Loe raamatut: «Tin Men», lehekülg 2

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2

»Findest du mich fett, Jennifer?«

Das Stöhnen vor der Antwort fiel zu kurz aus, um als genussvoll durchgehen zu können. »Baby, ich heiße Jenny. Hab ich dir doch gesagt.«

Einen Moment lang vergaß Dennis seinen Bauch und lachte etwas zu laut für den Raum. »Du bist alles andere als eine brave Jenny.«

Jennifer holte scharf Luft und zog den Kopf zurück. Ihre Lippen waren gekräuselt, als hätte sie einen sehr schlechten Geschmack im Mund. »Niemand nennt mich Jennifer.«

Dennis grinste. »Ich schon.«

Jennifer erkannte die Gemeinheit in dem Grinsen und wusste, dass eine Diskussion sinnlos war. »Du klingst wie mein Vater.« Das Gemeine wurde fast boshaft.

»Echt?«

Jennifer lächelte, während sie sich langsam vorbeugte. Wenn sie etwas konnte, dann den Moment nutzen. »Ja – Daddy.«

Dennis seufzte auf, als sich Jennifer wieder daran machte, ihren Fünfziger zu verdienen. Sie war gut, und alles war auf einem guten Weg gewesen, bis Dennis zufällig sein Spiegelbild in der Balkontür erblickt hatte. Er konnte sich nicht davon abhalten, wieder hinzugucken.

»Im Ernst, findest du mich fett?«

Jennifer stand seufzend auf und ging zum Sofa. »Willst du jetzt lieber einen Personal Trainer oder machen wir hier weiter? Weil, für beides haben wir keine Zeit.«

Dennis ignorierte die Frage und strich mit den Fingern über seinen Bauch. Er beobachtete die Geste im Fenster. Das Spiegelbild bestätigte, was seine Hände ihm sagten – er war fett. Er hob seinen Bauch an und musterte jeden einzelnen der dunkelrosa Schwangerschaftsstreifen, die sich über die blasse Haut zogen. Sie waren sogar in der drei Meter entfernten Scheibe noch zu erkennen.

»Ich bin fett«, sagte Dennis, mehr zu sich selbst als zu Jennifer.

»Du bist nicht fett, Baby. Du siehst männlich aus. Wie ein Mann, der hart arbeitet. Ich kann deine Muskeln sehen, das macht mich ganz heiß.«

Dennis löste den Blick von seinem Spiegelbild und wandte sich Jennifer zu. Sie hatte die Knie unter sich gezogen. Der von der Sonne ausgeblichene Sofabezug war einst ein farbenfrohes Muster aus verschiedenen Vögeln auf beigem Hintergrund gewesen. Das kleine Schwarze, straff gestreckt und eine von Jennifers Schultern entblößend, hob sich von den ausgeblichenen Vögeln ab. Jennifers High Heels lagen umgekippt auf dem Boden.

Dennis schüttelte den Kopf und nickte mit dem Kopf in Richtung der von dem hochgerutschten Kleid entblößten Haut. »Du lügst. Ich bin zu fett für dich.«

Jennifer rutschte auf den Fußboden hinunter und krauchte langsam auf Dennis zu, wie eine Katze auf der Jagd.

»Du bist nicht fett, du bist mächtig. Und das macht mich heiß. Das kann man nicht sehen – das spürt man. Ich zeige es dir.«

Dennis vergaß die Fensterscheibe. Er vergaß alles außer Jennifers Mund, bis sein Handy zu klingeln begann, das auf dem Couchtisch lag und durch die Vibration langsam über die Glasplatte rutschte. Dennis versuchte, sich auf das Schnurrgeräusch zu konzentrieren, das Jennifer von sich gab, aber das Telefon war stärker – das Telefon war immer stärker. Er schob Jennifer weg und ging zum Couchtisch. Dabei erhaschte er in dem Spiegel neben der Wohnungstür einen Blick auf seinen Kopf und die Schultern und dachte einen Moment lang, Jennifer könnte recht haben – er sah eigentlich ganz mächtig aus. Er wischte über das Display des Smartphones und trat dichter an den Spiegel heran. Als er die Schwangerschaftsstreifen aus der Nähe sah, wandte er sich ab.

»Hamlet.«

»Dennis, Jerry hier. Ich brauch dich an der 110 Ferguson Avenue South.«

»Jerry, heute ist mein freier Tag. Ich weiß, dass der Tag praktisch um ist, aber auch die Nacht gehört mir. Komm schon, Mann, ich hab ein Mädchen da.«

Jennifer warf sich das Haar über die Schultern und ihm einen Luftkuss zu.

