Das Mädchen mit den Schlittschuhen

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Das Mädchen mit den Schlittschuhen
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Michael W. Caden

DAS MÄDCHEN MIT DEN SCHLITTSCHUHEN

Ein Ostpreußen-Roman der nächsten Generation

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Dieses Buch beruht in großen Teilen auf wahren Begebenheiten.

Einige Personen und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelbild © Uwe Moldenhauer,

Fotostudio Röder-Moldenhauer, Bad Marienberg

Gefördert durch Villa Sonnenmond in Neustadt/Westerwald

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

»Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann.«

Jean Paul

Ankunft in Danzig

Klotainen – Kreis Heilsberg – Ostpreußen. Diese Namen begleiteten ihn sein Leben lang. Wie oft hatte er sie schon geschrieben? Er wusste es nicht. Dutzende Male, das war gewiss. In der Schulzeit, während seiner Ausbildung, bei Bewerbungen, immer, wenn er sie zu Papier brachte, erinnerten sie ihn an ein Leben vor dieser Zeit. An ein Leben, das er beinahe verdrängt hatte. Doch diese Namen waren untrennbar verbunden mit ihm, sie waren Identität, mehr als bloße Worthülsen, mehr als ein gelebtes Gefühl, und sie waren für ihn auch immer eng verknüpft mit Wehmut.

Gedankenversunken blickte der ältere Herr in Reihe 25 aus dem Fenster des Flugzeuges. Der Himmel war wolkenverhangen, dazwischen schimmerte vereinzelt etwas blau. Nach knapp eineinhalb Flugstunden würde er in wenigen Minuten wieder festen Boden unter den Füßen haben – polnischen Boden.

Viele Länder hatte er in den vergangenen 60 Jahren bereist, aber Klotainen, dieses kleine ermländische Dorf im Herzen Ostpreußens, dieser 200-Seelen-Ort, der kaum auf einer Landkarte vermerkt war, blieb für ihn stets unerreichbar. Über Jahrzehnte lag es fern jenseits des Eisernen Vorhangs. Ein Landstrich mit einem unvergleichbaren Zauber. Der Himmel hoch und weit. Und jetzt war es so unvorstellbar nahe – nur einige wenige Stunden trennten ihn noch von diesem Ort.

Planmäßig setzte der Airbus 320 auf der Landebahn von Rebiechowo auf. Ein paar Fluggäste applaudierten verhalten. Nicht alle der 150 Sitzplätze waren besetzt, hier und da klafften Lücken.

»War eigentlich gar nicht so schlimm«, dachte der ältere Mann. Er war Mitte 70, hoch gewachsen, kräftig. Brillenträger. Die vollen grauen Haare hatte er zurückgekämmt. Er trug eine dunkle Faltenhose, dazu ein helles Karo-Hemd, Schlips und ein beiges Sakko. Vor eineinhalb Stunden war er als Passagier von Frankfurt-Hahn in Richtung Danzig gestartet – zum ersten Mal in seinem langen, arbeitsreichen Leben hatte er ein Flugzeug bestiegen.

Kurz bevor der Airbus seine endgültige Halteposition erreichte, setzte reges Treiben im Passagierraum ein. Stauraumfächer wurden aufgestoßen, Handtaschen, Rucksäcke, Pakete hastig herausgezogen. Alles schien der Bewegungsstarre entronnen, die sich noch kurz vor der Landung eingestellt hatte.

Dem Mann dort am Fenster machte die plötzliche Hektik nichts aus – eigentlich schien er sie nicht einmal zu bemerken. Noch immer in Gedanken versunken blickte er über den Rand seiner Brille durch das kleine Seitenfenster zum Flughafengebäude hinüber. »Lech Walesa Airport« stand dort in dicken Lettern zu lesen.

