Debütantenball

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Als die Tafel schließlich aufgehoben wurde, strömten die Militärs durch das Garnisonslager auf die Simmeringer Heide, wo bis spät in die Nacht gefeiert wurde. Stanislaus jedoch machte sich mit Franz, einem seiner Kameraden, auf den Weg in die Stadt. Stani zu seinem Rendezvous mit Mitzi, Franz mit einem Freibrief und Georgs Segen. »Geh Stani, nimm den Franzl mit, damit die Stanzi heut auch auf ihre Rechnung kommt«, hatte er gesagt.

Unwillig erst und unter leisen Beschimpfungen – »Ein Haderlump bist du, wie kannst das arme Mädl so schlecht behandeln, das hat sie sich net verdient« –, dann aber doch getrieben von seiner Sehnsucht nach Mitzis heißen Küssen, zog Stanislaus, schon ein wenig wackelig auf den Beinen, mit Franz im Schlepptau von dannen.

Im Gegensatz zu seinen Freunden war Georg geradezu nüchtern. Diese Nacht sollte zu seinem bisher größten Triumph führen. Aber dazu musste er bei klarem Verstand bleiben.

*

Es war ein kurzer Weg vom Haus seiner Eltern in der Johannesgasse zum Palais des Fürsten Metternich am Rennweg. Und doch erschien er ihm ewig lang. Die Ungeduld trieb ihn voran, ein Gefühl, das ihm, wie er irritiert und ein wenig verärgert feststellte, bisher völlig fremd war. Diese Frau brachte sein Blut in Wallung wie keine andere zuvor. Georg wusste, dass die angenehme Regelmäßigkeit seiner Gesichtszüge, seine schlanke, großgewachsene Gestalt, vor allem aber sein Charme, sein unwiderstehliches Lächeln, seine aristokratische Herkunft und der Zauber der Uniform ihn immer rasch ans Ziel brachten. Heute jedoch war es anders. Noch nie war er einer Frau begegnet, die schöner und erotischer war als sie. Und nie würde sie ihm ganz gehören, dessen war Georg sich bewusst. Doch schon ein Blick aus ihren großen dunklen Augen, die Berührung ihrer zarten Hand raubten ihm fast den Verstand.

Vor knapp zwei Wochen war er ihr zum ersten Mal begegnet, auf der großen Redoute in der Winterreitschule. Inmitten der zehntausend Gäste hatte er nur sie gesehen. Sie stand, eine Maske in der Hand, in einem Meer von Licht, inmitten von Orangenblüten und glitzerndem Kristall am Arm des Zaren Alexander. Er war fassungslos vor Erstaunen. Vergessen war die Zeit – und seine Begleiterin, die ihn bereits ungeduldig am Arm zog. Plötzlich nickte diese Göttin ihm zu und schenkte ihm ein Lächeln.

»Mach den Mund zu. Das ist die Fürstin Katharina Pawlowna Bagration. Die ist sogar für dich eindeutig ein Kaliber zu groß«, raunte ihm einer seiner Freunde ins Ohr. Georg erwachte wie aus einer Trance, verbeugte sich und führte das Mädchen an seiner Seite zur Tanzfläche.

Tage danach – seine Gedanken kreisten unentwegt um diese Frau, über die er mittlerweile mehr wusste, als seinem Seelenfrieden guttat – stand sie wieder vor ihm. Es war Donnerstagvormittag, er schlenderte gerade mit seinen Kameraden den Graben entlang, als die Fürstin an der Seite einer deutlich bescheidener gekleideten Dame auf ihn zuschritt. Ihr Dekolleté sprengte alle Regeln der Schicklichkeit – nicht nur in Anbetracht des jungen Tages – und brachte seinen Puls in Wallung. Mehr noch jedoch erregte ihn ihr aufmerksamer Blick. Da trat ihre Begleiterin auf ihn zu. Seinen eifrigen Nachforschungen sei Dank erkannte er Aurora von Marassé sofort, die Gouvernante ihrer Tochter Clementine.

»Die Fürstin wünscht Eure Begleitung.« Mehr sagte sie nicht. Doch diese wenigen Worte legten Georg den Himmel direkt zu Füßen.

Er verabschiedete sich von seinen Kameraden, die ihm teils erstaunte, teils neidvolle Blicke zuwarfen, und trat auf die Fürstin zu. »Darf ich es tatsächlich wagen, Ihnen meinen Arm anzubieten?« Seine Stimme klang bestimmter, als er sich fühlte.

»Ihr dürft. Wenn Eure Kameraden Euch dafür nicht den Löwen zum Fraß vorwerfen«, lächelte die Fürstin.

