte Mal hatte ich beide in unserem Boot gesehen.

„Du hast es also auch geschafft. Und in deutlich besserer Verfassung als ich“, sagte ich endlich. Die Erleichterung darüber war mir vielleicht nicht anzuhören, aber in unserer Kommunikation spielten die für Außenstehende nur schwer wahrnehmbaren Untertöne eine wichtige Rolle. Und Rob bekam sehr wohl mit, welch tonnenschwere Last mir von der Brust fiel.

Er grinste. „In deinem Alter habe ich mich auch noch ungeschickt benommen. Da machen wir ‘ne kleine Bootsfahrt, als hätten wir noch nie eine gemacht, und der erste Luftzug weht Brüderchen über Bord. Und wie sieht er aus, wenn ich ihn wieder finde? Er liegt halb eingegraben und bewusstlos im Schlamm, hat ein Loch im Kopf und spielt toter Mann.“ Der Ton in seiner Stimme veränderte sich dramatisch. „Ich bin vor Angst um dich fast gestorben. Als wir strandeten warst du plötzlich verschwunden. Ich bin verrückt geworden vor Sorge.“

„Als das Boot auf Grund lief bin ich in hohem Bogen über Bord geflogen“, erinnerte ich mich vage und schauderte beim Gedanken an das Geschehene.

„Das habe ich sehr wohl mitbekommen. Die Brandung riss dich sofort weg, du warst einfach nicht mehr zu sehen.“ Dann berichtete er, wie eine der nächsten Wellen das Boot umgeworfen hatte. „Ich schwamm um mein Leben, versuchte, mich aus der Strömung zu befreien. Irgendwann muss es mir gelungen sein, auf jeden Fall spülte mich ein enormer Brecher den Strand hinauf. Da lag ich nun, du warst fort, das Boot ebenso, und um mich herum herrschte das heftigste Unwetter meines Lebens. Ich hätte heulen können. Ich schrie wieder und wieder deinen Namen. Und dann hörte ich dich rufen. Nur einmal, aber es reichte. Ich lief in die Richtung, aus der dein Ruf kam, und fand dich. Nun ja, den Rest kannst du dir denken. Ich habe dich hochgenommen und uns diese Höhle hier gefunden. Sie bot immerhin Schutz gegen den Regen.“ Rob betrachtete mich prüfend. „Wie geht es dir? Du musst mit dem Kopf irgendwo gegengeschlagen sein. Zum Glück ist es nur eine Platzwunde. Weißt du übrigens, dass du einen Tag und zwei Nächte durchgeschlafen hast?“

Diese Tatsache verwunderte mich in der Tat. Mit allen zehn Fingern betastete ich die verpackte Wunde, als könnte ich ihre Ausmaße unter dem Stoff spüren. „Hämmert noch immer ganz schön. Ich bin mit dem Kopf gegen den Bootsrand geknallt. War kein angenehmes Gefühl.“

„Bestimmt nicht. Übrigens habe ich das Boot wieder gefunden. Es liegt ein ganzes Stück den Strand hinunter. Ziemlich lädiert, aber noch schwimmfähig. Teile des Masts, an dem noch immer die Fetzen des Segels hängen, sind auch angetrieben worden. Alles reparabel. Bei dieser ruhigen See können wir bald zurückkehren. Wir sitzen hier also nicht für alle Ewigkeiten fest.“

Das waren gute Neuigkeiten.

„Sind wir auf Radan?“ fragte ich.

„Mit absoluter Sicherheit. Wir hatten wirklich verdammtes Glück. Besser, du schonst dich noch etwas.“

Ich kehrte also wie geheißen in den angenehm kühlen Schatten der Höhle zurück, während sich Rob daran machte, unseren Kahn wieder schwimmfähig zu machen.

Meine Gedanken wanderten im Kreis. Was mochte unser Vater nur denken? Er machte sich bestimmt schreckliche Sorgen um seine beiden Söhne. Mir lag daran, so schnell wie möglich die Heimreise anzutreten, aber wir saßen hier erst einmal fest. Ich hoffte inständig, bereits morgen in der Lage zu sein, Rob tatkräftig bei der Reparatur des Bootes zu helfen. Im Augenblick sah ich mich außerstande auch nur den Strand hinunter zu laufen, geschweige denn irgendwelche handwerklichen Tätigkeiten aufzunehmen.

