Loe raamatut: «Schatzsuche im Walenseeschloss»

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Schatzsuche im Walenseeschloss

Michael Weikerstorfer


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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2020 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Telefon: 08382/9090344

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchausgabe erschienen 2017.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Titelbild: Abdulah Polić

Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM

ISBN: 978-3-86196-672-2 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-236-4 - E-Book (2020)

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Inhalt

Reisepläne

Die Ankunft

Das Walenseeschloss

Der Turm

Die restlichen Schlüssel

Der Schatz

Epilog

Das Walenseeschloss im Modell

Der Autor

Unser Buchtipp

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Reisepläne

Müde saß Paul in einem der gemütlichen Lehnsessel der Hotellounge. Obwohl er letzte Nacht nicht geschlafen hatte, wollten seine Augen nicht zufallen. Das gelbliche Licht, das von den altmodischen Lampen an der Decke auf sein Gesicht herabschien, wirkte zwar beruhigend, aber nicht einschläfernd. Das einzige Geräusch, das er vernehmen konnte, war das dumpfe, gleichmäßige Ticken einer riesigen Hoteluhr, die über der Eingangstür hing.

Paul schloss die Augen und versuchte, das Ticken auszublenden. Doch es würde bestimmt nicht viel bringen, wenn er jetzt schlief, schließlich war der Vormittag schon fast wieder zu Ende. Seufzend grub er sich tiefer in den weichen roten Stoff des Lehnsessels und versuchte, sich etwas auszuruhen.

„Hey, nicht einpennen! Aufstehen! Komm schon, du fauler Sack! Ich hab was gefunden!“, brüllte plötzlich jemand völlig aufdreht in sein Ohr.

Genervt schlug Paul die Augen auf. Sein Cousin Fritz stand vor ihm und wedelte mit einer Reisebroschüre vor seiner Nase herum.

Ach ja, das hätte er fast vergessen. Dieser verrückte Fritz war ja auch hier. Dessen Eltern waren eine Woche lang auf einer Tagung, deshalb musste Paul in dieser Zeit auf ihn aufpassen. Zu viert hatten sie die letzten paar Tage in diesem Viersternehotel in Hall in Tirol verbracht. Sie hatten nichts Besonderes gemeinsam unternommen, bevor Fritzʼ Eltern schließlich abgereist waren. Schon seit zwei Tagen waren die beiden Cousins in diesem Hotel auf sich alleine gestellt.

Fritz war mit seinen 14 Jahren zwar nur vier Jahre jünger als er, verhielt sich aber Pauls Meinung nach wie ein Zwölfjähriger.

Deshalb war er auch der Ansicht, dass es klüger wäre, wenn er die restliche Zeit mit ihm in diesem Hotel verbringen würde. Denn wer wusste schon, was Fritz in einem ungünstigen Zeitpunkt bei ihm zu Hause in Innsbruck anstellen könnte ...

„Was willst du denn jetzt schon wieder?“, fragte Paul gähnend. Er spürte schon wieder das dumpfe Brummen in seinem Schädel, das vermutlich von den Cocktails der letzten Nacht verursacht wurde.

„Hier, schau mal, was ich in dem Ständer mit den Reisevorschlägen gefunden habe“, sagte Fritz aufgeregt, während er das Cover der Broschüre vor Pauls Gesicht hielt. Darauf war ein Schweizer Bergsee zu erkennen. Er hatte eine längliche Form und wurde an beiden Seiten von hohen, verschneiten Bergen flankiert.

„Das ist der Walensee im Kanton St. Gallen in der Schweiz“, sprudelte Fritz los. „Hier steht, dass diese Gegend das ideale Reiseziel für Wanderer ist. Und du hast mir versprochen, dass wir in dieser Woche eine Wanderung unternehmen. Wenn wir mit dem Zug fahren, sind wir in drei Stunden und 40 Minuten dort!“

„Warte, jetzt mal langsam. Wieso willst du ausgerechnet dorthin? Wir können doch auch hier in Tirol wandern.“

„Ach ja, das hätte ich fast vergessen! Siehst du dieses Schloss da?“ Fritz deutete auf eine felsige Insel, die sich mitten im See befand. Darauf erhob sich eine gewaltige mittelalterliche Burg mit besonders vielen hohen und spitzen Türmen.