Er spürte, wie sein Puls an Tempo zunahm, fühlte, wie er am Kragen schwitzte, wie die Nässe stromlinienförmig über seine Hände glitt. 1945 war er in Danzig am Bahnhof nur knapp dem Beschuss durch sowjetische Tiefflieger entkommen. Es war mit einem Male so, als hätte sich die Uhr von einem Augenblick auf den anderen um sechzig Jahre zurückgedreht. Hunderttausende befanden sich auf der Flucht vor der sowjetischen Kriegsfurie. Bilder schossen ihm durch den Kopf. Fragmente von schmerzverzerrten Gesichtern. Grauenhafte Bilder. Bilder, von denen er glaubte, dass er sie längst verdrängt hätte. Ihm war, als höre er die Kommandos der Offiziere. Verwundete wurden in die Waggons gehoben, vor allem Soldaten, notdürftig verbunden, die Uniformen zerfetzt, dazwischen auch Zivilisten: alte Männer, Frauen und Kinder. Er sah, wie Projektile durch die Vertäfelung des Waggons schlugen, Holzsplitter flogen umher. Er hörte die Detonationen, das Schreien der Flüchtlinge, die nichts als nur noch das bloße Leben bei sich trugen. Die Luft roch nach Metall und Schwefel. Flammen schlugen aus dem Bahnhof, ganze Wände des riesigen Gebäudes brachen ein. Eine Mutter blickte ihn wortlos mit großen, starren Augen an, in den Armen hielt sie ihr lebloses Kind.

Wie aus heiterem Himmel tauchten urplötzlich zwei Tiefflieger mit einem ohrenbetäubenden Dröhnen neben den Gleisen auf. Sie luden ihre Salven über der Menschenmenge ab. Zwei Soldaten brachen nur wenige Meter von ihm entfernt tödlich getroffen zusammen. Direkt neben ihm schlugen lange Reihen von kleinen Blitzen in den Boden. Zwei Sanitäter, die einen Verwundeten auf einer Trage transportieren, sackten getroffen zusammen. Ein Soldat stieß ihn in den offenen Waggon, er spürte einen stechenden Schmerz im Bein, dort, wo er Tage zuvor von einem Granatsplitter getroffen worden war. Der Zug setzte sich in Bewegung. Hoffentlich sind die Gleise heil geblieben, schoss es ihm durch den Kopf. Nur weg von hier, dachte er. Nur weg!

»Entschuldigen Sie bitte, mein Herr!« Der Mann am Fenster reagierte nicht.

»Entschuldigen Sie …, Sie müssen aussteigen!«

Aussteigen? Der ältere Herr auf Platz 25a drehte sich in die Richtung, aus der er die Stimme wahrgenommen hatte.

»Der Flug ist zu Ende, gleich kommen die Reinigungskräfte. Sie müssen das Flugzeug jetzt verlassen.«

Die junge Dame mit dem frisch aufgetragenen Make-up war freundlich, aber bestimmt. Sie lächelte.

»Ja gut, ich komme.«

Der ältere Herr rückte die Hemdsärmel noch einmal gerade. Er packte seine kleine Reisetasche, die er unter dem Sitz verstaut hatte, zupfte kurz an der Krawatte und ging in Richtung Ausgang.

»Wir hoffen, Sie beehren uns bald wieder«, meinte die Flugbegleiterin, als er die Maschine verließ.

Noch immer in Gedanken versunken blickte der Mann zur Stewardess.

»Was meinten Sie?«

»Wir hoffen, Sie beehren uns bald wieder.«

»Hm ja«, brummelte er. »Ja, ja…«

Zielstrebig steuerte der ältere Herr das Eingangstor zum mehrstöckigen Passagierterminal an. Auf halber Strecke kreuzte er einen Container. Durch eine große Glasscheibe erblickte er mehrere Männer in Uniform. Es waren Soldaten, die an einem Tisch saßen und redeten. Einer lachte. Zwei andere gestikulierten mit den Händen. Einer der Uniformierten blickte flüchtig zu ihm hinüber. Der Mann schaute angestrengt weg. Was niemand sehen konnte: Seine Hände waren immer noch schweißgebadet.

Was ist mit den Soldaten? Werden sie dich kontrollieren? Wirst du die Tasche öffnen müssen? Was, wenn sie deinen deutschen Pass sehen?

Nur nicht auffallen!, dachte der Mann. Auf gar keinen Fall auffallen!