»Sollen sie es doch. Ihr habt mit mir gesprochen. Damit hat sich mein Leben erfüllt.« Georg konnte seinen Blick nicht von ihr wenden.

»Was für ein charmanter Lügner Ihr seid«, entgegnete sie. »Doch wolltet Ihr mir nicht endlich Euren Arm anbieten, bevor Ihr dem Tod so tapfer ins Auge seht?«

Langsam flanierten sie in Richtung Hofburg. Die wenigen Minuten ihrer Gegenwart genügten, um Georg vollends in Brand zu setzen. Ihre zierliche Gestalt, ihre atemberaubende Schönheit, die geistreiche Konversation, in die sie ihn unversehens verstrickte, machten ihn wehrlos. Vor der Hofburg hatte er sich verliebt, in der Herrengasse schwor er, allen anderen Frauen zu entsagen, am Eingang des Palais Palm war er ihr restlos verfallen.

Zum Abschied schenkte sie ihm ihr unwiderstehliches Lächeln. »Junge Offiziere sind doch allesamt fabelhafte Tänzer, nicht wahr? Und Ihr, Graf, bildet sicher keine Ausnahme. Oder irre ich mich?« Sie streckte Georg ihre schmale Hand entgegen.

Formvollendet beugte er sich über sie. »Mitnichten, Fürstin. Erlaubt mir, es Euch zu beweisen.«

»Nun, es wird sich eine Gelegenheit finden«, entgegnete sie.

Er blickte ihr noch nach, als sich das Tor längst hinter ihrer schmalen Gestalt geschlossen hatte.

Die Fürstin hatte ihr Versprechen gehalten und ihm zu einer der begehrtesten Einladungen ins Palais des Außenministers verholfen. Nun hoffte er inständig, sie beim Fest des Friedens nicht nur von Ferne und in Begleitung Zar Alexanders bewundern zu dürfen.

Das Palais war hell erleuchtet, livrierte Diener empfingen die Gästeschar, die sich über die Prunktreppe zu den Klängen der Musik nach oben bewegte. Der Empfang der Monarchen wenig später, die im Takt der Polonaise den weitläufigen Tanzsaal entlangschritten, beeindruckte Georg weit weniger als der Anblick der Fürstin in einer überwältigenden Robe aus blauem Atlas, die mehr enthüllte als bedeckte. Ein goldenes Gebinde aus Oliven und Eichenblättern schmückte ihre prächtigen dunklen Locken, ihre Brüste hoben und senkten sich, kaum gebändigt von der kunstvollen Raffung des glänzenden Stoffes. Schmal fiel das Kleid über ihre grazilen Hüften, gerade so lang, dass die Kreuzbänder ihrer blauen Seidenschuhe den Blick auf ihre zarten Fesseln lenkten.

»Nun, wie gefällt es Euch?« Völlig unbefangen trat die Fürstin geradewegs auf ihn zu.

»Ein wunderbares Fest, in der Tat«, entgegnete Georg. »Doch Eure Erscheinung stellt alles andere in den Schatten.«

»Ihr seid wohl nie um eine Antwort verlegen«, antwortete die Fürstin amüsiert. »Aber ich meinte mein Kleid.« Sie reichte ihm ihren Arm.

Georg spürte eine Hitze in sich aufsteigen, die, wie er inständig hoffte, der Fürstin verborgen blieb.

»Euer Kleid«, kurz rang er nach Worten, »ist kaum dazu angetan, Frieden zwischen den Völkern zu stiften. Zumindest nicht im männlichen Teil der Welt.«

Das perlende Lachen der Fürstin zog die Aufmerksamkeit des Zaren auf sich, der sich mittlerweile unter die Gäste gemischt hatte.

»Dann sollten wir die Bemühungen unseres Gastgebers nicht länger unterwandern.« Gezielt lenkte sie ihre Schritte auf die Terrasse.

Zu Georgs Erleichterung verstrickte General von Eichendorff Zar Alexander in ein Gespräch. Rasch bildete sich ein Grüppchen von Militärs um den russischen Monarchen.