„Und was ist das für ein Schloss?“, wollte Paul wissen.

„Ha!“, schrie Fritz völlig außer sich. „Genau das ist es eben! In der ganzen Broschüre wird diese Burg nicht erwähnt.“

„Jetzt schrei doch nicht so laut“, beschwerte sich Paul. „Du weißt gar nicht, wie sehr mein Schädel schon schmerzt.“

„Aber, Paul, jetzt hör mir doch mal zu!“, sagte Fritz ungeduldig und nahm auf einem Lehnsessel neben ihm Platz. „Ich habe die ganze Zeit, während du gepennt hast, im Internet nach diesem Schloss gesucht. Und weißt du was? Ich habe nichts gefunden. Keine einzige Information. Nur Hunderte Fotos, auf denen der Walensee zu sehen ist. Und bei keinem dieser Fotos wird erklärt, was es mit dem Schloss auf sich hat. Findest du das nicht auch ... mysteriös?“

„Also, ehrlich gesagt, ist mir das so was von egal“, murmelte Paul schläfrig.

„Ach komm, es wird noch spannender“, fuhr Fritz unbeirrt fort. „Siehst du diese Hängebrücke, die vom Berg zur Insel hinüberführt? Über diese Brücke können wir in das Schloss gelangen und darin nach Schätzen suchen.“

„Warte ... was?“, rief Paul verwundert. „Du willst wirklich in diese baufällige Bruchbude hineingehen? Ist das dein Ernst?“

„Ach, so baufällig ist die Burg doch gar nicht. Das sieht auf dem Foto nur so aus“, meinte Fritz. „Ich weiß schon genau, wie wir dorthin kommen. Wir fahren einfach mit dem Zug vom Bahnhof Hall in Tirol bis zur Ortschaft Ziegelbrücke. Von da sind es mit dem Bus nur noch 40 Minuten nach Amden, wo wir in einem Hotel übernachten können. Und am nächsten Tag wandern wir zur Hängebrücke und besichtigen das Schloss. Ist das nicht fabelhaft?“

Paul überlegte kurz. Er konnte sich daran erinnern, dass die Eltern von Fritz ihm vorgeschlagen hatten, dass er mit ihm im Laufe der Woche etwas unternehmen sollte. Und da ihm selbst nichts Besseres einfiel, war die Idee von Fritz vielleicht gar nicht so schlecht.

„Na gut“, stimmte Paul zu und warf einen Blick auf die Hoteluhr. Es war kurz nach elf Uhr morgens. „Heute nach dem Mittagessen fahren wir zum Bahnhof.“

„Abgemacht!“, sagte Fritz begeistert. „Aber wir können auch zu Fuß gehen, es ist ja nur ein Katzensprung.“ Als er hörte, wie Paul seufzte, fügte er hinzu: „Ach komm schon, das schaffst sogar du mit deinen hundert Kilo!“

„Hey, sei ruhig, so viel wiege ich schon seit mehreren Monaten nicht mehr!“

„Ja, ja, träum weiter“, meinte Fritz seelenruhig und stand auf.

Während er davonging, bereute Paul, dass er ihn nicht für seinen frechen Kommentar geohrfeigt hatte.

***

Simone saß am Schreibtisch in der privaten Bibliothek ihres Vaters. Die alte Standuhr im Eck zeigte vier Uhr nachts an, die Fensterläden waren verschlossen. In der Bibliothek herrschte Dunkelheit, nur das gelbliche Licht der Schreibtischlampe ließ unheimliche Schatten zwischen den Bücherregalen erscheinen. Der Computermonitor flimmerte vor Simones müden, trockenen Augen. Neben ihr stand eine bereits mehrfach geleerte Kaffeetasse, der Rest des Tisches war zugedeckt mit unzähligen Unterlagen, Büroartikeln, Papierkram und einem ganz besonderen Gegenstand, mit dem sie sich während der letzten nächtlichen Stunden beschäftigt hatte: einem uralten, in Leder gebundenen Buch. Es war tief unter einem Haufen anderer Bücher versteckt gewesen, die unter einem der Regale verstreut lagen.

