Loe raamatut: «Luise und Leopold»
Impressum
Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
Mit weiteren Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt: Fürsorge-, Wohlfahrts- und Kulturstiftung der Bürgergemeinde Zug, Hürlimann-Wyss Stiftung Zug, Ulrico Hoepli-Stiftung
Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Umschlagbild
Die Geschwister Luise und Leopold um 1900.
Lektorat
Rachel Camina, Hier und Jetzt
Gestaltung und Satz
Naima Schalcher, Zürich
Bildbearbeitung
Benjamin Roffler, Hier und Jetzt
Druck und Bindung
Eberl & Kœsel GmbH & Co. KG, Altusried
Dank an
Nicola Behrens
Otmar Elsener
Thomas Glauser
Simone Koller
Isabelle Marcon
Bruno Meier
Christoph Mijnssen
Michaela Prinzinger
Brigitte Schmid
Denise Schmid
Pia Schubiger
Nadine Schwald
Judith Stadlin
Josef Strickler
Karmela Wigger
Harry Ziegler
Margrith Zobrist
Michael van Orsouw ist Schriftsteller und promovierter Historiker. Schon in «Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz» (2019) paarte er Faktentreue mit erzählerischer Leichtfüssigkeit und vermittelte royale Inhalte auf höchst unterhaltsame Weise.
ISBN Druckausgabe 978-3-03919-533-6
ISBN E-Book 978-3-03919-981-5
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
© 2021 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Zürich, Schweiz
Das kann unmöglich ein Schauspieler sein.
Zwar trägt der Mann einen makellos weissen Tropenanzug, aber er befindet sich nicht auf Safari.
Sondern mitten in Berlin.
Er stakst so ungelenk über die Bühne, als hätte er noch nie zuvor eine Theaterrolle gespielt.
Er ist der Neuling auf der Bühne, der Anfänger, obwohl er ergraut und bestimmt schon fünfzig Jahre alt ist. Trotz aller Unbedarftheit hat ein renommiertes Blatt gerade ihn als den «Gipfel aller Sensation» angekündigt.
Weil er so unbegabt ist?
Weil sich hier einer zur Belustigung des Publikums zur Schau stellt?
Der peinlich wirkende Darsteller mobilisiert die Massen. Er sagt im Stück nicht viel mehr als «Bitt’ schön, meinerseits, ganz meinerseits!». Doch das genügt schon, um verlegen zu wirken.
So wenig.
Und das Publikum tobt.
Die eine Hälfte lacht.
Die andere Hälfte schämt sich für ihn.
Das Stück «Hoheit kehrt wieder!» hat auf der Berliner Kabarettbühne Die Rakete den «Gipfel» erklommen. Wir schreiben das Jahr 1921, Krieg und Krise sind überstanden, Berlin will sich auf rund 180 Kabarettbühnen und in den Varietétheatern amüsieren. Angesichts dieser sehr lebendigen Berliner Kleinkunstszene hat das Prädikat «Gipfel aller Sensation» grosses Gewicht, gerade wenn es vom Berliner Brettl-Brief stammt.
Denn der Brettl-Brief spiegelt wöchentlich die deutsche Kabarettszene, liefert Informationen, giesst aber auch viel Häme und Spott über die Welt der Berliner Bühnen, allseits «Brettl» genannt. Das Lob für die «Rakete» bezieht sich darauf, was Theaterdirektor Siegbert Wreschinski mit grossen Lettern im elektrisch beleuchteten Schaukasten vor dem Theater annonciert hat: das Stück «Hoheit kehrt wieder!» – veredelt mit dem exklusiven Bühnenauftritt «Seiner Hoheit». Wirklich beispiellos für die halbseidene Varietészene.
Der neue Bühnenstar ist niemand anders als eine europäische Hoheit höchstpersönlich, nämlich der «Kaiserliche Prinz und Erzherzog von Österreich, Königlicher Prinz von Ungarn und Böhmen, Grossherzog von Toskana und Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies». In halb Europa bekannt und berüchtigt, sorgt er unter seinem bürgerlichen Namen Leopold Wölfling immer wieder für Furore und Schlagzeilen.
Mit der vollmundigen Ankündigung hat der geschäftstüchtige Wreschinski, der «Kabarettkönig von Berlin», für einmal mit keinem Wort übertrieben: Denn der angepriesene Adlige tritt wirklich in der «Rakete» auf, in diesem kleinen, schummrigen Kabarettlokal, das hinter dem bekannten Kurfürstendamm in einer Seitenstrasse liegt.