Die laue Nachtluft umfing sie, als sie langsam die Terrasse betraten. Prüfend musterte sie ihn. »Ihr wirkt ein wenig nervös, Graf. Hättet Ihr es vorgezogen, in der Sicherheit der Menge zu verweilen und Eure Tanzkünste unter Beweis zu stellen?«

Erleichtert straffte er die Schultern. Sie spielte mit ihm, doch genau dieses Spiel hatte er erfunden. Endlich befand er sich auf sicherem Terrain. »Mitnichten, Fürstin«, entgegnete er mit einer eleganten Verbeugung und führte sie mit einigen routinierten Bewegungen im Takt der Musik, die leicht gedämpft durch die offenen Türen klang. »Jedoch liegt mir nichts ferner, als Eure Schönheit mit dem Rest der Welt zu teilen.«

Mit leicht geneigtem Kopf sah sie ihn an. »Ihr tanzt tatsächlich vorzüglich. Und Ihr wisst, was man über Männer zu sagen pflegt, die diese Kunst beherrschen?«

Ein feines Lächeln umspielte seinen Mund, als er sich über sie beugte. »Desgleichen weiß ich nicht. Allerdings würde ich es nie wagen, Euch zu widersprechen. Es liegt also ganz an Euch, darüber zu urteilen.«

»So bescheiden, Graf? Und gleichzeitig so forsch?« Die Fürstin hatte ihre Augen in Erwartung eines Kusses bereits halb geschlossen.

»Lasst uns tanzen«, bemerkte er leichthin und führte sie im Halbkreis um sich herum. »Es wäre doch fatal, wenn Ihr Euch irrtet.« Zufrieden nahm er ihren überraschten Blick zur Kenntnis. Die Luft knisterte, die Spannung zwischen ihnen war fast greifbar. Georg lächelte siegessicher. Unauffällig suchte er den Abgang von der Terrasse zum Garten, als plötzlich lauter werdendes Gelächter aus dem Saal an sein Ohr drang. Eine Gruppe tanzwütiger Damen und Herren bahnte sich ungestüm ihren Weg nach draußen, unter ihnen nicht nur Zar Alexander, sondern auch der Gastgeber, Fürst Metternich. Georgs Hochstimmung verflog, als er den Blick der beiden auf sich ruhen fühlte. Er wusste ihre Mienen nicht zu deuten, sie verhießen jedoch keinesfalls Gutes. Die Fürstin schien davon allerdings nicht im Geringsten beeindruckt. Im Gegenteil. Das Auftreten der beiden Männer schien sie geradezu zu beflügeln. Sie warf ihren Kopf zurück, sah Georg tief in die Augen und bewegte sich unter dem aufmerksamen Blick dreier Augenpaare langsam, aber bestimmt in Richtung Garten.

Georg gab sich einen Ruck. Und wenn es ihn den Kopf kosten sollte – eine Dame in dieser Situation allein zu lassen, wäre unverzeihlich. Mit festem Schritt folgte er ihr. Auch als die Fürstin, beleuchtet vom Schein der Gartenlaterne und für die immer größer werdende Zahl von interessierten Beobachtern auf der Terrasse gut sichtbar, den Weg verließ und zwischen den Büschen verschwand.

Auf einer kleinen Lichtung drehte sie sich zu ihm um. Im Mondlicht wirkten ihre Augen noch größer, ihre Lippen noch begehrenswerter. »Ein tapferer Entschluss, lieber Graf, mir so unerschrocken Gefolgschaft zu leisten.« Sie streckte ihm huldvoll die Hand entgegen. »Diese Tapferkeit gehört belohnt.«

 

Zögernd trat Georg auf sie zu. Wie weit war sie bereit zu gehen?

»Euch wird doch vor dem letzten Schritt nicht der Mut verlassen?«, spöttelte sie. Nun gab es für ihn kein Halten mehr – und schnell stellte er zu seiner größten Freude fest, dass sie trotz des gewagten Ambientes und vereinzelter spitzer Kieselsteine seine kühnsten Erwartungen bei Weitem übertraf.

Er musste eingeschlafen sein, denn erstaunt sah er die Fürstin makellos, als wäre nichts geschehen, vor sich stehen, ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen. »Kommt, junger Freund, erhebt Euch. Der Abend hat erst begonnen und es gilt, wie Ihr Euch sicher vorstellen könnt, noch zahlreichen anderen Verpflichtungen nachzukommen.«

Georg sprang in seine Hosen, versuchte seine Kleidung, so gut es ging, in Ordnung zu bringen und reichte ihr galant den Arm.

Offensichtlich hielt seine überhastet korrigierte Toilette Katharinas strenger Prüfung stand, denn sie nickte anerkennend. »Das gehört wohl zu den größten Tugenden der Offiziere. Auch nach dem härtesten Einsatz stehen sie sofort wieder ihren Mann.«

Sie musste seinen Blick richtig gedeutet haben, denn erneut schenkte sie ihm ihr aufreizendes Lachen. »Nicht doch, für heute ist es genug.«

Um einige Nuancen kühler fuhr sie fort: »Begleitet mich auf die Terrasse. Aber dann bedarf ich Eurer Gesellschaft nicht weiter. Zumindest nicht für heute Abend.«

»Wie Ihr wünscht, Fürstin«, entgegnete er, mit einem routinierten Lächeln darauf bedacht, den leichten Unmut nicht zu zeigen, den ihr allzu bestimmt geäußerter Wunsch in ihm erregte. Desgleichen war er nicht gewöhnt, bei Weitem nicht. In der Regel verliebten sich die Damen spätestens nach dem ersten Rendezvous in ihn. Doch löste sich sein Unbehagen umgehend in Luft auf, als er den Offizier erkannte, der ihm in Begleitung einer jungen Dame entgegenkam. Es war Trattenbach, der kaum glauben konnte, was er sah. Georg nickte ihm zu und steuerte, gleich wesentlich besserer Stimmung, die Terrasse an.