Simone hatte langjährige Berufserfahrung als Archäologin, das Landesmuseum Württemberg stellte zahlreiche Exemplare aus, die sie ausgegraben hatte.

Das Gebäude, in dem sie sich befand, war ihr Elternhaus und befand sich am Stadtrand von Stuttgart. Die Bibliothek hatte bis vor Kurzem noch ihrem Vater gehört, der ebenfalls Archäologe gewesen war. Simone hatte sein Haus geerbt, nachdem er verstorben war.

Sie hatte dieses Bauwerk nicht mehr von innen gesehen, seit sie hier ausgezogen war. Und das lag bereits 25 Jahre in der Vergangenheit.

Es war nur wenige Tage her, seit Simone das erste Mal nach diesem Vierteljahrhundert die Bibliothek ihres Vaters betreten hatte. An diesem Tag, es musste letzten Dienstag gewesen sein, quoll ihr eine riesige Unordnung entgegen. Überall auf dem Boden lagen Wälzer verstreut, manche Bücherregale waren fast vollständig ausgeräumt.

Aus diesem Grund hatte Simone die letzten paar Tage damit verbracht, die Bücher wieder in die Regale zu stellen und neu zu sortieren. Währenddessen hatte sie sich immer wieder die Frage gestellt, warum ihr Vater eine solche Unordnung verursacht hatte, denn so kannte sie ihn gar nicht. Er musste nach irgendetwas gesucht haben. Besonders auffällig war, dass der Großteil der Bücher auf dem Boden Informationen über die Schweiz enthielt, vor allem über den Kanton St. Gallen.

Vor einigen Stunden war Simone auf dieses äußerst interessante Buch gestoßen, mit dem sie sich die ganze Nacht beschäftigt hatte. Es musste mindestens 150 Jahre auf dem Buckel haben, denn es war in keinem sehr guten Zustand. Der Wälzer trug den schlichten Titel St. Gallen und enthielt zahlreiche Informationen über alle Berge, Seen, Flüsse und Städte, die zur damaligen Zeit in jenem Kanton bekannt waren.

Das Besondere an dem Buch war, dass darin von einem sogenannten Walenseeschloss berichtet wurde, einer Festung, welche sich noch heute auf einer Insel in jenem See befand, seit dem 19. Jahrhundert jedoch leer stand. Simone hatte bereits stundenlang im Internet recherchiert, konnte aber keine weiteren Informationen über dieses geheimnisvolle Schloss herausfinden. Auch in den anderen Büchern über den Walensee wurde dieses Gemäuer nicht einmal erwähnt. Das Einzige, was Simone finden konnte, waren Bilder und Fotos, auf denen es zufällig zu sehen war.

Simone konnte nicht glauben, dass dieses Gebäude so unbedeutend war. Denn in dem dicken Wälzer auf dem Schreibtisch vor ihr stand geschrieben, dass die Burg einst einem Weltenbummler gehört hatte, der besonders viel in Süd- und Mittelamerika unterwegs gewesen war. Dieser Mann hatte, wenn man dem Buch trauen konnte, einige Schätze und Artefakte eines ausgestorbenen mittelamerikanischen Volkes als Reiseandenken mitgenommen und in seinem Turmzimmer untergebracht.

Als Archäologin bereitete es Simone keine Schwierigkeiten, mehr Informationen über das im Buch genannte Volk zu sammeln. Sie fand heraus, dass es seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr existierte, weil die Stammesangehörigen von den Europäern ausgerottet worden waren, und dass alle Schätze vernichtet wurden. Das bedeutete, wenn sich die Artefakte tatsächlich noch heute in jenem Turmzimmer befänden, wäre das ein sensationeller Fund.

Aber zuerst einmal musste Simone dort hingelangen. Deshalb suchte sie nach weiteren Informationen über den Walensee im Internet. Es dauerte nicht lange, bis sie einen kurzen, übersichtlichen Artikel fand.

Der Walensee liegt in der Mitte eines Tals in den Schweizer Kantonen St. Gallen und Glarus. Im Norden und im Süden wird er von bis zu 1000 Meter hohen Bergen umgrenzt. Aus diesem Grund ist die Wassertemperatur kälter als die der benachbarten Seen. Sie beträgt im Sommer nur selten über 20 °C.

