Loe raamatut: «Müllers Morde»
Für einen halbwegs seriösen Historiker ist es schon eine Zumutung, einem Mythos nachzujagen. Andererseits ist der Atlantis-Spleen vermögender Männer oft die Rettung für Richard Romanoffs Brieftasche. Doch dann verlangt sein Auftraggeber, dass er einen mysteriösen Mörder jagt. Und wenn Richard bisher Atlantis für seine Nemesis hielt, wird er jetzt unsanft eines Besseren belehrt. Denn seine wahre Nemesis ist der Mann, der sich Müller nennt.
Aber wer ist Müller? Mechaniker bei Kabel Deutschland? Herr über Leben und Tod? Ein ehemaliger Hacker, frustriert vom Establishment? Verführer oder Verführter? Bad Guy oder Rächer?
Monika Geier, bekannt für ihren erfolgreichen Zyklus um Kriminalkommissarin Bettina Boll, inszeniert hier eine furiose Konfrontation. Das Niveau dieser ideenreichen Autorin lässt das Verlegerinnenherz höher schlagen: Ich kann gar nicht genug bekommen von ihren fein dosierten Doppelbödigkeiten, ihrer eleganten Choreographie. Wie Krimikritiker Tobias Gohlis einst in der Zeit schrieb: »Monika Geier verfügt über die Bösartigkeit aller guten Krimiautorinnen, über Witz und die Raffinesse für wirklich subtile Plots.« Und sie setzt immer noch eins drauf. Der nunmehr sechste Roman der souveränen und immer originellen Krimikünstlerin verbindet die echt Geier’sche Kombination aus morbidem Schalk und sezierender Realitäts- und Menschenkenntnis mit dem Mut, etwas ganz Neues zu wagen: Aus einem so aktuellen wie bizarren Szenario – unserem Hier und Heute – erheben sich zwei Gegenspieler und fordern einander zum Duell. Die Partie Müller gegen Romanoff bietet Action, Herz und Zündstoff und betört mit satirischen Einlagen und unvorhersehbaren Zügen. Ein Genuss.
Else Laudan
Monika Geier, Jahrgang 1970, wurde in Ludwigshafen geboren. Nach dem Abitur folgte eine Ausbildung zur Bauzeichnerin. Für ihr Debüt wurde Geier mit dem Marlowe geehrt. Inzwischen ist sie Diplomingenieurin für Architektur, Mutter von drei Jungs, freie Künstlerin und Schriftstellerin.
Monika Geier
Müllers Morde
Ariadne Krimi 1200
Argument Verlag
Ariadne Kriminalromane
Herausgegeben von Else Laudan
Lektorat: Ulrike Wand und Else Laudan
Monika Geier bei Ariadne:
Die Bettina-Boll-Serie
Wie könnt ihr schlafen (Ariadne Krimi 1110)
Neapel sehen (Ariadne Krimi 1136)
Stein sei ewig (Ariadne Krimi 1150)
Schwarzwild (Ariadne Krimi 1174)
Die Herzen aller Mädchen (Ariadne Krimi 1184)
Müllers Morde (Ariadne Krimi 1200)
Deutsche Originalausgabe
Alle Rechte vorbehalten
© Argument Verlag 2011
ISBN 978-3-86754-928-8
Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg
Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020
Umschlaggestaltung: Martin Grundmann, Hamburg
Satz: Iris Konopik
Erste Auflage 2011
Lektorat: Ulrike Wand und Else Laudan
1. Digitale Auflage 2012
Digitale Veröffentlichung: Zeilenwert GmbH
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsangabe
Über die Autorin
Einleitung
Eins
17.04 Uhr, schon über eine halbe Stunde nach Feierabend
17.28 Uhr
17.35 Uhr
Etwa eine Minute später
Wieder ein, zwei Minuten später
19.11 Uhr
19.30 Uhr
20.02 Uhr
22.00 Uhr
22.11 Uhr
22.40 Uhr
22.43 Uhr
Vielleicht fünf Minuten später
23.30 Uhr
23.33 Uhr
0.07 Uhr
0.45 Uhr
1.30 Uhr
2.41 Uhr
Zwei
17.12 Uhr
17.17 Uhr
17.20 Uhr
18.07 Uhr
18.20 Uhr
18.37 Uhr
Irgendwann kurz vor sieben
Etwa sieben
19.10 Uhr
19.15 Uhr