Mit einem Mal wurde die ganze Höhle bis in den letzten Winkel in goldenes Licht getaucht. Die Sonne war tiefer gesunken und schickte ihre letzten Strahlen durch den Höhleneingang.

Was sich nun ereignete, sollte nicht nur mein Leben sondern das Leben aller Menschen Gondwanas für immer verändern. Manchmal frage ich mich heute noch, Ewigkeiten später, was geschehen wäre, hätte ich die Entdeckung, die ich drauf und dran war zu machen, schlichtweg nicht gemacht. Ein bewölkter Horizont hätte gereicht, um die Sonnenstrahlen daran zu hindern, mir etwas zu zeigen, was vielleicht besser für alle Zeiten verborgen geblieben wäre. Ich hätte auch nur einfach einschlafen und die wenigen Augenblicke des enthüllenden Lichts versäumen können. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wäre es weder mir noch Rob in den Sinn gekommen, die Höhle genauer in Augenschein zu nehmen. Warum auch? Wir hätten vielleicht noch eine oder zwei Nächte in ihr verbracht, bevor wir wieder aufgebrochen wären, um nie wieder zurück zu kommen. Heute weiß ich, es hat so sein müssen. Die Zeit war reif gewesen. Nein, es war kein Zufall, am 33. April des Jahres 621 nach Beginn der menschlichen Zeitrechnung auf Gondwana diesen Fund gemacht zu haben. Ob die Ermeskul ihre nicht vorhandenen Finger dabei im Spiel hatten, sei dahingestellt. Im Rückblick tendiere ich zu dieser Theorie.

Ein Stück der hinteren Höhlenwand, die von meinem Ruhelager so aussah, als bestünde sie aus Reihen aufgeschichteter Steine, erregte meine Neugierde. Jene letzten Sonnenstrahlen fielen so günstig darauf, ich wurde regelrecht gezwungen, sie zu bemerken. Meine Augen konzentrierten sich sogleich auf diese unerwartete Entdeckung. Nein, es handelte sich um keine natürliche Erscheinung, dieser Haufen Steine war von welcher Hand auch immer irgendwann aufgetürmt worden.

Jetzt war meine Wissbegier geweckt. Doch gerade als ich mich erheben wollte, um der Sache auf den Grund zu gehen, ging der magische Moment vorüber. Die Sonne versank und zog ihr verräterisches Licht aus der Höhle ab. Als hätte jemand die einzige Kerze ausgeblasen, wurde es dunkel. Ich erstarrte in der Bewegung, meine Augen immer noch auf die Stelle fixiert, über die sich wieder der Mantel der Finsternis ausgebreitet hatte.

Doch war es zu spät.

Ich hatte gesehen, was ich gesehen hatte.

Das Wissen, auf etwas Ungewöhnliches gestoßen zu sein, auf etwas, das einfach nicht hierher gehörte, ließ mich fortan nicht mehr los. Was mochte sich hinter der steinernen Mauer befinden? Radan war, soweit ich es wusste, nie von Menschen besiedelt worden; besucht ja, lag die Insel doch direkt vor der Haustür Avenors und damit im unmittelbaren Einzugsbereich von Stoney Creek. Womöglich waren Rob und ich nicht die ersten, die diese Kaverne vorübergehend als Behausung nutzten. Durchaus denkbar, dass es vorher schon Menschen hierher verschlagen hatte. Es juckte mich, ins Dunkle hineinzukriechen, aufs Geratewohl zu versuchen, die steinerne Mauer mit den Händen zu ertasten. Doch ich blieb liegen. Ich wollte erst meinem Bruder davon berichten.

Rob kehrte erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück. Ebrod, der größere der beiden Monde Gondwanas, war inzwischen in seiner ganzen Pracht über dem Meer aufgezogen. Sein mystisches Licht tauchte die noch junge Nacht in geheimnisvoll blauen Glanz. Wenig bekam ich davon mit. Innerhalb der Höhle war es schon längst stockdunkel.

„Jack! Schläfst du? Bist du hungrig?“

„Wie ein Tier.“

„Ich befürchte, es gibt nicht viel. Steht dir der Sinn nach Tichinas?“

„Nicht unbedingt. Aber besser als ein weiterer Schlag auf den Kopf.“ Ich stand auf und schwankte nach draußen. Erleichtert stellte ich fest, das Schwindelgefühl bereits wieder im Griff zu haben. Rob saß eingehüllt in Mondlicht vor dem Höhleneingang und schnitt Tichinas auf.