Die Algenbildung schreitet wegen der kühlen Wassertemperatur langsamer voran als in anderen Seen, deshalb ist die Sichtweite unter Wasser besonders gut. Für Hobbytaucher ist der Walensee allerdings ungeeignet, da der Seegrund sehr steil abfällt. In den Unterwasserschluchten gibt es einige Schiffswracks zu erkunden, allerdings nur für erfahrene Taucher. Außerdem ist der Wasserspiegel infolge einer Flussregulierung um fast sechs Meter gesunken.

Am Walensee liegen die Orte Walenstadt, Murg, Amden, Quinten und viele weitere. Amden erstreckt sich vom nördlichen Seeufer bis hinauf auf eine Felsterrasse darüber. Von dort aus kann man nach einer mehrstündigen Wanderung durch das Gebirge die autofreie Ortschaft Quinten erreichen. Eine andere Möglichkeit, nach Quinten zu gelangen, bietet sich per Schiff vom direkt gegenüber am südlichen Ufer gelegenen Murg aus.

Simone schaltete den Bildschirm aus und rieb sich die Augen. Quinten war ein Ort, der sich unmittelbar in der Nähe des Walenseeschlosses befand. Folglich wäre das Schloss am schnellsten mit dem Schiff von Murg aus zu erreichen.

Mit dem Auto würde die Fahrt von Stuttgart nach Murg rund drei Stunden dauern. Dort angelangt könnte sie in einem Hotel übernachten und sich am nächsten Tag ein Boot mieten. Damit könnte sie zur felsigen Insel fahren, auf dem das Walenseeschloss erbaut worden war, und hätte dann den ganzen restlichen Tag Zeit, es zu erkunden.

Simone stand auf und warf einen Blick auf die Standuhr im Eck. Es war bereits sechs Uhr morgens. Müde streckte sie ihre Gliedmaßen und ging zur Tür. Sie würde sich jetzt noch etwas ausruhen und sich nach dem Mittagessen auf den Weg machen.

*

Die Ankunft

Paul und Fritz befanden sich im Zug, der von Innsbruck nach Ziegelbrücke fuhr. Sie hatten bereits die Grenze zwischen Österreich und der Schweiz hinter sich und waren schon seit mehr als zweieinhalb Stunden unterwegs.

Fritz betrachtete fasziniert die Berge, die am Fenster vorbeizogen. Währenddessen schnarchte Paul, der ihm gegenübersaß, gemütlich vor sich hin.

„Hey, Paul, sieh dir doch mal die Berge an“, rief Fritz plötzlich. „Auf denen liegt noch haufenweise Schnee!“

Paul schlug genervt die Augen auf und antwortete schläfrig: „Ach, Fritz, auf den Bergen bei uns in Tirol liegt auch noch Schnee. Außerdem ist das ganz normal für Anfang April.“

„Ja, aber trotzdem. Schau doch mal, wie schön der Schnee in der Sonne schimmert!“

„Der Schnee in Tirol schimmert auch, wenn die Sonne daraufscheint“, antwortete Paul unbeeindruckt.

„Ja, aber das ist Schweizer Schnee!“

„Schnee ist Schnee, da gibt es keine Unterschiede.“

„Na gut, wenn du meinst“, murmelte Fritz kleinlaut und blickte wieder aus dem Fenster. „Mir gefallen die Berge trotzdem!“

Paul seufzte kurz, dann sprach er: „Wie du meinst. Lässt du mich jetzt wieder schlafen?“

„Ja, ja. Penn ruhig weiter, du Schlafmütze.“

Zufrieden lehnte Paul sich zurück und hoffte, bis zur Ankunft in Ziegelbrücke seine Ruhe zu haben. Doch schon nach ein paar Minuten drehte Fritz wieder durch. „Hey, Paul, sieh mal!“

„Was ist denn jetzt schon wieder?“, murmelte dieser blinzelnd. Durch schmale Augenschlitze konnte er erkennen, wie Fritz begeistert sein Gesicht gegen das Zugfenster presste.