»Eine von uns hat’s erwischt. Julie Owen, Detective bei der GANG-Einheit. Mir egal, ob heute Weihnachten ist, du bist dran.«

»Bin sofort da.«

Dennis drückte den Anruf weg, ging zum Sofa und hob seine Unterhose auf.

»Verschwinde«, sagte er.

»Aber wir hatten doch gerade Spaß, Daddy.«

Dennis zog seine Hose an und kramte drei Zwanziger aus der Tasche. »Nimm das und geh, Benjamin

Jennifer stand auf und zog das Kleid zurecht. »Wer –«

»Ich kenn deine Akte – wo du gewesen bist, was du gemacht hast. Ich weiß, wie dein Vater dich genannt hat, Benjamin.«

Dennis wedelte mit den Geldscheinen, bis Jennifer sie ihm aus der Hand zog. Kaum war die Transaktion vollbracht, packte er Jennifer am Arm und schob sie zur Haustür. »Warte, meine Schuhe.«

Er stellte Jennifer an der Haustür ab. »Bleib hier«, sagte er, ging zurück ins Wohnzimmer, sammelte die High Heels vom Teppich auf und warf einen Schuh nach dem anderen in Richtung Tür. Jennifer schützte ihren Kopf mit den Händen und ließ die Schuhe gegen die Wand prallen.

»Du fängst schlechter als ein Mädchen«, sagte Dennis.

»Dafür mache ich eine Menge anderer Dinge besser als die meisten Mädchen. Leider wirst du das heute nicht rausfinden. Vielleicht morgen?«

Dennis öffnete die Tür und schob Jennifer nach draußen. Er wollte die Tür wieder schließen, hielt jedoch inne, als sie noch einen Spalt offen stand. »Vielleicht morgen«, sagte er.

»Wir haben ein Date, Daddy.«

Dennis schloss die Tür und machte sich fertig.

3

»Wo ist das verdammte Pizzastück?«

Woody bekam keine Antwort, er redete mit sich selbst. Eine schlechte Angewohnheit, die sich im letzten Jahr festgesetzt hatte wie Hautausschlag. Woody kramte durch Stapel alter Pizzaschachteln, als wären es Akten, er suchte nach den Resten der Pizza von gestern. Die Schachteln sahen alle gleich aus, und Woody versuchte, sich zu erinnern, welche Seite der Küchentheke der Anfang und welche das Ende war. Da lagen um die vierzig Schachteln, und er hatte das dumpfe Gefühl, am falschen Ende angefangen zu haben. Er stand neben dem Kühlschrank. Obwohl er gerade eine Zwölf-Stunden-Schicht und drei Bier hinter sich hatte, funktionierte seine Coplogik noch.

»Die Schachteln am Kühlschrank müssten die älteren sein, weil, da würde ich stehen und essen, wenn die Küche leer wäre. Ich würde zum Essen was trinken wollen und die Schachtel abstellen, um mir ein Bier zu holen.«

Um seine Hypothese zu überprüfen, hob Woody den Deckel der untersten Schachtel neben dem Kühlschrank an und fasste hinein. Er fand kein Pizzastück, dafür etwas, das er erst mal vom Boden der Schachtel abpulen musste. Er stieß den Fingernagel hinein, dann zog er die Hand aus der Schachtel und hielt sie sich vors Gesicht. Um Licht zu haben, musste er sich umdrehen. Die 40-Watt-Funzel, mit der er die alte Birne in der Küche ersetzt hatte, war zu schwach. Aber er hatte keine andere im Haus gehabt, und um Ersatz hatte er sich nie gekümmert. Das Dämmerlicht enthüllte, dass es sich bei dem gefundenen Klumpen ehemals um eine grüne Olive gehandelt hatte. Obendrauf spross Schimmel, aber der verschrumpelte Teil, der an der Pappschachtel festgeklebt hatte, war noch immer grünlich.

Woody nickte und umrundete die Kücheninsel, deren Granitoberfläche mit Werbewurfsendungen und alten Essensschachteln vom Chinesen übersät war. Die Kücheninsel endete am Mülleimer. Woody konnte den Abfall selbst bei geschlossenem Deckel riechen und versuchte, sich zu erinnern, wann er zuletzt den Müll rausgebracht hatte. Kein gutes Zeichen, dass er nicht wusste, an welchem Tag die Müllabfuhr kam. Das Grummeln in seinem Magen ließ ihn den Müll vergessen; er hielt direkt auf die oberste Schachtel des letzten Stapels zu und förderte ein Pizzastück von gestern mit Schinken und Ananas zutage.