Immer noch Viertel nach
19.21 Uhr
19.24 Uhr
Halb acht
19.40 Uhr
19.57 Uhr
20.35 Uhr
Drei
15.15 Uhr
20.15 Uhr
21.55 Uhr
22.07 Uhr
22.45
22.23 Uhr
Vier
11.35 Uhr
19.55 Uhr
20.02 Uhr
20.09 Uhr
20.13 Uhr
20.17 Uhr
20.20 Uhr
Etwa halb neun
Kurz nach halb neun
21.23 Uhr
21.31 Uhr
Fünf
7.35 Uhr
11.15 Uhr
11.35 Uhr
12.05 Uhr
12.12 Uhr
12.15 Uhr
16.45 Uhr
16.59 Uhr
17.05 Uhr
17.15 Uhr
17.22 Uhr
17.35 Uhr
18.11 Uhr
20.45 Uhr
Sechs
7.30 Uhr
7.43 Uhr
8.30 Uhr
8.45 Uhr
9.02 Uhr
9.05 Uhr
Kurz darauf
Etwa zehn nach neun
Kurz darauf
9.17 Uhr
9.21 Uhr
9.28 Uhr
9.55 Uhr
10.11 Uhr
Sieben
16.55 Uhr
Kurz nach fünf
Viertel nach fünf
17.23 Uhr
Acht
12.03 Uhr
12.05 Uhr
12.09 Uhr
12.15 Uhr
12.23 Uhr
12.55 Uhr
13.35 Uhr
13.40 Uhr
13.55 Uhr
14.45 Uhr
15.12 Uhr
15.23 Uhr
21.46 Uhr
Neun
Zwölf Uhr mittags, high noon
12.12 Uhr
12.15 Uhr
12.30 Uhr
14.35 Uhr
15.45 Uhr
16.03 Uhr
Irgendwas kurz nach vier
Erst 16.29 Uhr, gefühlt mindestens fünf, halb sechs
Kurz nach halb fünf
Ultimo
Viertel vor fünf
16.50 Uhr
16.55 Uhr
17.04 Uhr
17.23 Uhr
17.29 Uhr
17.47 Uhr
Zehn
22.15 Uhr
Kurz nach halb elf
Mitten in der Nacht
2.00 Uhr
Elf
8.11 Uhr
8.17 Uhr
9.02 Uhr
9.15 Uhr
10.45 Uhr
10.50 Uhr
11.45 Uhr
13.02 Uhr
13.30 Uhr
14.00 Uhr
14.13 Uhr
14.30 Uhr
15.00 Uhr
15.15 Uhr
15.20 Uhr
15.35 Uhr
16.02 Uhr
16.03 Uhr
16.04 Uhr
16.17 Uhr
16.27 Uhr
Epilog
Ulrikes & Elses Best Shots
Und was tun Sie hier?
Danke
Sie waren Hacker?
Ich habe mich früher viel mit Computern beschäftigt, ja.
Warum? Waren Sie einsam? Haben Sie Ihre Jugend vor dem Bildschirm abgesessen?
Ach Quatsch. So läuft das nicht. Einsame Jugendliche werden keine Hacker. Einsame Jugendliche werden Blogger.
Ach so? Und wie wird man ein Hacker?
Sie wollen wissen, wie man ein Hacker wird? Von mir?
Ja.
Ich würde mich nicht so bezeichnen. Ich hab mich nie als Hacker gefühlt, jedenfalls nicht wie einer von diesen Chaos-Computer-Club-Göttern. Ich brauche den Titel auch nicht. Ich meine, wie wird man ein Hacker, da kommt nicht eines Tages einer mit einer Ernennungsurkunde und sagt: Herzlichen Glückwunsch, jetzt dürfen Sie Behördendaten anzapfen.
Haben Sie denn Behördendaten angezapft?
Ach, wissen Sie, das ist schon so lange her –
Wenn’s verjährt ist, können Sie es uns ja sagen.
Nein, ich sag Ihnen was anderes: Hacker zu sein bedeutet nicht, die Zeit bis zum Abi vor dem Computer totzuschlagen, weil man keinen Sex abkriegt. Klar, man braucht ziemlich viel technisches Wissen, das muss man sich irgendwie aneignen, aber das läuft nebenher. Nein, der Witz am Hackersein ist, irgendwohin zu kommen, wo sonst niemand hinkommt. Schranken überwinden. Adressen ermitteln. Passwörter knacken. Im Prinzip bedeutet Hackersein nichts als: Passwörter knacken. Das geht nicht immer mit technischen Hilfsmitteln. Passwörter sind persönlich. Um die rauszukriegen, und um überhaupt zur Passworteingabe vorzudringen, brauchen Sie Wissen über die Leute, die am anderen Ende der Leitung sitzen. Sie brauchen deren Namen, Arbeitsplätze, Telefonnummern, Familienmitglieder und so weiter. Sie müssen dort anrufen als Meinungsforscher und dort vorbeigehen als Klempner. Sie müssen raus in die Büros und Amtsstuben und sich unauffällig die Schreibtische ansehen. Das ist nichts für Typen, die sich nicht aus dem Haus trauen. Und es ist auf jeden Fall viel mehr Detektivarbeit und viel weniger Technik, als man sich so vorstellt.