Ein echter Royal in einem solchen Etablissement? Dort, wo zuvor der Skandalstar Anita Berber mit wilden Nackttänzen von sich reden gemacht hat?
Das sieht nach einem tiefen Fall des kaiserlichen Prinzen aus. Und das ist es auch.
Was das Ganze noch schlimmer macht: Der Adlige Leopold spielt nicht im Kabarett mit, weil er sich neu orientiert und auf eine ernsthafte Karriere als Schauspieler aspiriert.
Nein. Er gehorcht der Not.
Er braucht dringend die Auftrittsgage.
Deshalb ist es einerlei, wie schlecht er spielt.
Hauptsache, das Publikum strömt ins Varietétheater.
Leopold Wölfling, der ehemalige Erzherzog Leopold Ferdinand, ist zwei Mal geschieden und hat mit seiner Familie gebrochen; er sitzt dermassen in der Bredouille, dass er sich für Geld sogar zum Affen macht.
Er bietet ein erbärmliches Schauspiel als Revuestar. Drei Österreicherinnen senken nach der Vorstellung nur noch ihre Köpfe und weinen. So sehr schämen sie sich für den Habsburger.
Auch Leopolds Schwester Luise, ehemalige Herzogin von Habsburg-Toskana und Kronprinzessin von Sachsen, geht sehr emotional durchs Leben und heult viel. Während ihr Bruder in der Berliner Tingeltangel-Szene seine peinlichen Auftritte absolviert, wohnt sie zurückgezogen in einem Vorort von Brüssel, an der Avenue des Klauwaerts 19 in Ixelles. Sie ist 51-jährig, geht aber vornübergebeugt wie eine Achtzigjährige und versteckt ihr Gesicht hinter grossen Hüten mit breiten Krempen.
Die vorzeitig gealterte Frau hat viel Pech gehabt in ihrem Leben; und wie ihr Bruder ist sie bereits zwei Mal geschieden. Sieben Kinder brachte sie zur Welt, zu denen sie kaum Kontakt hat. Das erfüllt sie mit grosser Trauer und lässt sie immer wieder wegträumen.
Die älteren sechs Kinder, die sie mit dem letzten Sachsenkönig, Friedrich August III. hat, wuchsen ohne sie beim Vater und am Hof in Dresden auf; jetzt wohnen sie in ganz Deutschland verteilt. Der jüngste Sohn, den sie mit dem italienischen Musiker und Komponisten Enrico Toselli gezeugt hat, lebt ebenfalls weit entfernt von ihr. Er ist bei seinem Vater in Italien gross geworden und lebt jetzt in Florenz.
Zeitlebens war die einstige Prinzessin von einem grossen Hofstaat mit Bediensteten, Banketten und von edlen Festen umgeben; nun darbt sie in einem bescheidenen Reihenhaus mit einer einzigen Angestellten, die ihr die Treue hält.
Zwar gibt es in Luises Wohngemeinde Ixelles eine Prachtsallee mit dem Namen Avenue Louise. Doch diese Paradestrasse wurde nicht nach ihr benannt, sondern nach Prinzessin Louise, der Tochter König Leopolds II. von Belgien. Unsere Luise ist hier in Brüssel ein «No Name», in Vergessenheit geraten und dem internationalen Adel, dem sie angehörte – und dem sie einst mit einem grossen Skandal den Atem raubte –, egal. Ein Skandal, der sich in der Schweiz ereignete und die Zeitungsspalten in ganz Europa füllte. Luise hielt damit Adelswelt, Geheimpolizei, Rechtsanwälte, Reporter und Ärzteschaft auf Trab.
Wie es zu diesem offenkundig tiefen Fall des Habsburger Geschwisterpaars Luise und Leopold kommen konnte, das ist – verständlicherweise – eine längere Geschichte. Würde man diese erfinden, gälte sie als schlecht erdacht und unglaubwürdig. Als süssliches Märchen mit viel royalem Personal taugt sie nicht, denn sie ist gespickt mit Tragik und Trauer.
Doch die Geschichten rund um Luise und Leopold sind mit all ihren Irrungen und Wirrungen, mit ihren Skandalen und Verrücktheiten wirklich so geschehen. Alle Fakten haben sich so ereignet, nichts ist hier erfunden. Um ihre wirklich aussergewöhnlichen Leben aufzurollen, müssen wir etwas zurückblenden, nämlich in den Dezember 1902. Dieser geht in die Annalen ein, weil er ausserordentlich kalt ist.