»Elementar, mein lieber Watson«, sagte er laut.

Die Pizza war kalt und ziemlich fade, die Ananas aber noch ein bisschen feucht. Woody hatte sich nie was aus Ananas gemacht – das war ihr Lieblingsbelag gewesen. Woody war sicher, dass sie Ananas nur bestellt hatte, damit er ihre Pizzahälfte nicht aß. Aber ein Jahr täglichen Pizzakonsums hatte Woodys Geschmack verändert. Nach sechs Monaten war ihm schon bei dem Gedanken an Peperoni und Salami, seiner Standardbestellung, übel geworden. Also musste er entweder etwas anderes bestellen oder kochen lernen. Woody hatte begonnen, sich andere Beilagen auszusuchen, und festgestellt, dass er Pizza weiterhin essen konnte. Ananas vermied er noch ein paar Monate, aber irgendwann war er eingeknickt und hatte das Obst bestellt. Eine Zeit lang aß er wegen der Ananas dann weniger. Er starrte so lange die Pizza an, bis er weinen musste. Aber eines Abends hatte er nur noch die Ananashälfte im Haus gehabt und sie schließlich gegessen. Es war nicht so schlimm gewesen wie erwartet. Fast hatte er das Gefühl, sie wäre noch da. Die Frucht passte nicht zur Pizza, aber der Gedanke, dass sie durch die Tür kommen könnte, um ihre Hälfte zu essen, machte die Pizza genießbar.

Woody stopfte sich die letzten beiden Stücke in den Mund und kaute gerade ausreichend, um sie runterschlucken zu können. Was noch in der Kehle steckte, rutschte mit einem Schluck aus dem vierten Bier runter. Eigentlich hatte Woody keinen Appetit, sein Heißhunger galt etwas anderem. Die kalte Pizza und das Bier waren nur das Vorspiel. Er fand noch eine übrig gebliebene Kruste in der Schachtel. Die Kruste war schneller gealtert als der Rest, Woody musste kleine Stücke abbrechen und sie im Mund aufweichen, bevor er den harten Teig runterwürgen konnte. Während er an dem letzten Stück nagte, starrte er die Schublade an. Er wollte eigentlich überhaupt keine Pizza.

»Scheiß drauf«, sagte er laut.

Er warf die Kruste in Richtung Spülbecken und hörte sie gegen ein Glas klirren, das ganz oben auf dem dreckigen Geschirrstapel stand. Das Abwaschen hatte er schon vor Monaten aufgegeben, irgendwann waren ihm saubere Teller, Gläser, Besteck und Schüsseln ausgegangen. Was nicht aus einer Schachtel gegessen oder einer Flasche getrunken werden konnte, wurde in seinem Haus einfach nicht mehr verzehrt. Woody zog die Schublade auf und griff hinein. Sie war fast leer. Die Messer und Kochutensilien, die einst darin gelegen hatten, waren jetzt im Spülbecken oder unter den Müllhaufen auf der Arbeitsfläche begraben. Übrig geblieben waren nur noch ein Flaschenöffner und eine kleine Schminktasche, die ihr gehört hatte. Als Woody die Tasche zum ersten Mal in die Hand nahm, hatte sie nach ihrem Parfüm geduftet. Stundenlang hatte er daran gerochen, bis sie nur noch nach seinem schalen Atem stank. Auch jetzt verströmte sie einen furchtbaren Geruch, der ihm aber den Puls in die Höhe trieb. Es war ihm peinlich, dass der Gestank ihn mehr erregte als früher ihr Duft. Er nahm die Tasche, hielt kurz inne und zählte im Kopf nach, wann er sie zuletzt in der Hand gehabt hatte – erst vor zwei Tagen. Einen Moment lang überlegte er, sie wieder wegzulegen. Aber er war in letzter Zeit kränklich gewesen und so müde. Er arbeitete zu viel und bekam nicht genug Schlaf, war erschöpft und nervös und brauchte dringend Entspannung. Das war alles. Er griff schneller wieder zu der Tasche, als ihm lieb war und am Wochenende hatte er frei und konnte Schlaf nachholen. Mit ein bisschen Schlaf wäre bald alles wieder normal. Woody überwand seine Gewissensbisse und nahm die Tasche mit ins Wohnzimmer.