Eins
17.04 Uhr, schon über eine halbe Stunde nach Feierabend
Wann kam Steenbergen? Ab und zu waren Schritte zu hören, doch stets entfernten sie sich wieder. Spatzen flogen durch das Parkhaus. Das Warten war zermürbend. Kleine Unwägbarkeiten des Plans wuchsen zu riesigen Problemen heran. Der heikelste Punkt war: Steenbergen würde Gelegenheit haben zu betteln. Den Mund zukleben würde nicht helfen, denn Steenbergen musste fahren. Er musste die Hände frei haben. Folglich würde er den Knebel entfernen, sobald er begriff, was auf dem Spiel stand. Dann würde er managermäßig penetrant ein Gespräch suchen, und er würde um sein Leben reden. Er würde logisch sein, gemein, anrührend. Er würde seine Tochter ins Spiel bringen. Da wäre es besser, wenn man ihm von vorneherein das Maul stopfte. Doch mit einem Klebstreifen über dem Mund würde Steenbergen eher begreifen. Und wenn er begriff, würde er kämpfen. Er würde vielleicht auch Sachen mit dem Auto machen. Einen Unfall bauen. Das musste man verhindern.
17.28 Uhr
Die Spatzen starben jetzt auch aus. Wobei hier im Zooparkhaus eine letzte große Kolonie überlebt hatte. Sie tschilpten und flatterten durch die schäbigen Schlingpflanzen, die das hässliche Betonskelett umwucherten, und waren nicht wenige. Vielleicht stimmte das ja gar nicht mit dem Spatzensterben. Wer wusste schon, wer hatte wirklich verfolgt, wie viele Spatzen vorher da gewesen waren? Und vor was? Vor der Gründung von Greenpeace?
17.35 Uhr
In dem Sonnenfleck vor der Betonstütze hüpften drei muntere, gesunde Spatzen, ganz zutraulich, ganz nah. Steenbergen hingegen kam nicht. Vermutlich stapfte er händeschüttelnd durch den Betrieb, um sich bei allen verbliebenen Mitarbeitern zu verabschieden, Gutmenschen wie er taten das. Hallo, ich bin dein persönlicher Umweltschutzmanager, jetzt sei mal eben stolz darauf, dass wir heute für die ENERGIE Überstunden machen, denn hier bei uns gibt es immerhin die Gelegenheit, das Richtige zu tun.
Tja.
Für die ENERGIE arbeiten, das war nicht der Punkt. Sich Umweltschützer schimpfen war schon verlogener, denn welcher Mensch konnte bestreiten, dass die Erde ohne ihn ganz einfach besser dran wäre? Aber für die ENERGIE als Umweltschutzmanager arbeiten, das grenzte an –
Schritte.
Ledersohlen.
Steenbergen.
Etwa eine Minute später
Steenbergen war nicht allein. Er verabschiedete sich wortreich von einer Kollegin, Verena Frenzky aus dem Technical Support, küsste sie auf beide Wangen und schaute ihr nach, als sie ging. Glücklicherweise musste die blöde Frenzky auf ein anderes Deck. Sie lief auf ihren hohen Sommerschuhen durch die Lichtflecken zum Treppenhaus und drehte sich an der Tür noch mal um, zum Winken, du ahnst es nicht. Da hatte sie sich aber einen Veteranen ausgesucht, der olle Steenbergen, der war doch sexuell längst nicht mehr aktiv. Und würde es auch nicht mehr werden. Zu spät, um ihn aufzutauen. Die Ex würde nicht um das Haus und das Auto und die Lebensversicherung streiten müssen. Man würde traurig sein, aber nicht verbittert. Global gesehen war es besser so.
Wieder ein, zwei Minuten später
Als die Tür zum Fond geöffnet wurde, blickte Steenbergen sich vom Vordersitz aus überrascht um. Man befand sich in einem silbergrauen Phaeton mit zusätzlichem Elektroantrieb und Hybridtechnologie. Stand jedenfalls hinten drauf, genauso wie das Firmenlogo ENERGIE.