Doch nichts von alldem geschah. Die Uniformierten nahmen den letzten Passagier des Fluges 3093 nicht einmal zur Kenntnis.

Als er seinen Koffer vom Fließband geholt hatte und die Ankunftshalle durch die geöffnete elektronische Schiebetür verließ, fiel sein Blick auf ein Namensschild, das jemand gut sichtbar über eine kleine Menschentraube hielt. »Albert Steinky«, stand auf diesem Schild handschriftlich geschrieben.

Steinky, das war kein Allerweltsname. Nein, er war eben typisch ostpreußisch, dachte der alte Mann. Manche Familien dort hießen Wölky, Langanki oder Kutschki. Und er hieß eben Steinky. Albert Steinky, das war sein Name. Das war der Junge, der vor rund 60 Jahren aus dem Osten des Deutschen Reiches vor der russischen Kriegsfurie flüchten musste und der jetzt am Ende seines Lebens als alter Mann zurückkehrte. Albert Steinky. 74 Jahre alt. Gelernter Stuckateur. Verwitwet. Katholisch. Kinderlos. Geboren in Klotainen, Kreis Heilsberg. Ein Mann auf der Reise in seine Vergangenheit. Ein Mann auf der Reise in seine alte Heimat Ostpreußen.

»Willkommen in Danzig«, grüßte ihn der Mann mit dem Schild. Er war ein paar Jahre jünger als Albert Steinky, trug ein helles Sakko von der Stange und eine dunkelblaue Jeans, die schon bessere Tage gesehen hatte.

»Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug!«

»Angenehm?! Na ja, es war mein erster! Hätte schlimmer kommen können!«, scherzte Steinky.

»Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Heinrich Ostrowski. Ich bin Ihr Reisebegleiter. Ich komme aus der Nähe von Allenstein, aus Guttstadt. Darf ich Ihren Koffer nehmen?«

»Ja, gerne«, antwortete Albert Steinky und reichte ihn rüber.

»Kommen Sie, der Wagen steht gleich um die Ecke.«

Die beiden verließen das Flughafengebäude und gingen zu einem silberfarbenen Ford Fiesta.

 

»Wir brauchen etwa drei bis vier Stunden bis zum Hotel Pod Klobukiem nach Heilsberg – je nachdem wie stark der Verkehr auf der E 77 ist.«

Ostrowski öffnete die Hecklappe des Autos. Dann legte er den Koffer und die Reisetasche hinein. Albert Steinky nahm derweil Platz auf dem Beifahrersitz. Ostrowski startete das Fahrzeug, der Wagen rollte aus der Ausfahrt des Flughafengeländes und bog auf die Kartuska-Schnellstraße in Richtung Danzig ein. Der Autoverkehr hielt sich in Grenzen.

»Kennen Sie die Altstadt von Gdansk, äh Danzig?«, fragte Ostrowski.

»Nein« , antwortete Steinky. »Ich kenne nur den Bahnhof, und den habe ich auch nur einmal kurz gesehen – das war nachts im Februar 1945. Da blieb jedoch keine Zeit für Sightseeing, wie das auf Englisch so schön heißt«, scherzte Steinky. »Da haben die Russen ein Riesenfeuerwerk veranstaltet. Ich hatte wahnsinniges Glück!«

»Ja, Danzig«, seufzte Ostrowski, wurde aber im nächsten Moment geradezu euphorisch. »Die Stadt war nach dem Krieg bis zu 60 Prozent zerstört, die Polen haben in den Jahren danach wirklich eine tolle Aufbauarbeit geleistet. Die Altstadt, die müssen Sie einmal besuchen, Herr Steinky.«

»Ja, ja – mal sehen, wenn später noch Zeit ist – gerne.«

Albert Steinky schaute nachdenklich aus dem Fenster. Überall blickte er auf Reklametafeln in polnischer Schrift. Alles wirkte fremd auf ihn. War es wirklich richtig, diese Reise anzutreten? Würden nicht zu viele Gräben wieder aufgerissen? Vielleicht waren die alten Wunden in seiner Seele noch nicht ausgeheilt! Doch wenn er nicht jetzt gereist wäre – wann dann? Sicher hätte er seine Heimat niemals wieder gesehen. Nein, so sollte sein Leben nicht zu Ende gehen. Nicht ohne ein Wiedersehen. Nein, ein Zurück, das würde es für ihn jetzt nicht mehr geben …