„Wir sind da! Am Walensee!“

„Was, echt?“, nuschelte Paul noch halb träumend. „Das ging aber schnell.“

„Nur weil du die ganze Zeit geschlafen hast“, tadelte ihn Fritz. „Sieh dir lieber mal den See an!“

Gehorsam blickte Paul aus dem Zugfenster und er wurde nicht enttäuscht, denn der Anblick des Walensees war atemberaubend. Die riesige Wasseroberfläche glänzte wie Silber im Licht der Nachmittagssonne, die sich zwischen den hohen, schneebedeckten Berggipfeln versteckte.

Während der Zug an der langen Südseite des Walensees entlangfuhr, hatten Paul und Fritz genug Zeit, um die Landschaft zu genießen. Als sie an Murg vorbeikamen, konnten sie bereits das Walenseeschloss in der Ferne erkennen. Es erhob sich wie ein Juwel aus der silbrig glänzenden Wasseroberfläche. Noch ahnten die beiden nicht, welche Abenteuer sie in diesem Bauwerk erwarten würden.

Um 17 Uhr erreichte der Zug die Ortschaft Ziegelbrücke. Paul und Fritz stiegen aus und fuhren mit dem Bus weiter nach Amden.

„Wo ist das Hotel, von dem du vorher gesprochen hast?“, fragte Paul, während sie durch die Straßen von Amden schlenderten.

Fritz kramte die Reisebroschüre aus seinem Rucksack hervor und antwortete: „Lass mich kurz nachsehen ... vorne ums Eck müsste es eigentlich sein. Nein, warte ... wir sind gerade daran vorbeigelaufen.“

„Ach, Fritz. Wieso habe ich dich überhaupt mitgeschleppt?“, sagte Paul kopfschüttelnd.

„Weil dieser Ausflug meine Idee war. Und jetzt heul nicht rum, wir sind ja schon da.“

Die beiden erreichten den Eingang des Hotels, das Fritz für sie ausgesucht hatte. Das Gebäude war ein altes Fachwerkhaus aus dem 15. Jahrhundert, befand sich aber in einem gut erhaltenen und gepflegten Zustand. Zufrieden, nun endlich ihre Unterkunft erreicht zu haben, betraten die zwei das Gebäude.

„Also, mir gefällt es hier“, sagte Fritz zufrieden und ließ sich auf das weiche Bett in ihrem Hotelzimmer fallen.

„Genau dasselbe hast du auch über das Hotel in Hall in Tirol gesagt“, meinte Paul unbeeindruckt, während er seinen Rucksack auf den Boden fallen ließ.

„Aber hier sind die Betten so schön weich.“

„Und das hast du ebenfalls schon in Hall in Tirol gesagt.“

„Ach, Paul, jetzt lass mir doch meinen Spaß! Immer wenn ich mich über irgendetwas freue, musst du es mir kaputt machen.“

„Ja, aber nur weil es immer so lächerliche Dinge sind, die dich wahnsinnig faszinieren. Als du das letzte Mal bei meinen Eltern und mir zu Besuch warst, hast du fast eine Stunde lang mit einem Türstopper gespielt.“

„Ja, und?“ Fritz schien ein wenig gekränkt zu sein.

Paul seufzte und hängte seine Jacke an den Haken. „Mit 13 Jahren spielt man nicht mehr stundenlang mit einem Türstopper. Und mit 14 gerät man nicht wegen jeder stinknormalen Matratze aus dem Häuschen.“

„Hey, ich habe nicht stundenlang mit dem Türstopper gespielt!“, verteidigte sich Fritz.

„Wenn ich ihn dir nicht weggenommen hätte, dann hättest du dich sicher noch den restlichen Tag damit beschäftigt“, widersprach Paul und nahm den Zimmerschlüssel vom Regal. „Ich glaube, ich geh jetzt runter zur Hotelbar und zieh mir ein paar Cocktails rein. Es ist ja nicht auszuhalten mit dir.“

„Mach das, aber nicht zu lange!“, meinte Fritz. „Wir müssen morgen ausgeschlafen sein, sonst wird das mit der Wanderung nichts.“

„Ja, ja. Ich kann im Gegensatz zu dir selber auf mich aufpassen, ich bin schon 18. Soll ich die Zimmertür zusperren?“

„Ja, aber weck mich nicht auf, wenn du zurückkommst.“

„Ach, um die Uhrzeit schläfst du doch sowieso tief und fest wie ein Baby“, erwiderte Paul, bevor er das Licht ausschaltete und die Tür hinter sich schloss.