»Schade, gell, dass ich nicht Frau Frenzky bin?«
Steenbergen hatte sich schon angeschnallt und saß nun unbequem nach hinten verdreht. »Ich kenne Sie«, sagte er unwillkürlich, und viel schärfer: »Hey – Sie haben hier nichts verloren! Verlassen Sie meinen Wagen!« Verärgert schnallte er sich ab und machte Anstalten, erst mal selbst auszusteigen.
»Schön sitzen bleiben.«
»Sie –« Steenbergen blickte wieder nach hinten und erstarrte. Dann sagte er fast ungläubig: »Was wollen Sie mit der Pistole?«
»Es ist ein Revolver.« Eigentlich war es nur ein Feuerzeug, das einem Revolver täuschend ähnlich sah, einen spannbaren Hahn besaß und auch schwer in der Hand lag, ein fieses kleines Spielzeug. Eine echte Waffe hatte nicht zur Verfügung gestanden. Und wäre auch zu gefährlich gewesen.
»Sie arbeiten für uns.« Steenbergen hatte sich rasch gefasst und klang nun sehr streng. »Hier im Haus an der Flora. Ich kenne Sie. Sie sind ein Datenschützer, IT-Abteilung, nein … Sie gehören zu Human Resources. Sie heißen –«
Es fiel ihm nicht ein. Das war eine Überraschung. Denn das bedeutete, dass er noch nichts wusste. Wenn er schon etwas gewusst hätte, dann hätte er den Namen sofort parat gehabt. Aber jetzt war es zu spät, jetzt war die Waffe ausgepackt, und ob Steenbergen es heute schon wusste oder erst morgen erfahren hätte, war im Prinzip auch egal. Es war sogar besser. Denn nun ahnte Steenbergen nicht, weshalb er entführt wurde.
»Müller.«
»Nein, so heißen Sie nicht.«
»So dürfen Sie mich nennen, und jetzt möchte ich Ihr Handy haben.«
Steenbergen zögerte. Dr. sc. soc. Dr. rer. nat. Steenbergen, eigentlich. Er war ein Vorstandsmanager. Sich einem kleinen namenlosen Müller aus der Personalabteilung unterzuordnen, fiel ihm sichtlich schwer. Müller musste ihm dabei helfen. Er schloss die Tür des Fonds, beugte sich vor und presste Steenbergen die Mündung der Waffe ans Jackett. »Mit diesem Revolver hab ich eben meine Frau erschossen«, flüsterte er heiser in Steenbergens rechtes Ohr. »Ich hab nichts mehr zu verlieren, verstanden?«
Steenbergen nickte stumm.
»Handy.«
Steenbergen griff in die Brusttasche seines Anzugs.
»Langsam, keine Spiele.«
Steenbergen reichte Müller sein Smartphone, langsam und ohne Spiele.
Die Idee mit der ermordeten Frau war genial, denn nun würde Steenbergen es tunlichst vermeiden, von seiner eigenen Familie zu reden. Es würde ihn auch von anderen Dummheiten abhalten.
»Ich sag Ihnen jetzt was. Sie sind mir völlig egal. Ich tu Ihnen nichts, wenn Sie nicht nerven.«
Steenbergen nickte, nicht direkt erleichtert, aber doch wieder wie ein Mann mit einer Perspektive.
»Ich will nur aus Köln raus, verstanden? Sie fahren mich, ich sage, wohin. Wenn wir auffallen, sind Sie tot wie die alte Schlampe. Wenn nicht, lasse ich Sie noch heute Abend frei.«
Steenbergen nickte wieder.
»Denken Sie an Ihre Familie.« Müller schaltete das Smartphone aus und steckte es ein. »Und jetzt los.«
19.11 Uhr
Das Besondere am Tod – auch einem fremden – war das Gewicht, das jede Handlung und jeder Satz in seiner Nähe annahmen. »Rosebud«, »Mehr Licht!«, »Es ist vollbracht«, das waren unsterbliche Worte, die ihr Geheimnis doch bloß aus der Situation zogen, in der sie gesagt worden waren. Es war fast eine Kunstform. Bring den Tod ins Spiel, und die Äußerungen aller Beteiligten wachsen ins Monumentale, wirken wie vor Publikum gesprochen. Glücklicherweise wusste Steenbergen nichts von seinem bevorstehenden Ableben, sonst hätte er sicher Schnörkel angebracht. Er wäre kitschig geworden. Er hätte Worte gebraucht wie: Liebe, Vergeltung. Mord. Da war es weit besser, er konzentrierte sich aufs Fahren und sagte nur ab und zu: »Hier jetzt rechts?« oder: »Wenn wir da vorn geradeaus wollen, muss ich aber die Spur wechseln.«
Und war das nicht ein wunderbarer letzter Satz: Wenn wir geradeaus wollen, muss ich die Spur wechseln? War das nicht rätselhaft, uneindeutig, bedeutungsvoll – gut?