Ostpreußen war tabu

Schon eine ganze Weile fuhren sie jetzt über die E 77 Richtung Südosten – Albert Steinky und Heinrich Ostrowski, sein deutsch-polnischer Fremdenführer. August Raschke, ein Bekannter Alberts aus einem Nachbardorf im Westerwald, hatte ihn empfohlen. Vor ein paar Jahren hatte dieser den alten Ostpreußen bei einer Angelreise durch Masuren kennen gelernt. »Heinrich, der weiß alles über Ostpreußen und das Ermland. Er ist wie ein Ostpreußen-Lexikon auf zwei Beinen, spricht fließend Deutsch und Polnisch«, hatte Raschke den älteren Herrn mit dem großen Schnauzer gerühmt. Er sei zudem immer froh, wenn er sich zu seiner kleinen Rente ein paar Zloty dazu verdienen könne. Für die nächsten neun Tage würde Heinrich Ostrowski seinem Begleiter aus dem Westerwald nicht mehr von der Seite weichen.

»Was gibt es Neues zuhause?«, fragte Albert. Irgendwie musste er die Konversation ja wieder in Gang bringen. Schon vor geraumer Zeit war es im Auto merklich ruhig geworden. Lediglich aus dem Radio sprudelte gedämpfte Musik. Ein paar polnische Wortfetzen konnte Albert verstehen. Mehr nicht. Es ging wohl um Liebe. Um was auch sonst?! Hier ist es auch nicht anders als in Deutschland, dachte er.

Aber hatte er eben wirklich zu Hause gesagt? Nachdenklich blickte Albert Steinky aus dem Fenster. War dort, wo er hinfuhr, zu Hause? War es nicht der Westerwald? Nicht dieses kleine, idyllische Dörfchen unweit des Elbbaches, wo er seit mehr als 60 Jahren wohnte? Dort wo man jeden kannte und wo man mehr über den anderen wusste, als über sich selbst?

»Unser Zuhause ist woanders«, hatte sein Vater früher immer gesagt, wenn im Westerwald die Sprache auf Heim und Herd im Ermland kam. Doch viel gesprochen über dieses Land, das er jetzt nach vielen Jahren wieder für sich neu entdecken wollte, wurde nicht. Ostpreußen war tabu. Zuhause, das war eben woanders. Und ein bisschen war es wohl auch so. Doch war dieses winzige Stückchen Land in Klotainen, das noch nicht einmal seiner Familie gehört hatte, war das sein eigentliches, sein wahres Zuhause? Sollte das die Heimat in seinem Herzen sein? War es das, was seine alte rastlose Seele suchte?

Albert Steinky fiel es schwer, seine Gedanken zu ordnen. In den unterschiedlichsten älteren Atlanten hatte er vor der Abreise nach Heilsberg und Klotainen gestöbert. »Unter polnischer Verwaltung« stand zumeist quer über dieses Gebiet geschrieben. Albert hatte diesen Schriftzug nie akzeptiert. Für ihn war und blieb alles Deutschland. Es konnte für ihn nicht sein, dass solch ein riesiges Gebiet wie Ostpreußen mit Millionen von deutschen Menschen schlichtweg abgetrennt, die dort Heimischen umgebracht oder rausgeschmissen wurden und mit anderen Menschen, die nichts aber auch gar nichts mit diesem Land zu tun hatten, besiedelt wurde. Dieses Gefühl beherrschte ihn bis heute, besonders in diesem Augenblick, als er jetzt gen Osten fuhr. Sein Verstand versuchte auch nach all den vielen Jahren immer noch das Unfassbare des wirklichen Verlustes zu verarbeiten. Innerlich akzeptieren würde er es wohl aber nie.