Der Fußboden war mit alten Zeitungen und noch älteren Pizzaschachteln übersät. Jedes Sofa und jeder Sessel waren von ordentlich aufgestellten Ringen leerer Flaschen umzäunt, um den La-Z-Boy-Sessel herum gleich dreireihig, hier saß er am liebsten. Woody legte die Tasche auf den Tisch neben dem Sessel und setzte sich vorsichtig hinein, um keine der Flaschen umzustoßen. Das abgenutzte braune Leder ächzte, als er sich in die Kissen lehnte. Er ließ seine Knöchel knacken und zog den Reißverschluss der Schminktasche auf. Sie enthielt eine Glaspfeife, ein Feuerzeug und einen kleinen Ball aus Alufolie. Woody zog die Folie auseinander und betrachtete die auf der zerknitterten Oberfläche liegenden Reste. Nur noch drei kleine Heroin-Rocks – weniger, als er gedacht hatte.

»Billigscheiße hält nie lange«, sagte er. Was immer Joanne ihm dieses Mal verkauft hatte, musste mit irgendwas verschnitten worden sein. Augen auf beim Drogenkauf. Egal, für heute Nacht würde es reichen. Er würde schlafen können und dann eine Weile nichts mehr brauchen. Es sei denn, die Erkältung verschlimmerte sich. Dann würde er ein bisschen Medizin brauchen, aber wahrscheinlich würde es dazu nicht kommen. Woody wurde kaum jemals ernsthaft krank.

Er hielt das Feuerzeug unter die Folie. Die Flamme erweckte das Heroin zum Leben, es zischte wie eine beschworene Schlange. Die Rocks verwandelten sich von fest zu Rauch, der sich wie eine Kobra in die Luft erhob, bevor Woody ihn mit der Pfeife in seine Lungen sog. Dort hielt er ihn, bis sein Kopf leicht wurde, dann blies er ihn aus. Den nächsten, rasch folgenden Zug hielt er noch länger. Beim Ausatmen hustete er. Nach dem dritten Zug sah er Sterne. Es dauerte kaum eine Minute, dann war alles in der Folie weggeatmet. Woody nutzte die geschwärzte Folie als Untersetzer für die Pfeife und das Feuerzeug. Mit den freien Händen suchte er auf beiden Seiten seines Hinterteils nach der Fernbedienung für die Stereoanlage, fand sie unter der rechten Arschbacke und drückte zu. Sekunden später erklangen die Anfangstöne von »Gimme Shelter« aus den Lautsprechern. Woody zog am Hebel des La-Z-Boys und lehnte sich so weit wie möglich zurück. Er war nicht high, bloß entspannt und gedankenverloren. Sein Hirn war im Leerlauf, er dachte an nichts.

So trieb er, bis ein neuer Klang im Lied, ein atonales Quietschen, ihn aus seinem Schweben im Nichts riss. Irgendwann verarbeitete sein Hirn den Ton und ordnete ihn seinem Handy zu. Woody stand auf, schlurfte in die Küche, nahm seine Jacke von dem Poststapel auf der Kücheninsel und kramte sein Telefon heraus.

»Yeah?«

»Scheiße, was ist los, Woody? Ich wollte gerade auflegen.«

»Nur die Gegenwart zählt, Jerry.«

»Witzig. Ich brauche dich an der 110 Ferguson Avenue South.«

»Ich komm gerade vom Dienst, Jerry. Jetzt ist wer anders dran. Ruf den an.«

»Würde ich gerne, aber ich hab hier einen toten Cop und bestelle dich ein.«

»Wer?«

»Julie Owen. Sie war bei der GANG-Einheit. Echt schlimme Horrorscheiße, Woody. Ich brauch dich.«

»Hast du Os angerufen?«

»Ja, er ist auf dem Weg.«

»Ich bin in zehn Minuten da.«

Als Woody auflegte, sang Mick Jagger gerade »Love in Vain«. Woody ging langsam ins Badezimmer im ersten Stock. Während das Waschbecken sich mit kaltem Wasser füllte, starrte er in den Spiegel. Er sah müde aus. Bestimmt wurde er doch richtig krank. Als das Waschbecken voll war, tauchte er sein Gesicht in das kalte Wasser. So blieb er, bis der Schock nachließ. Als er den Kopf rauszog, stellte er fest, dass er überall Wasser verteilt hatte. Er griff zu dem Händehandtuch, das er nie wusch, und trocknete sich Gesicht und Haare ab. Er ließ das Wasser ablaufen, der Rest konnte von allein trocknen. Als er seine Jacke anzog und zur Tür hinausging, fühlte er sich wach und munter.