„Geht es dir besser? Was macht das Köpfchen?“ erkundigte er sich. „Setz dich! Du musst etwas zu dir nehmen.“

Artig nahm ich neben ihm Platz. Mein Bruder reichte mir eine geschälte Tichina, die ich protestierend entgegennahm.

„Du musst mich nicht füttern! Ich bin ja kein Krüppel.“

Rob überging die Bemerkung.

„Ich war hinter einem jungen Moa her, aber leider hatte ich kein Glück. Sonst gäbe es jetzt einen Festschmaus.“

Der Gedanke an das saftige Fleisch eines am offenen Feuer gebratenen Moas ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Stattdessen mussten wir uns mit leicht faulig schmeckenden Tichinas zufrieden geben, die aufgrund ihres faserigen Fleisches nicht gerade zu meinem bevorzugten Obst zählen. Sogar in reifem Zustand schmecken sie einfach zu bitter. Süße Bodisaven wären mir eindeutig lieber gewesen.

Eine Tichina zu schälen bedeutet nicht gerade wenig Arbeit, sitzt ihre Schale doch fest am Fruchtfleisch, besonders bei noch etwas unreifen Exemplaren. Zudem lohnt die Mühe nicht sonderlich. Das größte an Tichinas ist ihr riesiger Kern, der beinahe die gesamte Frucht ausmacht. Dennoch war ich dankbar, überhaupt etwas in den knurrenden Magen zu bekommen und beschwerte mich nicht weiter. Nachdenklich kaute ich auf der Frucht herum. Was mochte sich hinter den aufgeschichteten Steinen befinden? Ich brannte darauf, Rob davon zu erzählen.

„Das Segel ist in schlechterem Zustand als ich annahm“, erzählte mein Bruder. Seine Stimme klang aber zuversichtlich. „Wir haben zwar nichts hier, um es zu flicken, aber ich denke, es wird auch so gehen. Wir müssen uns eben mit stark verminderter Segelfläche auf den Weg machen.“

Ich konnte es nicht länger zurückhalten.

„Ich hatte Gelegenheit, die Höhle genauer zu untersuchen, Rob.“

Der kaute ohne aufzusehen unbeeindruckt weiter. „Und?“

„Im hinteren Teil befindet sich ein Wall aus aufgeschichteten Steinen. Ungewöhnlich, nicht wahr? Leider wurde es zu dunkel, bevor ich mir das ganze genauer ansehen konnte.“

Rob hielt inne.

„In der Tat kurios“, fand er. „Gemauert?“

„Ich weiß es nicht. Sah so aus.“

„Wir können es ja morgen bei Tageslicht einmal ansehen.“ Damit war das Thema für ihn erledigt und er widmete seine ganze Aufmerksamkeit wieder den Tichinas. Mit etwas Abstand betrachtet glaubte auch ich nicht mehr an etwas Besonderes im Zusammenhang mit meiner Entdeckung.

Wie sehr ich mich täuschen sollte.

Am nächsten Morgen machten wir uns daran, meine Entdeckung genauer unter die Lupe zu nehmen. Es drang genug Helligkeit ein, um den größten Teil der Höhle mit Licht zu fluten. Das Mauerwerk jedoch war raffiniert angelegt worden. Es lag im Schatten einer vorspringenden Felsnase, die es vor neugierigen Blicken schützte. Selbst jetzt, direkt davor stehend, war es kaum auszumachen.

„In der Tat faszinierend“, sagte Rob. „Es ist tatsächlich gemauert. Allerdings nicht sehr fachmännisch, wenn du mich fragst.“ Er tastete die mannshohe, etwa zwei Körperlängen breite steinerne Wand mit den Händen ab. Ich tat es ihm gleich. Der Mörtel zwischen den Steinen stand teilweise fingerdick hervor und bröckelte uns bei der leisesten Berührung entgegen. „Diese Wand ist in Eile hochgezogen worden. Und nicht erst gestern.“

„Auch nicht erst vorgestern. Diese Arbeiten hier wurden vor langer Zeit verrichtet. Das erinnert mich an die Überreste von Van Dien. Erinnerst du dich an die Jahrhunderte alten Ruinen? Die Reste der Grundmauern waren in so schlechtem Zustand, man konnte sie mit dem kleinen Finger zum Einsturz bringen. Beinahe so wie hier.“

Rob nickte.