»In Elbing wird viel gebaut«, erzählte Heinrich, der jetzt mit seinem Wissen unter Beweis stellen wollte, dass er sein Geld wert ist. »Seit 1990 wurde die Altstadt unter Verwendung historischer Bauformen wieder aufgebaut. Jetzt gibt es sie wieder, die spitzen Giebel zur Straße hin. Es ist eine Art Fachwerkimitation. Seit dem Jahr 2000 stehen auch wieder viele Gebäude an der Elbinger »Waterkant.« Wissen Sie, Herr Steinky, 1945 wurde Elbing durch die Rote Armee stark zerstört und die deutsche Bevölkerung fast vollständig vertrieben. Es hat recht lange gedauert, bis die Stadt wieder ganz auf die Beine kam.«

»Mein Vater stammte aus Elbing«, fügte Albert für seinen Begleiter völlig unerwartet ein. »Als Kind lebte er dort, ist wohl dann irgendwann ausgerissen, weil er zu Hause Probleme hatte.«

»Ach ja, das ist interessant. Wo hat es ihn denn hingetrieben?«

»Ins Ermland, bis nach Heilsberg. In der Nähe hat er später auf einem Rittergut meine Mutter kennen gelernt.«

»Ach übrigens, ich heiße Albert.«

»Weiß ich«, meinte Heinrich Ostrowski scherzhaft und deutete mit dem Finger auf das Namensschild auf dem Rücksitz, mit dem er Albert am Flughafen in Empfang genommen hatte. Beide gaben sich die Hand.

»Ich bin der Heinrich, geboren am 17. August 1935 auf einem Gutshof bei Guttstadt. Dort lebe ich schon ein Leben lang. Dort möchte ich auch begraben sein. Aber noch nicht so bald. Ich hoffe, der liebe Herrgott gibt mir noch ein Quäntchen Zeit.«

Albert erblickte auf der Konsole über dem Handschuhfach einen Christophorus. Ob man den hier braucht? Gerade nach dem Zerfall des Ostblocks hörte man immer wieder, dass sich die jungen Polen mit den schnellen, neuen Westautos in den Alleen Ostpreußens zu Tode fuhren. Abholzen wollte man diese prachtvollen Baumbestände – für Albert unvorstellbar. Allein der Gedanke daran für ihn ein Stich mitten ins Herz.

»Schau, Albert, da drüben – der Turm der Nikolaikirche.« Heinrich deutete nach links aus dem Fahrzeugfenster.

Albert hatte den Turm schon seit einiger Zeit bemerkt. Und auch die Hinweisschilder hatte er keinen Moment aus den Augen gelassen. Elblag, der polnische Name für Elbing, hatte ihn schon seit Beginn der Fahrt in Danzig begleitet. Doch er konnte sich nie so recht daran gewöhnen, nicht in 60 Jahren, nicht hier und nicht heute. Elbing, das war für Albert die Stadt, in der Loeser & Wolff 1878 die größte Zigarrenfabrik Kontinentaleuropas gründeten. Hier stand die größte ostdeutsche Molkerei. Hier wurde das erste protestantische Gymnasium Preußens eingerichtet und der Preußische Bund gegründet. Elbing das war auch Schiffsbau, das war deutsch und mehr als nur ein Wort – Elbing, das war der Geburtsort seines Vaters, auch ein Teil seines Lebens.

»Wie sehen die Polen das heute eigentlich, wenn immer mehr Deutsche zu Besuch kommen?«, fragte Albert. Mittlerweile hatten sie Elbing schon ein Stück weit hinter sich gelassen und steuerten auf Preußisch Holland zu.

»Wissen Sie Herr Steinky, ähm Albert, die Leute sind verunsichert. Kaczynski hat den Eindruck erweckt, und viele Boulevard-Zeitungen sind drauf angesprungen, dass die Deutschen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zurückkommen werden. In Ostpreußen hat Kaczynski den polnischen Familien »hundertprozentige Rechtssicherheit« versprochen; sie dürften keine Angst haben, dass ihnen jemand ihr Land wegnehme. Kaczynski will deutschen Ansprüchen auf Eigentum in Polen endgültig einen Riegel vorschieben. Er kündigte an, er werde das Problem der Rückgabe von Immobilien an frühere deutsche Eigentümer ‘ein für alle Mal’ regeln. Die Ansprüche Deutscher, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben und enteignet wurden, lösen in den betroffenen polnischen Gebieten große Sorge aus.«

Albert hatte davon gehört. Doch er sagte nichts, schaute stattdessen nur aus dem Fenster. Sie passierten gerade einen kleinen Ort. Er sah, wie ein paar Kinder an einer Schule Seilhüpfen spielten.