4

Es gab keine einzige Parklücke – jeder Zentimeter der Ferguson Avenue in Sichtweite des Gebäudes war mit Einsatz- und Zivilwagen zugeparkt.

Os stellte sich auf einen Behindertenparkplatz hinter dem Gebäude und stieg aus seinem Jeep. Er trat ein paar Schritte zurück und betrachtete die heruntergekommene Fassade – das Haus war alt, niemand schien auch nur ansatzweise für seine Instandhaltung zu sorgen. Er ging um die Ecke und traf am Eingang auf die erste blaue Welle: Uniformierte Cops schwirrten dort herum, ein paar schienen sich halbherzig um das Absperren des Hauses zu kümmern, die meisten standen rum und quatschten. Noch waren keine Reporter vor Ort, und die meisten Menschen nahmen beim Anblick einer Massenansammlung von Cops Reißaus. Das Absperren war eher Formsache.

Os fiel auf, dass das Blumenbeet vor dem Haus an mehreren Stellen zertrampelt war. Sofort war er sauer, dass das Beet nicht gesichert worden war, damit die Kriminaltechniker Fotos machen konnten. Er wollte sich gerade einen der herumstehenden Uniformierten schnappen, als etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Er stellte sich auf die betonierte Blumenbeetbegrenzung, und sein Blick folgte den heruntergetrampelten Pflanzen bis zu einer Kotzelache. Die Lache bestand aus weitgehend unverdautem Essen, und wie Os sah, hatte der, der da gekotzt hatte, vor nicht allzu langer Zeit eine Pizza verspeist. Eineinhalb Meter weiter war noch eine Lache, älter als die erste und vornehmlich aus Schaum und Gallenflüssigkeit bestehend. Ernüchtert entdeckte Os ein Stück weiter noch eine dritte Pfütze. Das Blumenbeet war kein Beweismittel, hier war kein Täter durchgerannt. Die Ersteinsatzkräfte hatten nach der Begutachtung des Tatorts ihr Abendessen erbrochen. Os starrte die drei Lachen an und fragte sich, was drei Cops dazu gebracht haben konnte. Cops hatten stärkere Mägen als die meisten Möwen. Os hatte Tote gesehen und war dann Chickenwings essen gegangen. Er hatte Burger verspeist, nachdem er verkohlte Leichen aus einem Autowrack gezogen hatte. Der Job hatte ihm noch nie den Appetit verdorben. Dafür hatte die Armee gesorgt, dort hatte er monatelang nichts essen können, bis er gegen jede erdenkliche Art menschlicher Grausamkeit abgehärtet war. Os hatte oft erlebt, dass sich Anfänger beim Anblick einer frischen Leiche die Seele aus dem Leib kotzten, aber so heftig hatte er noch nie drei Cops auf einen Tatort reagieren sehen. Er wandte sich ab und drängte sich durch den Copschwarm zum Eingang durch. Dabei fing er die Blicke von mehreren der herumstehenden Uniformierten auf, die schnell den Kopf senkten und den Boden anstarrten. Die Stimmen waren gedämpft – noch ein schlechtes Omen. Polizisten waren die Meister der schlechten Witze. Os konnte sich bei jedem Cop, dem er je begegnet war, an einen Witz erinnern. Meistens kamen sie nicht von ihm, manchmal schon. Schweigende Cops waren nicht gut.

Keiner der Uniformierten hielt Os auf, als er Julies Wohnhaus betrat. Die Tür wurde mit einem Keil offen gehalten, damit nicht jeder klingeln musste. In der Lobby standen Detectives in Zivilkleidung. Es war seltsam, wie sich die Polizei an einem Tatort immer in hierarchischen Grüppchen zusammenfand. Höherrangige sammelten sich im Gebäude an, die Uniformierten hielten sich draußen auf dem Gehweg auf. Viele der Gesichter waren Os bekannt. Als er Paul Daniels erblickte, hielt er inne.

»Paul«, sagte er.

Paul hob den Blick vom Fußboden und nickte Os zu.

»Bist du gerade gekommen?«, fragte Paul.

»Der Anruf kam vor zehn Minuten. Und du?«

»Hab’s auf Funk gehört und bin hergefahren, als es hieß, es sei eine von uns.«

»Julie«, sagte Os. Bei ihrem Namen brach ihm leicht die Stimme. Um es zu verbergen, räusperte er sich.