Sein Sieg wurde gekrönt, als Karl eine Stunde später bei der Quadrille auf ihn zutrat. »Die Bagration! Bist du völlig verrückt?«, flüsterte er.

»Manche Früchte hängen einfach zu hoch für dich, Trattenbach«, entgegnete Georg lachend.

Sein Kamerad schüttelte den Kopf. »Du spielst mit dem Feuer, Wohlleben. Man kommt einem Minister nicht in die Quere – und schon gar nicht einem Zaren.«

»Lass das ruhig meine Sorge sein. Diese Dame ist jeden Preis wert, das kann ich dir versichern«, antwortete Georg. »Aber was dich betrifft«, fügte er hinzu, »halt dich fern von Fanny. Mein Vater ist ein einflussreicher Mann, wie du sehr wohl weißt. Und er hütet meine Schwestern wie seinen Augapfel.«

»Ich verstehe.« Karls Augen straften sein verbindliches Lächeln Lügen. »Eine ewige Verlobte und ein kleiner Wildfang, der gepflückt werden will. Da hat er alle Hände voll zu tun, dein Herr Vater.«

»Ich warne dich, Karl. Hände weg von Fanny«, wiederholte Georg verärgert.

»Natürlich«, nickte Karl, verbeugte sich galant vor Georgs Dame und reichte ihr die Hand zum Tanz. »Du weißt doch, mein Freund, junger Wein bereitet nur Kopfschmerzen. Damentausch. Du erlaubst?«

Mit gemischten Gefühlen musterte Georg seine neue Tanzpartnerin, deren opulente Robe die sich darunter verbergende Fülle kaum zu bändigen vermochte, während er aus den Augenwinkeln beobachtete, wie Karl seine gertenschlanke Balldame nach einigen elegant ausgeführten Figuren und einem kurzen Wortwechsel auf die Terrasse führte. Er versuchte, seine aufsteigende Wut zu ignorieren. Da kam ihm das alles andere als unschuldige Lächeln des Mädchens gerade recht, das sich in diesem Augenblick enger an ihn presste, als der Tanz es eigentlich erlaubte.

»Verratet Ihr mir Euren Namen?«, flüsterte Georg ihr ins Ohr.

*

Fanny ließ ihre Stickarbeit sinken. Zum gefühlt hundertsten Mal starrte sie aus dem Fenster und verwünschte ihre Ungeschicktheit. Das aufwendige Muster aus Vögeln und Blüten wölbte sich im Stickrahmen wie zu heiß gewaschenes Leinen. Nie würde sie es wie Mama schaffen, den Faden in gleichmäßiger Spannung zu halten. Ihrer Mutter gingen alle Arbeiten spielerisch leicht von der Hand, Fanny liebte es, ihr zuzusehen. Doch immer, wenn Fanny glaubte, es ihr gleichtun zu müssen, wurde sie bitter enttäuscht. Innerhalb weniger Stunden entstanden unter Mamas tanzenden Händen wahre Kunstwerke, während sie selbst Mühe hatte, den nächsten Stich zu platzieren, und das Garn sich verwirrte oder gar verknotete. Ganz davon abgesehen, dass sie allzu bald die Übersicht über die verschiedenen Farben verlor, wodurch Rosen und Pfaue eher wirren Farbklecksen glichen.

Fanny trocknete die schweißnassen Hände mit ihrem Batist-Taschentuch und seufzte. Sie war im Vergleich zu ihren Geschwistern so hoffnungslos untalentiert. Schon eine kleine Bemerkung von Sophie brachte die Augen ihres Vaters zum Strahlen, während er sie selbst hingegen kaum beachtete. Er wurde nicht müde, Sophies umfassendes Wissen und ihre Redegewandtheit zu loben, auch wenn er immer wieder betonte, dass sie zu klug sei für eine Frau. Und Georg? Sein Charme, sein Humor und sein glänzendes Aussehen brachten sogar ihre Mutter zum Lachen. Er war einfach unwiderstehlich. Sie hingegen – ein weiterer tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust – konnte nicht einmal ordentlich sticken. Natürlich hörte sie häufig, wie hübsch sie anzusehen sei, aber bisher hatte sie damit niemanden beeindruckt. Außer diesen Mann.