Und weil sich ein Skandal ereignet.
Der für Aufsehen sorgt.
In ganz Europa und sogar in Amerika.
Davon ist hier die Rede.
Eine nächtliche Flucht
Nach Mitternacht, vom 11. auf den 12. Dezember 1902, schleichen zwei Gestalten auf Socken durch die Salzburger Residenz. In diesem Schloss bewegt man sich für gewöhnlich selbstbewusst, sodass die Absätze klackend durch die Gänge hallen, schliesslich handelt es sich um eine repräsentative Palastanlage für Österreichs Hochadel.
Das nächtliche Herumschleichen ereignet sich im Toskanertrakt, im Anbau gegen Norden, wo der Habsburger Zweig der sogenannten Toskaner wohnt und wirkt, der bis vor wenigen Jahrzehnten in Florenz lebte und bis 1859 die Toskana regierte. Die zwei Gestalten eilen wie Nachtgespenster durch die langen Gänge; nur stecken sie nicht unter Leintüchern, sondern tragen bequeme Reisekleidung, in der einen Hand einen kleinen Koffer, in der anderen ihre Schuhe.
Das sieht nicht nach Einbrechern oder Kindern beim Gespensterspielen aus, sondern nach einem Wegschleichen, das keiner bemerken soll. Keine Kammerzofe, kein Obersthofmeister, kein Minister, kein Hofrat, kein Hofmeister, kein Geheimrat, kein Kämmerer, keine Palastdame, kein Edelknabe, kein Herzog – niemand nimmt Notiz von den beiden. Es handelt sich um die Flucht von zwei erwachsenen, gestandenen Persönlichkeiten, die nicht anders können, als auf diese Weise Reissaus zu nehmen. Die zwei Fliehenden sind unsere Protagonisten Luise und Leopold, das später so bekannte Geschwisterpaar: Erzherzogin Luise von Österreich-Toskana und Kronprinzessin von Sachsen und Erzherzog Leopold Ferdinand von Österreich-Toskana. Sie ist zum Zeitpunkt des Geschehens 32 Jahre alt, er 34. Eigentlich tragen sie die adelsüblichen Namenskaskaden: Sie hat nicht weniger als elf Vornamen, nämlich Luise Antonia Maria Theresia Josepha Johanna Leopoldine Karolina Ferdinande Alice Ernestina; er bringt es sogar auf zwölf Vornamen, mit vollem Namen heisst er Leopold Ferdinand Marie Joseph Johann Baptist Zenobius Ruprecht Ludwig Karl Jacob Vivian.
Leopold und Luise in jungen Jahren: Sie sorgen für den Skandal des Jahres.
Luise und Leopold, um ihre üblichen Kurznamen zu verwenden, haben in aller Heimlichkeit ihre Koffer mit den allernötigsten Kleidern gepackt, sie hat auch noch ihren Schmuck mitgenommen – als Angehörige des Habsburger Hochadels, die für gewöhnlich mit unzähligen Koffern und Kisten, Taschen und Schachteln reisen, bedeutet das eine grosse Umstellung und zeigt die Not, in welcher sich die beiden befinden. Bald versetzen sie den Adel in Aufruhr und werden in ganz Europa bekannt.
Ja, sogar darüber hinaus. Selbst der New York Herald wird über sie und ihre klandestine Flucht berichten.
Es ist nachts um halb ein Uhr, als Luise und Leopold über eine Bedienstetentreppe vom Palast in den Schlosshof und in die kalte Winternacht gelangen; das Thermometer zeigt in dieser klaren Mondnacht eisige 16 Grad unter null. Die fliehenden Geschwister steigen vor der Salzburger Residenz in eine geschlossene Kutsche, an die zwei Araberpferde geschirrt sind. Luise trägt ein warmes, schwarzes Kleid aus Serge-Gewebe, diesem robusten Wollstoff, dazu eine Boa um den Hals und einen Pelzmuff, um die Hände darin warmzuhalten. Miteinander besteigen sie die heimlich bestellte Kutsche, die rund eine Stunde für die Fahrt von Salzburg zum Bahnhof Hallein benötigt. (Dass Luise später in ihren Memoiren von einer dreistündigen Kutschenfahrt berichtet, ist wohl dem subjektiven Empfinden geschuldet.)