»Ja«, sagte Paul. »Julie.« Er sprach es ohne ein Räuspern aus. »Sieht schlimm aus da oben, Os. Echt schlimm. Da willst du nicht hoch.«

»Jerry hat mich herbestellt. Wo ist er?«

»Oben.«

»Dann bleibt mir wohl keine Wahl«, sagte Os.

Paul zuckte die Achseln, und Os drängte sich durch die dicht an dicht stehenden Männer zum Aufzug durch. Es roch nach Schweiß und Rasierwasser. Die Menge brach so plötzlich ab, als stünden die Detectives am Rande einer Klippe. Niemand wollte in der Nähe der Aufzüge stehen. Os trat in die Lücke und drückte den Knopf nach oben. Er spürte die Blicke der anderen Cops im Rücken, wandte sich aber nicht um. Er dachte an Julie und das, was ihn oben erwartete. Die Fahrstuhltür ging auf, Os trat ein und drückte die Neun.

Der Aufzug war schnell. Ein altes Modell, Komfort hatte keine Rolle gespielt. Os spürte die Geschwindigkeit im Magen, während er durch den Schacht nach oben sauste, und als der Aufzug im neunten Stock abrupt stoppte, knickten ihm kurz die Knie weg. Die Türen gingen auf, und Os erblickte die oberen Sprossen der Hierarchieleiter: Im Flur standen ein Inspector, zwei Superintendents und der Deputy Chief. Alle vier sahen ihn an, als würden sie eine Erklärung erwarten, was er hier oben unter Männern zu suchen hatte, die weitaus mehr verdienten als er.

»Jerry McLean hat mich herbestellt«, sagte Os und stieg aus.

Der Deputy Chief, ein blasser Mann Ende fünfzig mit Hasenzähnen und Ohren, die wie Satellitenschüsseln vom Kopf abstanden, nickte und sagte: »Jerry.« Er sprach so leise, dass Os ihn kaum hörte. Normalerweise wimmelte es an einem Tatort von Cops, die überall herumliefen und ermittelten, aber hier im neunten Stockwerk von 110 Ferguson Avenue South sprach der Deputy Chief gerade so laut, dass Jerry wie ein bei Fuß gerufener Hund aus der Tür kam.

Jerry sah Os, machte eine jähe Kopfbewegung in die Richtung, aus der er gerade gekommen war, und ging wieder in die Wohnung. Os folgte ihm, die vier Männer beobachteten jeden seiner Schritte, als müssten sie Punkte vergeben. Os nahm die Blicke kaum wahr, er hatte nur Augen für die Tür.

Vom Flur aus sah er rechts das Wohnzimmer und geradeaus die Küche. Das Wohnzimmer war genauso ordentlich, wie Os es in Erinnerung hatte. Auf jeder glatten Oberfläche stand irgendein Dekoartikel: Duftkerzen, Blumenvasen und Bilderrahmen, alle sorgfältig arrangiert. Die Blumen in den Vasen waren unecht, und die Bilder sahen aus, als hätte man sie aus einem uralten Fotoalbum befreit. Os ging geradeaus und war nach zwei Schritten in der Küche. Der Boden war sauber und das Spülbecken fleckenlos. Julie hatte die Angewohnheit, alle Stahloberflächen so abzuwischen, dass sie wie neu aussahen. Hinter der Küche lag das Esszimmer. Den Raum zwischen Küche und Wohnzimmer als Esszimmer zu bezeichnen, wäre vermessen gewesen, er bot kaum genug Platz für den Tisch und den Stuhl, die dort standen. Os drängte sich am Tisch vorbei ins Wohnzimmer und sah, dass Jerry auf ihn gewartet hatte und sich jetzt umdrehte, um durch den kurzen Flur ins Schlafzimmer zu gehen. Er bekam nicht mit, wie langsam Jerry sich bewegte, bis er fast in ihn hineinrannte. Der dicke Detective Sergeant holte tief Luft und betrat das letzte Zimmer. Os holte ebenfalls Luft und folgte ihm. Er sah das Bett, war eine Sekunde später wieder im Flur und stürmte zum Badezimmer.