Wieder und immer wieder ging sie im Geiste ihre Begegnung auf dem großen Fest durch, jedes seiner Worte, jeder Blick, jede Geste stand ihr so lebhaft vor Augen, als stünde er hier neben ihr. Seit Tagen schon verzehrte sie sich nach ihm, betete sie darum, ihn wiederzusehen. Georg hatte sich seither zu Hause kaum blicken lassen – doch war von ihm, so wie er sich auf dem Fest verhalten hatte, ohnehin keinerlei Unterstützung zu erwarten. Mit Sophie konnte sie nicht darüber sprechen, weil sie mit ihrer Schwester eigentlich nie über die Dinge sprach, die sie beschäftigten. Abgehoben wie sie war, würde Sophie sie wahrscheinlich nur mit einem ihrer verachtungsvollen Blicke strafen. Mama – du lieber Himmel, nein. Die würde ihr wahrscheinlich damit drohen, sie sofort in das nächste Mädchenpensionat zu schicken.

Fanny widmete sich wieder dem komplizierten Kopfschmuck des Pfaus, der nicht annähernd der Vorlage ähneln wollte.

»Na, Fanny, du bist heute aber fleißig.« Zärtlich strich ihr Mathilde von Wohlleben übers Haar.

Fanny schloss die Augen. Er hatte so wunderschöne Hände. Sie seufzte.

»Ist dir heiß, Kind?«, fragte Mathilde besorgt und legte ihr die Hand auf die Stirn.

»Nein, nein, Mama.« Fanny fühlte sich ertappt. »Aber Ihr wisst ja, wie mich diese Arbeit anstrengt. Ich bin einfach nicht begabt darin.«

Ihre Mutter lächelte. »Was zählt, ist das unbeirrbare Streben. Nur das stete Bemühen bringt uns unseren Zielen näher. Hab Geduld, Fanny.« Sie betrachtete Fannys Arbeit eingehender. »Siehst du, diese Rose hier ist dir ganz nett gelungen.« Mathilde nickte ihr aufmunternd zu. »Mach so weiter. Wenn ich von Tante Louises Salon zurück bin, wünsche ich dich schlafend vorzufinden.«

Fanny sprang auf. »Nehmt mich mit, bitte! Mir fällt hier zu Hause die Decke auf den Kopf. Ich langweile mich so furchtbar. Ich möchte –«

»Genug!«, schnitt ihr die Mutter das Wort ab. »Du wirst dich gedulden müssen. In wenigen Wochen ist dein Debüt. Bis dahin wirst du brav Unterricht nehmen. Dein Französisch ist miserabel, auch in der Kunst der Konversation lassen deine Fertigkeiten zu wünschen übrig. Also sei fleißig, dann wird die Zeit schnell vergehen.« Sie drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Vor allem aber solltest du lernen, dich wie eine Dame zu benehmen. Du weißt, der erste Eindruck hat keine zweite Chance. Du willst dir doch nicht selbst im Wege stehen wollen, oder?«

»Nein, Mama.« Fanny senkte den Blick und knickste gehorsam. »Ich verspreche, mich in Zukunft mehr zu bemühen.«

»Brav, Kind«, lobte sie die Mutter.

Mit finsterer Miene starrte Fanny ihr nach, bis sich die Tür hinter ihr schloss. Dann stampfte sie zornig auf. Geduld, Lernen, sich wie eine Dame benehmen – sie wollte Spaß haben, tanzen, flirten und einen Mann küssen, wie sie es bei Sophie gesehen hatte, damals, versteckt hinter einem Vorhang, kurz bevor Ludwig in die Schlacht zog.

Adele, die Kammerzofe, unterbrach Fannys düstere Gedanken: »Eine Frau von Altenburg wünscht Euch zu sprechen.«

»Mich? Wer …« Überrascht sah Fanny sie an. »Bist du sicher, dass …«

Da trat ihre Mutter an der Seite einer außergewöhnlich schönen, hochgewachsenen Dame ein. Sie schien etwas älter als Sophie zu sein.

»Stell dir vor, Fanny, die Baronin von Altenburg ist hier, um dir ihre Gesellschaft anzubieten. Elisabeth, es ist mir eine große Freude. Fanny ist bestimmt dankbar für etwas Zerstreuung. Sie wartet auf ihr Debüt. Ihr wisst, das ist eine schwierige Zeit.«

Elisabeth lächelte. »Ich kann mich gut erinnern. Man langweilt sich zu Tode, nicht wahr?«

Fanny nickte. Und jetzt erinnerte sie sich. Der Name der jungen Frau war des Öfteren in Gesprächen zwischen ihren Eltern gefallen. In welchem Zusammenhang bloß?