»Ich stamme aus einem kleinen Ort namens Klotainen. Das liegt in der Nähe von Heilsberg«, begann Albert ganz unverhofft zu erzählen. »Dort gab es auch ein gleichnamiges Rittergut. Mein Vater arbeitete dort. Er war Kutscher und für die Pferdestallungen verantwortlich. Meine Mutter arbeitete auf dem Gut als Köchin. Wir waren zu fünft: Mein Vater Willi, Mutter Elisabeth, ich, mein jüngerer Bruder Karl und Lieschen, unser Nesthäkchen.«

»Ja, Pferde, die hatten wir auch auf unserem Hof bei Guttstadt«, wandte Heinrich ein. »Die stammten zwar nicht aus großen Züchtungen, doch wie sagte mein seliger Vater doch immer so schön: ‚Schwarze Kehj gewe ok witte Melk’. Sie haben ihren Zweck erfüllt, und es waren wunderbare Arbeitstiere.«

In ein paar Hundert Meter Entfernung entdeckte Heinrich einen Kirchturm.

»Da schauen Sie, Albert, wir sind schon in Preußisch Holland. Jetzt geht’s nur noch gen Osten.«

»Mein Gott, wie schön – die ersten Alleen.« Wie sehr hatte sich Albert nach ihnen gesehnt. Er kannte diesen Anblick nur noch aus Reisereportagen im Fernsehen. Wie ihn dieser Anblick faszinierte.

Direkt hinter Preußisch Holland nahm der Straßenverkehr merklich ab. Nur noch ab und zu begegnete den beiden ein Fahrzeug.

»Ich wusste gar nicht mehr, dass es hier so einsam sein kann.«

»Ja, das kann es. Besonders im Winter.«

»Wie weit ist es noch bis Heilsberg?«

»Vielleicht so fünfzig Kilometer.«

Die Landschaft nahm Albert gefangen. Beim Blick aus dem Fenster fielen ihm sofort die vielen Wegekreuze und Kapellen an den Straßen und in den Vorgärten auf. Wie früher, dachte Albert. Doch was nicht passen wollte, das waren die verlassenen und verfallenen Bauernhöfe, die wie stumme Zeugen einer verfehlten Agrarpolitik in der hügeligen Landschaft standen.

Albert blickte kurz zu seinem Begleiter.

»Gibt es hier noch viele Bauernhöfe?«

»Ja, die gibt es.«

»Das war früher auch schon so. Es hat sich nicht viel verändert. Meine Mutter stammte von solch einem Hof in der Nähe von Raunau am Rande des Ermlandes.«

»Ja, ja, das Ermland. Eine katholische Insel in der evangelischen Provinz Ostpreußen, es war ein Bauernland mitten im Gebiet des Großgrundbesitzes«, schwärmte Heinrich, aus dem es jetzt nur so heraussprudelte. Er hatte, so schien es, seine Hausaufgaben gemacht.

»Es gab keine natürlichen Grenzen, die es von den Nachbargebieten trennten, nur durch die geschichtliche Entwicklung ist die Sonderstellung des Ermlandes innerhalb Ostpreußens zu erklären. Obwohl im Herzogtum Preußen nach 1520 die Reformation eingeführt wurde, behauptete der Bischof von Ermland seine Selbstständigkeit. Das Bistum blieb katholisch.«

»Ich dachte immer, dass es heutzutage ärmlich hier aussehen würde. Das tut es aber gar nicht«, meinte Albert nachdenklich.