Drei Einsätze in Afghanistan, zwölf Jahre als Cop – nichts davon hatte ihn auf das Schlafzimmer vorbereitet. Zum ersten Mal in fast dreizehn Jahren musste sich Os beim Anblick einer Leiche übergeben. Er hing tief über der Kloschüssel und würgte. Der Drink, zu dem er nie die Gelegenheit bekommen hatte, hätte alles nur lauter und unschöner gemacht. So kam nur ein bisschen Galle hoch, die Os ins Wasser spuckte. Er hob den Kopf aus der Schüssel und richtete sich langsam wieder auf. Als er sich umdrehte, merkte er, dass die Tür zu war und Jerry in dem winzigen Bad eine Menge Platz einnahm. Die starken Lampen über dem Waschbecken und die helle Deckenbirne enthüllten gnadenlos den schlechten Zustand seiner Haut. Die Nase war von dunkellila Venen durchzogen, die Wangen mit Aknenarben aus der Jugend übersät. Beim Rasieren hatte er eine Stelle am Hals übersehen. Wegen der dicken Wangen kam das vermutlich häufig vor. Außerdem war deutlich zu erkennen, dass Jerry sauer war.

»Verdammt, Os«, flüsterte er. »Ich hab dich herbestellt, weil ich den hohen Tieren gesagt hab, du kannst damit umgehen. Ich weiß, dass sie eine von uns ist, aber ich hab gedacht ... Scheiße, keine Ahnung, was ich gedacht habe.«

Os wusste, was Jerry gedacht hatte. Os kannte die Sprüche, die über ihn kursierten: Man nannte ihn Blechmann, harte Schale, kein Herz. Das war losgegangen, nachdem Os mit einem Zeugen Paschtunisch gesprochen hatte. Irgendwer hatte dann rausbekommen, dass Os in Afghanistan gedient hatte. Am nächsten Tag war Sand in seinem Schließfach gewesen, und jemand hatte einen Polizeihund zu seinem Schreibtisch geschickt, auf dem Rücken zwei Burger-Schachteln, die Kamelhöcker darstellen sollten. Damit hätte es gut sein können, aber Cops kreischen lauter als Schulmädchen. Ein paar kriegten raus, wo genau Os gewesen und was passiert war, und damit war Afghanistan der offizielle Grund, warum aus Os ein so verdammt harter Mistkerl geworden war – zudem kam das Gerücht auf, dass er um ein Haar beim Polizeipsychotest durchgefallen wäre. Os wehrte sich nicht. Seit der Blechmann-Mist in Umlauf war, quatschten ihn die anderen nicht mehr so voll und rieten ihm nicht mehr, sich zu beruhigen oder runterzukommen, wenn er mal ein bisschen die Kontrolle verlor. Seitdem konnte er bei einem Verhör oder einer Verhaftung zupacken, ohne dass jemand eingriff, als hätte ein Arzt ihm bescheinigt, dass er machen dürfte, was er wollte. In Wahrheit war sein Verhalten schon immer asozial gewesen. Während andere Kinder in der High School Football spielten, schickten seine Eltern ihn zum Boxen. Sein Vater hatte früh erkannt, was es mit Os auf sich hatte, und wenn er schon Leute verprügelte, dann wenigstens mit Handschuhen. Nach der Schule war die Armee das Naheliegende gewesen – ohne Handschuhe.

»Ich mein, du hast schon Schlimmeres gesehen, oder?«, fragte Jerry. »Du kannst damit umgehen. Die hohen Tiere draußen im Korridor sitzen mir im Nacken. Wir dürfen keine Scheiße bauen.«

Os schob Jerry zur Seite und ließ den Wasserhahn laufen. Es war klar, dass Jerry mehr zu sagen hatte, doch Os ignorierte ihn und hielt seinen Mund unter den Hahn, um von dem schwachen Strahl zu trinken. Dem verdammten Scheißkerl ging es nur darum, vor den vieren im Korridor gut dazustehen, dabei lag ein paar Meter von ihnen entfernt eine tote Kollegin. Wären sie nicht im Dienst gewesen, hätte Jerry jetzt seine Zähne vom Boden aufsammeln können.