»Dann lasse ich die jungen Damen alleine.« Mathilde wandte sich zum Gehen. »Baronin, Ihr habt mein größtes Mitgefühl. So jung Witwe zu werden, muss schrecklich sein. Meinen Mann hat der frühe Verlust seines Freundes sehr mitgenommen. Wir denken oft an ihn, auch wenn mittlerweile mehr als ein Jahr vergangen ist.«

»Ich danke Euch«, nickte Elisabeth.

Nachdem Fannys Mutter das Haus verlassen hatte, herrschte langes Schweigen. Elisabeth betrachtete Fanny eingehend.

»Kann ich Euch etwas anbieten? Tee oder etwas Gebäck?«, fragte Fanny verlegen.

Elisabeth ignorierte ihre Frage. »Du bist wirklich so hübsch, wie er sagte.«

Ein Schwindel erfasste Fanny. »Wer?«, flüsterte sie.

»Baron von Trattenbach«, erwiderte Elisabeth. »Du hast ihn auf dem Fest im Prater kennengelernt. Seither spricht er von nichts anderem mehr.«

Fanny errötete. »Ihr kennt ihn?«

»Nicht so schüchtern, meine Liebe«, lachte Elisabeth. »Karl hat dich als durchaus selbstbewusste kleine Person beschrieben. Zumindest hat er bei eurer ersten Begegnung diesen Eindruck gewonnen.«

Fanny erschrak. »Weiß mein Bruder, dass Ihr hier seid?«

»Dummerchen, wo denkst du hin?« Elisabeth schüttelte den Kopf. »Das genau ist es doch, was wir vermeiden wollen. Oder?« Sie warf Fanny einen prüfenden Blick zu.

»Natürlich«, antwortete Fanny rasch.

»Nun, dann lass uns zur Sache kommen.« Elisabeth ließ sich mit einer anmutigen Bewegung auf dem Sofa nieder. »Karl möchte dich wiedersehen. Willst du das auch?«

Fannys Herz schien vor Glück zu zerspringen. »Natürlich«, hauchte sie, »lieber als alles andere auf der Welt.«

Elisabeth lächelte zufrieden. »Dann soll es so sein.«

In wenigen Worten erklärte sie Fanny ihren Plan. Elisabeth hatte Fannys Mutter gebeten, Fanny bei ihrer Einführung in die Gesellschaft begleiten zu dürfen. Ihre Mutter habe spontan zugestimmt. So könne Fanny sie jederzeit besuchen.

»In Begleitung selbstverständlich, ich werde möglicherweise nicht immer Gelegenheit haben, dich abzuholen«, fügte Elisabeth hinzu. »Du hast doch sicher eine Hausangestellte, die du mitnehmen kannst.«

Fanny nickte eifrig. »Ja, ein altes Dienstmädchen. Sie ist zwar schon ein wenig schwerhörig –«

»Wunderbar«, fiel ihr Elisabeth ins Wort. »Wir werden im Empfangssalon etwas plaudern und Tee trinken, dann ziehen wir uns zurück. Es gibt vieles, was ich dir zeigen und erzählen möchte, jetzt wo du in ein gesellschaftsfähiges Alter kommst.«

Fanny war irritiert. Was hatte das alles mit Baron von Trattenbach zu tun?

»Wie auch immer«, nahm Elisabeth den Faden wieder auf. »Im hinteren Salon wird uns Karl erwarten.« Sie lächelte maliziös. »Wenn du in Begleitung kommst, verschafft er sich seinen Zugang unauffällig über den Dienstbotentrakt.«

»Aber …« Fanny errötete.

»Keine Sorge.« Elisabeth scheuchte Fannys Bedenken mit einer Handbewegung weg wie eine lästige Fliege. »Er wurde bisher noch nie erwischt.« Sie betrachtete Fanny forschend. »Du wirst doch nicht kneifen, oder?« Ihre Stimme klang plötzlich samtweich, geradezu verführerisch. »Karl, ganz allein. Nur du und der Prinz deiner Träume. Das ist er doch, oder?«

 

Fannys Herz klopfte heftig. Es war, als würde Elisabeth ihr eine neue Welt eröffnen. Eine Welt der Wagnisse, der Freiheit, des Abenteuers. »Ja«, hauchte sie.

Zufrieden stand Elisabeth auf. »Dann sind wir uns einig, meine Liebe. Baron von Trattenbach wird sich freuen, das zu hören.« Sie schloss Fanny in die Arme. »Und hab keine Angst. Ich bin deine Freundin und werde alle deine Fragen beantworten.«

Fanny sah sie überrascht an.