Vor zwei Uhr nachts treffen die Geschwister am nächtlich verlassenen Bahnhof ein. Der Zug fährt erst um 3.45 Uhr, deshalb setzen sie sich in den einzigen geöffneten Raum zu dieser Stunde, in einen Wartesaal dritter Klasse, mit Holzbänken ohne Rückenlehnen, dort haben sie sich zuvor wohl noch nie aufgehalten. Leopold ist gross gewachsen, er ist ein stattlicher Mann; das in die Länge gezogene Gesicht und die hohe Stirn mit den Geheimratsecken, in der Mitte der grosse Schnauz an dessen Enden, die sorgfältig nach oben gezwirbelt sind, fingert er jetzt vielleicht nervös herum. Luise zeigt in jeder Situation Kontrolle im Körper, sie hat eine bewusste Haltung, streckt Rücken und Nacken durch, sodass man ihr die Aristokratin ansieht; sie hat ein freundliches, rundes Gesicht mit wachen Augen und wird, um ihre Aufregung in dieser kalten Nacht zu überdecken, die Hände im Muff gerieben haben.
Vielleicht haben sich Luise und Leopold nochmals ihre persönlichen Fluchtgründe erzählt, sie redeten womöglich über ihre unglücklichen, nicht gesellschaftskonformen Lieben, die sie ins Unglück stürzten und die auf komplettes Unverständnis der näheren und weiteren Umgebung stiessen, wie wir noch sehen werden.
Eine Bahn mit vertrautem Namen
Hier in Hallein startet die Salzburg-Tiroler-Bahn, die auch «Erzherzogin-Gisela-Bahn» heisst. Natürlich kennen Luise und Leopold diese Gisela, welche die zweite Tochter von Kaiser Franz Joseph I. und Kaiserin Elisabeth, besser bekannt als Sisi oder Sissi, ist. Gisela trägt den Titel einer Erzherzogin von Österreich und einer Prinzessin von Bayern, sie ist damit eine Verwandte von Luise und Leopold, denn sie – die Flüchtigen – sind ebenfalls Habsburger Hochadlige, nur eben von einem anderen Stamm, von jenem der Toskaner. Dennoch kennt man sich von royalen Empfängen, Festtafeln und Banketten. Während Gisela einen bayrischen Adligen heiratete, mit dessen Zweig sie mütterlicherseits verwandt ist, musste auch Luise standesgemäss und taktisch klug heiraten, nämlich den sächsischen Thronfolger Friedrich August III. Das Einheiraten ins Königreich Sachsen passte politisch ins Konzept, so wurde sie mit 21 Jahren die Gattin von Kronprinz Friedrich August III. und damit Kronprinzessin von Sachsen, auch wenn sie ihren Mann nie liebte. So liegt die Vermutung nahe, dass Luise in der kalten Nacht auf dem Bahnhof Hallein mit ihrem Bruder über das Leben am Hof in Dresden sprach. Wie kontrolliert sie sich vom Hofstaat fühlte. Wie ihr Schwiegervater sie ständig kritisierte.
Dass sie ihre Kinder nicht stillen durfte.
Ihr das Radfahren untersagt war.
Sie nicht selbst einkaufen durfte.
Sie ständig zu hören bekam:
«Das gehört sich nicht für eine Kronprinzessin.»
Sie beklagte wohl die fehlende Unterstützung seitens ihres Gatten Friedrich August. Und vielleicht schwärmte sie, die 32-Jährige, auch von André Giron, dem 24-jährigen Sprachlehrer ihrer ältesten Kinder, einem schnauztragenden Schönling, in den sie sich so sehr verliebt hat. Weil ihr alles zu eng war, aber auch seinetwegen, hat sie Dresden verlassen – und damit auch den königlichen Hof, ihre Stellung, ihren Ehemann und ihre fünf Kinder.
Was die Geschichte noch brisanter macht: Mit dem sechsten Kind ist Luise bereits schwanger. Hätte sie in Sachsen die Wahrheit über ihre neue Liebe preisgegeben, Schwiegervater König Georg hätte sie mit Sicherheit in ein Irrenhaus eingewiesen. Oder in ein Kloster gesteckt.
Die Wahl zwischen Irrenhaus und Kloster war keine; so hat sie sich zur Flucht entschieden. Das reale Leben als Kronprinzessin kann sich so sehr von den Idealvorstellungen in den Märchen unterscheiden!