»Die Gegend gehört auch heute noch zu den fruchtbarsten Gebieten Ostpreußens. Es gibt zwar keine großen Güter mehr, dafür aber überall wohlhabende Dörfer. Neben dem Ackerbau widmeten sich die ermländischen Bauern schon immer der Vieh- und Pferdezucht und der Milchwirtschaft. Die mittelschweren Pferde hier wurden immer sehr geschätzt. Zwischen den wohl bestellten Feldern und fetten Weiden fehlte es nie an Naturschönheiten. Im Walschtal fand der naturfrohe Wanderer ein unberührtes Naturschutzgebiet mit seltenen Pflanzen, an der Simser und der Alle anmutige Flusstäler, und im Kreis Allenstein war er mitten im Land der dunklen Wälder und kristallenen …«

Völlig unverhofft beendete Heinrich seinen Monolog. Er stoppte den Fiesta und setzte den Blinker. Dann bog er mit dem Wagen nach links in eine kleine Einfahrt.

»Wir sind da! Da oben links ist das Hotel.«

 

Albert und Heinrich hatten sich lange über das Land und seine Menschen unterhalten. Dabei war es Albert ganz entgangen, dass sie das Ortseingangsschild von Heilsberg bereits passiert hatten. Die letzten 50 Kilometer waren wie im Fluge verstrichen.

»Da ist es also, das Pod Klobukiem«, sagte Heinrich und betonte es dabei so, als habe er gerade ein Fünfsterne-Luxushotel angesteuert.

Na ja, ganz nett von außen, dachte sich Albert. Das Gebäude schaute mit diesen dicken Leuchtreklamebuchstaben an der Außenfassade zwar noch etwas sozialistisch drein, doch Heinrich hatte es ihm angepriesen wie warme Semmeln. Vor ein paar Jahren hatte der Besitzer gewechselt. Der neue Eigentümer brachte das Hotel wieder auf Vordermann. Heinrich hatte schon am Telefon mit ihm Bekanntschaft gemacht.

Heinrich stoppte den Wagen vor dem Hotel. Sie stiegen aus und holten das Reisegepäck aus dem Kofferraum. Da kam ihnen auch schon jemand aus der Eingangstür des Hotels entgegen.

»Guten Tag, die Herrschaften. Herzlich willkommen im Pod Klobukiem. Ich heiße Janusz und bin der Manager dieses Hotels. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise.«

Der Hotelier war ein kleiner, quirliger Mann, leicht untersetzt, etwa Mitte 30, im eleganten Anzug. Er sprach einwandfreies Deutsch mit einem leichten Akzent.

»Ja, das hatten wir. Woher können Sie so gut Deutsch«, interessierte sich Albert.

»Ich habe es von meiner Mutter gelernt. Sie war Deutsche und hat nach dem Krieg einen Polen geheiratet. Später habe ich ein paar Jahre in Deutschland gearbeitet.«

Sie gingen durch den Hoteleingang zur Rezeption, stellten die Koffer ab und erledigten die Formalitäten. Der Hotelier fischte den Zimmerschüssel vom Schlüsselbrett hinter dem Tresen, nahm eine der Taschen und trug sie die Treppe hoch bis zum Zimmer.

»So, da sind wir, das sind Ihre beiden Einzelzimmer. Ich habe Ihnen die 110 und die 111 gegeben. Ich hoffe, Sie werden sich wohl bei uns fühlen.«

»Vielen Dank, ich denke schon«, meinte Albert.

Der Hotelier reicht den beiden die Zimmerschlüssel und verabschiedete sich. Es war bereits spät am Nachmittag, in Kürze würde sich die Dunkelheit über das Land legen. An diesem Abend würden sie nichts mehr unternehmen. Albert und Heinrich richteten sich in ihren Zimmern ein, dann gingen sie gemeinsam zum Abendessen. Es gab Gegrilltes. In der Ecke neben dem Eingang zum Restaurant erblickte Albert einen in Holz gearbeiteten Spruch unter der angedeuteten Silhouette des Bischofsschlosses. Er war in deutscher Sprache verfasst: »Willkommen in Heilsberg, im Herzen des Ermlandes«, stand dort zu lesen.