»Nun«, führte Elisabeth aus, »ich denke, du wirst viele Fragen haben, die nur eine Frau beantworten kann. Karl ist keiner der wohlerzogenen Jünglinge, die Mütter gewöhnlich zum Debüt ihrer Tochter einzuladen gedenken. Er ist ein Mann, der weiß, was er will. Und du bist sehr jung – und unerfahren, nehme ich an.« Sie zog eine Augenbraue hoch.

Wieder errötete Fanny heftig.

»Du hast doch keine Angst, oder?« Elisabeth sah Fanny spöttisch an.

»Natürlich nicht«, entgegnete Fanny trotzig.

Elisabeth wandte sich zum Gehen. »Dann ist es ja gut. Baron von Trattenbach vergeudet seine Zeit ungern.«

»Warum macht Ihr das?«, fragte Fanny.

»Warum ich das mache?« Elisabeth lächelte. »Weil ich den Baron über die Maßen schätze und ihm gern diesen Gefallen erweise. Ich bin glücklich, wenn er glücklich ist. Und übrigens«, Elisabeth drehte sich noch einmal zu ihr um, »du kannst ruhig Du zu mir sagen. Jetzt, wo wir Freundinnen sind.«

Noch lange dachte Fanny über Elisabeths Worte nach. Sie vermochte sich keinen rechten Reim darauf zu machen, doch letztlich gab es nur eines, was zählte: Karl hatte sie wahrgenommen. Und mehr als das. Sie würde ihn wiedersehen. Fanny konnte ihr Glück kaum fassen.

*

Aufgeregt lief sie auf und ab.

»Nun beruhige dich, Kind«, schalt ihre Mutter. »Deine Freundin lässt sicher nach dir rufen, wenn sie da ist.«

Fanny drückte sich ihre Nase am Fenster platt. »Aber sie ist zu spät. Du wirst sehen, sie hat mich vergessen«, klagte Fanny.

»So ein Unsinn.« Die Gräfin schüttelte den Kopf. »Elisabeth ist eine wohlerzogene junge Dame. Und wohlerzogene junge Damen können sich durchaus einmal verspäten, aber sie vergessen kein Versprechen, das sie gegeben haben. Du wirst sehen …«

Adele trat ein. »Baronin von Altenburg ist da, gnädiges Fräulein.«

»Da siehst du«, lächelte Mathilde. »Kein Grund, sich Sorgen zu machen.« Sie legte Fanny den Arm um die Schulter und begleitete sie die Treppen hinunter in den Innenhof, wo eine Pirutsche auf sie wartete. Mathilde runzelte die Stirn. Zum einen überkam sie angesichts des todschicken Zweisitzers mit dem halb offenen ledernen Klappverdeck ein gewisses Unbehagen – sie hegte gegenüber diesen modernen Gefährten ein gewisses Misstrauen –, darüber hinaus saß Elisabeth auch noch alleine in der Kutsche.

»Guten Tag, Elisabeth«, begrüßte Mathilde die junge Frau. Suchend sah sie sich um. »Ihr seid allein? Wo ist Euer Kutscher?«

Elisabeth lachte. »Vater hat mir beigebracht, den Wagen selbst zu lenken. Guten Morgen, Gräfin. Ich hoffe, Ihr habt keine Bedenken, mir Fanny anzuvertrauen. Vater lobt mich als besonders besonnene Fahrerin. Ihr braucht Euch nicht zu sorgen, ich bringe Fanny wieder sicher nach Hause.«

»Mama, bitte!« Fanny stellte mit Entsetzen fest, dass ihre Mutter zögerte. Sie würde doch nicht …

»Nun gut«, gab Mathilde nach. Sie hatte sich auf einen ruhigen Tag ohne ihre recht anstrengende Jüngste gefreut. Sollte sie Fanny diesen Ausflug verbieten, würde das ihrem aufziehenden Kopfschmerz nicht wohl bekommen. »Dann werde ich Eurem Vater Glauben schenken müssen.« Sie drückte Fanny einen Kuss auf die Stirn. »Sei schön artig, meine Liebe.«

»Mama«, protestierte Fanny errötend. Es war ihr furchtbar unangenehm, vor Elisabeth wie ein Kind behandelt zu werden.