Bevor der Rauch ausstossende Dampfzug eingefahren ist, hat vielleicht auch Leopold von seinen Fluchtgründen gesprochen. Auch er ist des höfischen Zeremoniells längst überdrüssig. Seit er sich in Wilhelmine Adamovic verliebt hat, stehen die Zeichen im Hause Habsburg auf Sturm. Er nennt sie eine «Künstlerin», dabei ist sie eine staatlich registrierte Prostituierte. Als Habsburger darf man nur jemanden heiraten, der dem Hochadel angehört; das wird einem ungeschriebenen Familiengesetz gemäss so bemessen, dass vier Generationen zuvor ausschliesslich blaues Blut aufweisen müssen, 16 Vorfahren also müssen vollständig adelig sein. Es gibt etliche in Leopolds Verwandtschaft, die sich nicht an diese Regel hielten und beispielsweise zwar eine Adlige, aber keine Hochadlige ehelichten – mit der Konsequenz, dass die Angeheirateten und deren Kinder nicht erbberechtigt und von der Thronfolge ausgeschlossen sind.
Doch Leopold will noch weiter gehen: Seine Wilhelmine ist nicht nur eine Bürgerliche, sondern ein Strassenmädchen, eine Liebesdienerin oder, wie man in Wien sagte, eine «Hübschlerin» oder, wenn sie am Wiener Gürtel anschaffte, «a Gürtlschnalle». Regelmässigen Umgang mit solchen Frauen zu haben, war unter Adligen durchaus beliebt und auch toleriert. Aber eine solche Frau zu ehelichen, das kam niemals infrage. Zuerst schickte Kaiser Franz Joseph, als er von der Beziehung erfuhr, seinen Verwandten Leopold ins Exil, darauf in ein Irrenhaus, damit er zur Besinnung komme. Es half nichts, seine Liebe zu Wilhelmine blieb, sodass er jetzt fest entschlossen ist, das Imperium der Habsburger mit all seinen Annehmlichkeiten für immer zu verlassen.
Als Reiseziel der nächtlichen Flucht haben Luise und Leopold die Schweiz auserkoren; nicht, weil der Stammsitz der Habsburger in der Schweiz liegt. Sondern weil sich die Schweiz neutral und vergleichsweise liberal gibt, weil sie «das Land der Freiheit, der Arbeit und des persönlichen Kampfes ist», wie Leopold es später einem Journalisten diktiert.
Deshalb setzen sich die Geschwister in dieser Nacht in die Eisenbahn und fahren quer durch Österreich in die Schweiz. Als Flüchtige fürchten sie sich davor, dass österreichische Beamte sie unterwegs entdecken und zurückschicken könnten. Ironischerweise hat Luise bereits zwei Jahre zuvor das Gedicht «Auf der Flucht» des bayrischen Dichters Karl Stieler vertont. Darin flieht eines Nachts ein Mönch.
«Sie setzen ihm nach; er wich und wich
Bis an den frühen Morgen,
Schon sind sie ihm nah’ – da hat er sich
In einem Gezweig verborgen.
Und drunten jagten die Reiter vorbei
Und schalten in lautem Grimme!
‹Den geben wir nimmer sein Lebtag frei!›
Und dann – verklang ihre Stimme.
Er sprach: ‹Weiss Gott, wo ich weiter Welt
Noch mein Obdach finde –
Nun flink! – Leb wohl, du grünes Gezelt,
hab Dank, du getreue Linde!›»
Hatte sie damals schon eine Ahnung davon, was kommen würde? Und dass sie dereinst selbst «auf der Flucht» sein würde? Allerdings müssen sich die fliehenden Geschwister nicht unter einen Baum ducken, sondern reisen komfortabel mit der Eisenbahn. Zwischen Schaan und Buchs überqueren sie die Schweizer Grenze. Sie werden erleichtert sein, dass sie kein Österreicher aufgehalten hat, denn die Arme der Habsburgerdynastie und ihrer Geheimpolizei reichen weit. Entlang des Zürichsees liegt dichter Nebel, je nach Überlieferung treffen Luise und Leopold um die Mittagszeit oder um 17 Uhr an ihrem vorläufigen Ziel Zürich ein. Am Hauptbahnhof fühlt sich Luise unwohl. In ihren Memoiren notiert sie dazu: «Für mich war kein Empfang bereit, kein roter Teppich und keine Freunde oder Verwandte, die auf mich warteten.»