„Du hast Recht, Jack. Diese Mauer ist uralt.“

Wir wechselten gespannte Blicke. Trotz des schlechten Lichts sah ich Robs Augen funkeln. Auch seine Neugier war geweckt, und wenn etwas nicht zu unterdrücken war, dann sie.

„Wir brauchen mehr Licht.“ Ohne weitere Worte stand für mich fest, die Mauer abzutragen, auf welche Weise auch immer. Und ich wusste genau, Rob war meiner Meinung.

„Wir haben kein Licht“, erwiderte mein Bruder mit aufkommender Ungeduld in der Stimme. „Unsere Fackeln und Kerzen liegen auf dem Meeresgrund. Wie auch immer, wir werden diese Wand erst einmal einreißen, dann sehen wir weiter. Sieht ohnehin nicht mehr sonderlich stabil aus. Ein paar Tritte genügen unter Umständen. Geh ein Stück zurück! Es könnte sein, dass das Teil nicht zusammenbricht sondern im Ganzen umkippt.“

Typisch Rob! Natürlich übernahm er sofort das Kommando und drängte mich in die Rolle des Zuschauers. Ich wollte widersprechen, besann mich aber eines anderen und trat wie verlangt ein paar Schritte zurück. Womöglich war es besser, ihm den Vortritt zu lassen. Ich war noch angeschlagen und körperliche Arbeit mit Sicherheit nicht die richtige Rezeptur zu schnellstmöglicher Genesung.

Rob machte sich sofort an die Arbeit. Zunächst versetzte er der maroden Wand einen gezielten Tritt, der sie erzittern ließ. Teile des protestierenden Mauerwerks bröckelten ab. Auch klang es, als hätten erste Steine begonnen, sich aus ihrer Verankerung zu lösen.

„Die widersteht nicht lange“, kommentierte er seinen ersten Versuch. „Ein paar weitere Tritte müssten das übrige tun.“

Und so war es auch. Nach vier weiteren Gewaltakten gegen das spröde alte Mauerwerk, stürzte es ohne jede weitere Vorwarnung in sich zusammen. Rob hatte bereits zum nächsten Schlag angesetzt, als er die Bewegung in der einstürzenden Mauer wahrnahm und stattdessen einen Satz nach hinten machte. Mit letztem dumpfem Ächzen kollabierte die Jahrhunderte alte Arbeit. Das Zusammenstürzen der vielen Steine nahm nur wenige Augenblicke in Anspruch und verursachte dabei überraschend wenig Lärm. Unangenehmer war da schon die Staubwolke, die sich explosionsartig in der ganzen Höhle ausbreitete und uns hustend nach draußen zwang.

Rob grinste mich triumphierend an. „Na, wie habe ich das gemacht?“

„Wie ein echter Fachmann. Ich dachte die ganze Höhle stürzt über unseren Köpfen ein.“

„Jetzt müssen wir nur noch warten, bis sich der Staub etwas gesetzt hat. Dann werden wir sehen.“

Endlos lange Minuten verstrichen, bevor wir uns erneut in das Innere der Höhle wagten. Die Luft flimmerte von Tausenden herumfliegender Partikel. Das Mauerwerk war in der Mitte zusammengestürzt. Zu beiden Seiten standen die stark in Mitleidenschaft gezogenen Restwände. Zu unseren Füßen dagegen lagen die traurigen Trümmer. Sie stellten kein Hindernis mehr dar. Der Blick war frei auf ein gähnendes schwarzes Loch im Fels. Wir spähten hinein, konnten aber nichts erkennen. Das vor uns liegende Gewölbe schien auch nicht allzu tief zu sein, womöglich war unsere ganze Mühe umsonst gewesen und es befand sich rein gar nichts darin. Eine Kerze hätte jetzt Wunder bewirkt, doch wir hatten keine. Uns blieb keine Wahl. Wir mussten auf unseren Tastsinn vertrauen.

„Ich gehe rein“, sagte ich kurz entschlossen und schlüpfte, bevor Rob noch etwas einwenden konnte, durch die Öffnung. Etwas zu übereilt, denn prompt stolperte ich über im Dunkel verborgene Mauerreste und schlug der Länge nach hin. Robs höhnisches Gelächter schmerzte mehr als das aufgeschlagene Knie.

Mit beiden Händen untersuchte ich, worauf ich gefallen war. Es fühlte sich weich und krümelig an wie ein Haufen vermodernder Holzpflöcke und klapperte hohl unter meinen forschenden Fingern. Unheimlicher Verdacht beschlich mich, welcher sich schnell bestätigte.