»Alles okay, Jerry. Fangen wir an.«

Os verließ das Bad und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Er hoffte, den Anblick beim zweiten Mal nicht mehr ganz so grauenhaft zu finden, aber das war nicht der Fall. Beim zweiten Mal wusste er, was ihn erwartete, und das machte es noch schlimmer. Er hob den Blick vom Boden und drehte den Kopf langsam zum Bett hin. Unter Julies braunem Haar, das über ihrem Kopf ausgebreitet lag, war nur ein kleiner weißer Fleck auf der Bettdecke zu sehen, der Rest so tiefrot verfärbt, wie nur Blut es konnte. Kaum zu glauben, dass der menschliche Körper genug Blut enthielt, um ein Bett derart zu färben, aber Os hatte auch noch nie einen Toten gesehen, der so ermordet worden war wie Julie. Sie war nackt, Arme und Beine weit ausgestreckt, Hände und Füße waren mit etwas an die vier Bettpfosten gefesselt, das nach einem zerrissenen Laken aussah. Die linke Gesichtshälfte war eingeschlagen, der Wangenknochen völlig zersplittert. Os wollte auf Julies Gesicht verweilen, den Rest nicht sehen, aber es musste sein. Er senkte den Blick und atmete scharf durch die Nase ein, wie sonst nur, wenn er sich geschnitten hatte und darauf wartete, dass das Blut kam. Julies Unterleib war mit drei langen Schnitten aufgeschlitzt und das Fleisch aufgeklappt worden wie zwei Fensterläden. Das Blut auf dem Bett stammte aus Julies schwangerem Bauch. Nur dass sie nicht mehr schwanger war. Die Nabelschnur lag wie eine blutverschmierte blaue Schlange auf dem nackten Oberschenkel. Ein glatter Schnitt, genau wie die im Bauch. Julie sah aus wie ein Laborpräparat – irgendein Experiment auf Matratze und Bettzeug. Os liefen Tränen über die Wangen, die nur Julie sehen konnte. Diesmal rannte er nicht weg, er war wie erstarrt – und fast genauso leblos wie die Leiche vor ihm.

Jerry hatte recht. Os hatte Schlimmeres gesehen, aber da drüben war es was anderes gewesen. Tote Körper mit anonymen Gesichtern, unbekannte verstümmelte Opfer, massakrierte Fremde; nicht so hier. Das Blut, die Demütigung, die totale Missachtung für das Leben eines anderen ähnelten sich, aber keiner der Toten am anderen Ende der Welt hatte Os’ Kind in sich getragen.

Er wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht ab und zwang die Tränen zurück. Langsam atmete er ein und aus. Dann drehte er sich zu Jerry um und sagte: »Ich übernehm das, Jerry.«

»Ich will, dass der Fall gelöst wird, Os. Ich will den Hurensohn kriegen, der das getan hat, wie, ist mir egal.«

Da, wieder. Os bekam die Erlaubnis, sich die Hände schmutzig zu machen. Das würde auch geschehen, und es war gut zu wissen, dass keiner hinsehen und sich beschweren würde. Os malte sich bereits aus, was er mit dem Scheißkerl anstellen würde, als ihm aufging, dass Jerry immer noch redete.

»Du, Woody und Dennis, ihr erstattet mir alle drei Stunden Bericht, und ich gebe das an den Deputy Chief weiter.«

»Warte, warte, warte«, sagte Os. »Mein Partner ist Wood. Wir brauchen Dennis nicht. Sieht das für dich nach einem leichten Fall aus? Weil, was anderes kann er nicht.«

»Nicht deine Entscheidung, Os. Jetzt tu mir den Gefallen und lass mich atmen.«

Os hatte Jerry gegen die Tür gedrängt. Er dachte nicht klar, in Gedanken war er bei dem Kind. Konnte man so etwas überleben? So viel Blut, solche Brutalität. Hatte das Baby eine Chance?

»Für Dennis den Babysitter zu spielen, kostet nur Zeit, und die haben wir nicht.«

»Dennis ist vieles, Os. Aber auf dem Papier ist er erfolgreich. Er löst fast so viele Mordfälle wie du und Woody. Er ist dabei. Die hohen Tiere wollen meine besten Leute, und die kriegen sie. Ende der Durchsage.«

Os spürte, wie sich seine Fingernägel in die Handflächen eingruben.

»Gut. Wunderbar. Sorg dafür, dass alle verschwinden. Alle. Von den hohen Tieren bis zum Kroppzeug, sie sollen alle abhauen. Und dann hol die KT rein.«

Jerry sagte nichts, rieb sich nur das Kinn und nickte. Os ahnte, dass er sich die politisch korrekten Worte zurechtlegte, um seinen vier Vorgesetzten im Korridor beizubringen, dass sie verschwinden sollten.

»Sind die Notfallmediziner schon hier gewesen?«

»Ja, Os, die sind gleich nach den ersten beiden Constables gekommen.«

»Was haben sie über das Baby gesagt?«

»Es ist weg, Os.«

»Wissen sie, ob es nach dem Rausschneiden noch gelebt hat?« Bei diesen Worten hätte Os am liebsten die Wand eingeschlagen.

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