Dazu muss man wissen: Luise war zuerst Erzherzogin, dann Kronprinzessin, sie war ständig verwöhnt, verzärtelt und auf Händen getragen. Doch hier im geschäftigen Zürich bemerkt zunächst niemand, dass es sich bei den Reisenden um zwei echte Royals handelt. Damit erfährt die Prinzessin sogleich eine der Grundeigenschaften der Neutralität und der demokratischen Gesellschaft der Schweiz: Hier sind alle gleich!
Leopold hat das Hotel ausgewählt, damals eines der besten in Zürich: das Grandhotel Bellevue. Es steht im Strassendreieck am südlichen Ende des Limmatquais und hat dem benachbarten Bellevueplatz den Namen gegeben: Denn vom Hotel mit seinen vier Etagen und den markanten drei Türmchen aus hat man tatsächlich eine «belle vue» auf den See und die Berge – viel besser als vom Platz aus, der heute noch den Namen mit der schönen Aussicht trägt.
Im Grandhotel folgt die nächste Überraschung. Die noblen Geschwister treffen auf eine Frau, von deren Anwesenheit Luise nichts wusste. Dafür freut sich Leopold umso mehr, denn es handelt sich um seine Geliebte Wilhelmine Adamovic.
Im Strassendreieck gelegen: das wuchtige Grandhotel Bellevue in Zürich.
Luise zeigt sich perplex, weil er sie nicht darüber informiert hat. Als Wilhelmine freudigen Schrittes auf Luise zugeht und sie überschwänglich begrüsst, ist Luise irritiert und schreibt später von einem «Paar madonnenhaft schöner, dunkler Augen, die aus einem regelmässigen Gesicht, das von dichtem, prachtvollem und tizianrotem Haar eingerahmt war, leuchteten». Der schönen Erscheinung zum Trotz mag Luise die wie aus dem Nichts aufgetauchte Frau überhaupt nicht: «Die Neuangekommene gehörte sicher nicht in meine Welt», da sie ganz offensichtlich weder eine Ahnung habe von einer gepflegten Konversation unter Damen noch von den einfachsten Anstandsregeln zu Tisch. Eine (ehemalige) Prostituierte benimmt sich eben ganz anders als eine (geflohene) Kronprinzessin.
Leopold hingegen ist in Gesellschaft seiner Geliebten Wilhelmine voller Glücksgefühle. Sein Übermut zeigt sich, als er sich etwas verwegen als verheiratetes Ehepaar ins Fremdenbuch einträgt, nämlich als «Herr und Frau Wölfling». Luise lässt mehr Vorsicht walten und benützt den Decknamen «Frau von Oppen».
Sie fühlt sich schlecht: Als sie in ihr Hotelzimmer geht, lässt sie sich nach der aufregenden Nacht und der Eisenbahnfahrt auf das Bett fallen und weint in ihr Kissen. Sie empfindet alles als schrecklich fremdartig, «keine Kammerfrau, die mir alles herzurichten gewohnt war, kein seidenes Hausgewand, damit ich nur hineinzuschlüpfen brauchte, keine Kristall- und Silberflaschen voll duftender Essenzen» – die verzogene Prinzessin hat nur mitnehmen können, was in ihrem Handkoffer Platz fand. Dass sie ihre Kinder vermisst oder von der Flucht mit allen Konsequenzen überfordert ist, erwähnt sie mit keinem Wort.
Später kehrt das Trio vielleicht im hoteleigenen Café de la Terrasse ein, dem Treffpunkt der Reichen und Schönen im damaligen Zürich. Überliefert ist, dass sie das Hotel verlassen, um die Stadt Zürich zu erkunden und noch ein paar Weihnachtsgeschenke zu kaufen: Wilhelmine und Leopold sind übermütig aufgrund ihrer Wiedervereinigung, während Luise sich unsicher fühlt, ob das alles gut geht. An diesem Freitagabend im Dezember dunkelt es früh ein, dennoch tummeln sich viele Leute auf Zürichs Strassen. Denn der Tag trägt das magische Datum 12.12., was den Zürcher Postämtern Bevölkerungsaufmärsche unbekannten Ausmasses beschert. Unzählige Menschen mit einer Schwäche für Zahlenmagie oder Aberglauben wollen Briefmarken mit dem Datumsstempel versehen haben, dafür stehen sie bis auf die Strasse hinaus vor den Postschaltern Schlange. Bald wird sich auch Leopold bei einem Postamt einreihen müssen.