Im Erdgeschoss an der Hotelbar war nicht sehr viel los. Kein Tisch im ganzen Raum war besetzt, jedenfalls konnte Paul im Halbdunkel niemanden erkennen. Nur an einem Ende der Theke saß ein älterer Mann, vermutlich ein Einheimischer, der bewegungslos sein Bierglas anstarrte. Er hatte einen Vollbart und trug einen grob gestrickten Wollpullover. Obwohl er betrunken wirkte, setzte sich Paul zu ihm. Vielleicht konnte er mit ihm ein interessantes Gespräch beginnen.

Der Mann roch widerlich nach Schweiß und billigem Alkohol. Er sah ungewaschen und nicht sehr gepflegt aus. Paul überlegte schon, ob er nicht doch woanders Platz nehmen sollte, als ein Kellner aus der Küche trat und ihn nach seinem Getränkewunsch fragte.

„Haben Sie einen Martini?“, wollte Paul wissen.

„Selbstverständlich. Kommt sofort“, antwortete der Kellner, bevor er wieder in der Küche verschwand.

„Einen Martini bestellt er sich, der feine Herr“, sprach der bärtige Mann neben Paul plötzlich mit einer kräftigen Stimme. „Wie heißt du denn?“

„Paul“, antwortete er höflich.

„Sehr erfreut. Ich bin Günter.“

Günter streckte Paul zum Gruß seinen dicken Arm entgegen. Doch Paul lehnte ab, als er die ungewaschenen, dreckigen Wurstfinger erblickte.

„Du scheinst nicht von hier zu sein. Was treibt dich in diese Gegend, mein junger Freund?“, wollte Günter wissen.

„Ich möchte mir das Walenseeschloss mit meinem Cousin ansehen.“

„Das Walenseeschloss? DAS Walenseeschloss?! Er will ins Walenseeschloss, ich glaub, ich werd verrückt! Haben Sie das gehört?“

Die letzte Frage war an den Kellner gerichtet, der soeben mit Pauls Getränk zurückgekehrt war. Doch dieser stellte bloß wortlos das Glas auf die Theke und ging schnurstracks wieder zurück in die Küche.

„Unhöfliche Leute gibt es heutzutage ... unhöfliche Leute“, schmollte Günter vor sich hin.

„Also, was ist jetzt mit dem Walenseeschloss?“, hakte Paul nach.

„Was mit dem Walenseeschloss ist? Ich sag dir, was mit dem Walenseeschloss ist. Mein Großvater hat mir einmal erzählt – damals, als er noch gelebt hat, versteht sich –, dass er einst einen Bekannten hatte, der drüben im Walenseeschloss als Diener gearbeitet hat. Aber dieser Bekannte, der lebt natürlich nicht mehr ... ich glaub, schon seit hundert Jahren nicht mehr ... Wirklich, hundert Jahre? Wie schnell doch die Zeit vergeht ...“

„Was ist mit dem Bekannten?“, fragte Paul nach, denn er war neugierig geworden. Vielleicht konnte er dem Mann einige Informationen über das Walenseeschloss entlocken.

„Ja, also, was war mit dem Bekannten? Ich sag dir, was mit dem war, pass nur auf! Der hat erzählt, was mit diesem riesigen Schloss passiert ist. Heute, ja, heute steht es leer. Einsturzgefährdet. Angeblich. Aber wenn ihr wüsstet, was da drin wirklich passiert ist ... wenn ihr das wüsstet!“

Günter nahm einen tiefen Schluck aus seinem Bierglas, das vor ihm auf der Theke stand.