»Das wird sie, Gräfin«, erwiderte Elisabeth mit einem schelmischen Lächeln. »Nicht wahr, Fanny, du wirst immer brav tun, was man dir sagt? Das hast du mir versprochen.«

Fannys Gesicht hatte bei diesen Worten die Farbe reifer Wassermelonen angenommen. »Natürlich«, stammelte sie und reichte Josef die Hand, der ihr galant in den Wagen half. Fanny war verstimmt. Sie hatte sich auf diesen Ausflug gefreut, stolz, Elisabeth und dem Erwachsenwerden damit näher zu kommen. Und nun benahm sich Elisabeth ihr gegenüber nicht anders als ihre Mutter, machte sich sogar lustig über sie. Sie zog eine Schnute. Mussten denn alle Erwachsenen so ekelhaft sein? Sie hatte gedacht, Elisabeth wäre anders.

Elisabeth sah ihr aufmerksam ins Gesicht, als könne sie ihre Gedanken lesen. »Nun schau nicht so finster drein, Fanny. Was soll ich denn tun? Sie muss mir doch vertrauen, deine Frau Mama. Oder?«

Fanny zuckte die Achseln.

»Hab dich nicht so, ein wunderschöner Tag liegt vor uns. Lass uns nicht streiten, sondern ihn genießen.«

Fanny verschränkte bockig die Arme.

Elisabeth lachte. »Wie auch immer. Ich fand’s lustig. Und wenn du dich weiter so stur verhältst, verrate ich dir nicht, dass ich eine Überraschung für dich habe.« Fanny schmollte weiter.

»Wir fahren nicht in den Prater.«

Überrascht sah Fanny auf. Kurz vergaß sie ihre schlechte Laune. »Wieso, was machen wir?«

»Na siehst du, es geht doch.« Elisabeth schüttelte den Kopf. »Da hat Karl sich ja eine ganz Widerspenstige ausgesucht.«

Schon die Erwähnung seines Namens genügte, um Fanny Schauer über den Rücken zu jagen. »Und? Was machen wir?«, wiederholte Fanny ihre Frage neugierig.

»Wir fahren nach Klosterneuburg«, antwortete Elisabeth bestimmt.

»Aber das ist doch weit. Ich mag nicht so weit fahren«, nörgelte Fanny, die sich auf das bunte Treiben im Prater gefreut hatte, auf die nach der neuesten Mode gekleideten Damen, die dort ihre aktuellen Kreationen zur Schau stellten, und auf die vielen attraktiven Männer, die vielleicht, wie bei dem großen Fest, auch Fanny hin und wieder bewundernde Blicke zuwerfen würden. Klosterneuburg hingegen war – langweilig. Fanny stand ihre Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. »Ich mag aber in den Prater fahren«, brummelte sie leise.

Nun verlor Elisabeth die Geduld. Mit einem Ruck brachte sie das Gespann zum Stehen. »Jetzt hör mir mal genau zu, du störrisches kleines Ding.«

Erstaunt hob Fanny den Kopf. Elisabeth schien wirklich wütend zu sein.

»Ich bin hier nicht zu meinem Vergnügen. Wir fahren nach Klosterneuburg, und du wirst auf der Stelle dein freundlichstes Gesicht aufsetzen und mir nicht weiter den Tag verderben. Hast du verstanden?«

Fanny nickte kleinlaut. »Ist gut.«

Zufrieden brachte Elisabeth den Wagen wieder in Fahrt. »Du kannst ja schlafen, wenn du möchtest.«

Doch Fanny dachte nicht daran, sich auch nur einen Augenblick dieses aufregenden Tages entgehen zu lassen. Selbst wenn er sich nicht ganz nach ihren Vorstellungen entwickelte. Erst jetzt fiel ihr auf, wie viel Aufmerksamkeit sie erregten. Eine Frau, die ihre Kutsche selbst lenkte, bot offensichtlich einen äußerst ungewöhnlichen Anblick. Hoch aufgerichtet, die Zügel fest in der Hand, zog Elisabeth alle Blicke auf sich. Ein kleines Hütchen mit aufwendigem Federschmuck thronte auf ihrem Kopf, nur gehalten von dem kunstvoll aufgesteckten, leuchtend roten Haar, das hervorragend mit ihrem modischen braunen Reitkleid harmonierte. Perfekt dazu abgestimmt hatte sie ein bunt gemustertes Halstuch um den hohen Rüschenkragen ihrer weißen Leinenbluse geknotet, dessen Farben das intensive Grün ihrer Augen noch betonten. Sie sah einfach umwerfend aus, stellte Fanny neidlos fest.

Während sie ihren gemeinsamen Auftritt in vollen Zügen genoss, bemerkte Fanny, dass auch Elisabeth sich ganz offensichtlich amüsierte. Die empörten Blicke und das entrüstete Kopfschütteln, mit denen sie manche Dame bedachte, schienen ihr Vergnügen keineswegs zu beeinträchtigen. Im Gegenteil. Ihnen schenkte Elisabeth ein besonders huldvolles Nicken.