„1870 war es, als sie ihn gefeuert haben. Den Diener, den Bekannten meines Großvaters. Gekündigt haben sie ihm! Und nicht nur ihm, sondern allen Bediensteten des Schlosses, einem nach dem anderen! Weil kein Geld mehr da war, mit dem sie bezahlt werden konnten!“, schrie Günter beinahe. „Verspielt hat er alles, der elendige Schlossbesitzer! Alles hat er verwettet, bei Pferderennen. Angeblich. Nichts ist übrig geblieben! Man hat sich erzählt, dass der Schlossbesitzer später ganz alleine im Walenseeschloss gestorben ist. Ganz alleine. Niemand war mehr da! Keine Bediensteten, keine Familie, keine Nachkommen, niemand. Und seitdem steht der Kasten leer.“

Günter starrte kurz verträumt in sein Bierglas.

„Einmal, hat mein Großvater erzählt, einmal wäre er dort gewesen. Beim Schloss. Als es schon seit Jahrzehnten leer stand. Er wollte reingehen und sich ein bisschen umsehen, du weißt schon, getrieben vom jugendlichen Abenteurerdrang. Und ob du’s glaubst oder nicht: Gerade als er reingehen wollte, fällt ihn eine riesige Wildsau an! Ja, eine richtig große!“

Günter streckte seine Arme aus, um die Größe des Wildschweins darzustellen. Doch Paul war nicht wirklich beeindruckt. Konnte er tatsächlich alles glauben, was dieser Mann erzählte?

„Und weißt du, was mein Großvater gemacht hat? Er hat reflexartig sein Messer gezückt, mein Großvater, der Held! Und abgestochen hat er sie. Mit einem einzigen Hieb! Natürlich, er hatte ja auch ein teures Messer. Handgefertigt, Schweizer Handwerkskunst, versteht sich ...“

„Danke, dass Sie mir so viel erzählen“, unterbrach ihn Paul, denn der Kellner war soeben wieder erschienen.

„Darf ich den Herren noch etwas zu trinken anbieten?“

„Ein Bier, bitte“, verlangte Günter.

„Nein, danke. Ich möchte zahlen“, sagte Paul. Für ihn war es an der Zeit, sich ins Bett zu legen und etwas auszuruhen. Schließlich standen morgen eine weite Wanderung und eine große Schlossexpedition auf dem Programm. Aber war es wirklich eine gute Idee gewesen, zum Walenseeschloss zu reisen? Denn die Geschichten, die der Einheimische erzählt hatte, schienen nicht sehr glaubhaft zu sein.

Nachdem Paul ausgetrunken und bezahlt hatte, verabschiedete er sich von Günter und verließ den Raum. Während er die Treppe hinaufstieg, ließ er sich noch einmal die Erzählungen des bärtigen Mannes durch den Kopf gehen. Waren sie wirklich wahr?

***

Der lärmende Reisewecker riss Simone sofort aus dem Bett. Müde rieb sie sich die Augen und schaltete den nervigen Alarm aus. Der Wecker war einer der wenigen Gegenstände, die sie aus ihrem Rucksack ausgepackt hatte. Denn sie würde das Hotelzimmer später bereits wieder verlassen, obwohl sie erst am Tag zuvor in Murg angekommen war. Ihr blieb nur heute für ihre Schatzsuche im Walenseeschloss.

Nach einigen Minuten hatte sich Simone angezogen und ihre Sachen gepackt. In Gedanken war sie schon dabei, zu überlegen, wie ihre Expedition im Walenseeschloss ablaufen könnte. Sie würde unten am Fuß der Felseninsel beginnen und sich dann bis ganz nach oben durcharbeiten.

Simone verließ den Lift und betrat die Hotellobby. Als Erstes ging sie auf den Kaffeeautomaten zu, den sie am Tag zuvor schon entdeckt hatte. Sie hatte zwar gerade keinen Hunger oder Durst, weil sie normalerweise nie frühstückte, aber ohne Kaffee würde ihre Schatzsuche bestimmt deutlich zäher verlaufen.

Eigentlich musste Simone nur jenes geheimnisvolle Turmzimmer finden, von dem in dem dicken Buch die Rede gewesen war.

Aber das konnte womöglich auch den ganzen Tag dauern, dachte sie, während sie die angenehm warme Flüssigkeit ihre Kehle hinabrinnen ließ. Der Kaffee entfaltete seine Wirkung und behagliche Wärme breitete sich langsam in ihr aus.

Nachdem sie sich gestärkt hatte, ging die Archäologin zur Rezeption. „Guten Morgen“, grüßte sie höflich. „Ich möchte heute einen Ausflug unternehmen, der voraussichtlich den ganzen Tag dauert. Kann ich auschecken, wenn ich heute Abend zurückkomme?“

„Selbstverständlich“, antwortete die Frau an der Rezeption freundlich. „Wohin geht Ihre Reise?“

„Ich möchte das Schloss im Walensee erkunden.“

„Dieses Schloss? Darin gibt es nicht viel zu entdecken. Es steht schon seit einer Ewigkeit leer und ist völlig mit Unkraut überwuchert. Sie wissen doch hoffentlich, was auf Sie zukommt, oder? Das Bauwerk könnte jederzeit einstürzen.“

„Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich bin Archäologin und habe schon in viel älteren und baufälligeren Gebäuden gearbeitet.“

„Na gut, wie Sie meinen. Viel Glück!“, wünschte die Hotelangestellte.

„Danke sehr!“ Mit diesen Worten verließ Simone das Hotel und machte sich auf den Weg zum Bootssteg am Walensee, der sich nicht weit von ihrer Unterkunft entfernt befand.

„Guten Tag! Ich möchte gerne ein Motorboot für einen Tag mieten“, trug Simone dem Bootsvermieter, einem kleinen, glatzköpfigen Mann, ihr Anliegen vor.

„Sehr gerne. Das kostet 200 Schweizer Franken.“

Nachdem Simone bezahlt hatte, betrat sie entschlossen das Wasserfahrzeug.

„Wo soll’s denn hingehen?“, fragte der Bootsvermieter, während Simone ihre Ausrüstung verstaute.

„Zum Walenseeschloss.“

„Tatsächlich?“, erwiderte der Mann verwundert und blickte in Richtung des Schlosses, welches in weiter Ferne zu erkennen war. „Sie wissen doch, dass diese Burg schon seit über hundert Jahren leer steht, oder?“

„Ja, das weiß ich“, antwortete Simone unbeirrt. „Und genau deshalb will ich dorthin. Helfen Sie mir bitte mit dem Rucksack?“

Der Mann kratzte sich nervös an seinem Glatzkopf. Er schien nicht sehr erfreut über Simones Vorhaben zu sein, als er den Rucksack packte und ins Boot hievte. „Na gut. Aber eines sollten Sie noch wissen, wenn Sie an dieser Insel anlegen wollen. Es gibt ein altes Bootshaus, das zur Burg gehört, aber es ist sehr, sehr lange nicht mehr verwendet worden. Vielleicht wissen Sie es nicht, aber der Wasserspiegel dieses Sees wurde im 19. Jahrhundert um fast sechs Meter gesenkt. Deswegen hängt dieses Bootshaus jetzt mitten in der Luft. Das ist der Grund, weshalb sich keine neugierigen Touristen in die Nähe dieses Schlosses begeben. Es ist nicht ganz einfach, an dieser felsigen, verlassenen Insel anzulegen.“

„Danke für Ihre Hilfe“, sagte Simone zufrieden, während sie ablegte.

„Viel Glück, und geben Sie Acht!“, hörte sie den Mann noch rufen, dann übertönte der Lärm des Motors seine Worte.

Als Simone allmählich in die Nähe der Felsinsel kam, konnte sie langsam einige Details des Bauwerkes erkennen, das darauf erbaut war. Viele der Dächer und Türme waren eingestürzt, verbogene Holzbalken und brüchige Steine ragten müde aus den uralten Mauern der Festung. Die gesamte Südhälfte der Burg war mit zahllosen Kletterpflanzen, Dornranken und sogar von Bäumen überwuchert, was ihr ein verlassenes, doch gleichzeitig eindrucksvolles Aussehen verlieh. Je näher Simone mit ihrem kleinen Boot dem riesigen Walenseeschloss kam, umso größer und außergewöhnlicher wirkte es. Bei dem Gedanken, dass sich dort drin vielleicht irgendwo ein Schatz befand, wurde ihr bewusst, dass sie einen langen Tag vor sich hatte.

Tasuta katkend on lõppenud.