»Ja, wechseln wir die Spur«, sagte Müller.
19.30 Uhr
Sie waren am Ziel: Eine kleine Waldlichtung an der L 46 bei Daun, leicht mit dem Wagen zu erreichen, aber einsam und gut versteckt. Müllers eigenes Auto stand da, halb verborgen im Gebüsch.
»Ach so, Sie sind der Typ mit dem Alfa«, entfuhr es Steenbergen, und Misstrauen schlich sich in seinen Ton. Nicht, dass er vorher vertrauensselig gewesen wäre, doch während der Fahrt hatte er die Ruhe bewahrt und versucht, möglichst unpersönlich zu bleiben. Weil er an die Geschichte mit der toten Frau glaubte. Doch ein vorbereitetes Fluchtauto passte nicht dazu. Das war nicht spontan, das war kein Affekt, da steckte mehr dahinter. Nun musste es ganz schnell gehen.
»Jetzt weiß ich es wieder, Sie sind der ehemalige Hacker, und Sie heißen –«
»Maul«, unterbrach Müller und hob den Revolver. »Aussteigen.«
Sie stiegen beide aus und standen einander in dem abendlichen Sommerwald gegenüber. Steenbergens Augen blickten klug und unstet, er war ein schneller Denker, das hatte Müller schon beim Autofahren bemerkt. »Ich brauche einen Vorsprung«, erklärte er, den Revolver fest im Griff, und wies mit dem Kinn auf seinen schwarzen Alfa. »Deswegen fesseln wir Sie jetzt, und ich lasse Sie hier in Ihrem Auto und fahre mit meinem weiter.« Er warf Steenbergen mit der Linken eine Rolle festes, dickes Klebeband zu. »Erst über den Mund.«
»Das kann ich nicht reißen«, sagte Steenbergen. Er drehte die Rolle Klebeband zwischen den Händen. Es wirkte spöttisch.
»Ist schon geschnitten«, sagte Müller scharf und merkte, wie er plötzlich nervös wurde. Ans Klebeband hatte er gedacht, er hatte es geschnitten und wieder aufgewickelt, damit er nicht gleichzeitig mit Revolver und Messer hantieren musste, das war nicht das Problem. Das Problem waren Steenbergens intelligente Augen, die ihn verstohlen musterten, die den direkten Blickkontakt verweigerten, weil Steenbergen nachdachte und auf der rechten Spur war.
Müller hob den Revolver: »Los! Mund!«
Steenbergen riss Klebeband ab, und natürlich waren geschnittene und wieder aufgewickelte Klebstreifen noch weit seltsamer als ein wartendes Auto. Steenbergens Bewegungen wurden langsamer und angespannter, als ob er alles gleich hinwerfen und fliehen würde, und das wäre natürlich eine Katastrophe, denn dann musste Müller ihn einholen und das Messer benutzen. »Na los!«, wiederholte er drängend. Steenbergen blickte ihm plötzlich direkt in die Augen. Müller schob sein Kinn vor, spannte den Hahn des Revolvers und starrte entschlossen zurück. Sein Vorteil war klein, nur weil Steenbergen noch immer nicht richtig begriff, befolgte er die Befehle. Widerstrebend klebte er sich den Mund zu. Anschließend waren die Füße dran. Die Hände übernahm Müller und umwickelte sie auf dem Rücken mit Klebeband. Dann verdoppelte er die Fesseln mit noch mehr Tape. Und schließlich sagte er: »Sie müssen sich in den Fußraum vor die Rücksitze legen.«
Steenbergen schüttelte den Kopf, in seinen Augen standen nun Trotz und Panik, doch er war zu ausgeliefert, um noch eine Chance zu haben.
»Passen Sie auf«, sagte Müller versöhnlich. »Da hinten im Fußraum gibt es jede Menge Metallschienen und so ’n Zeug, Sie werden das Tape spätestens morgen früh durchhaben. Sie werden mir dankbar sein, dass ich Sie in den Fußraum gelegt habe, denn da geht es schneller. Ich mach Ihnen sogar noch eine Decke drunter. Und ich hab meinen Vorsprung, okay?«
Steenbergen wollte nicht. Müller musste ihn erst mit dem Revolver anschubsen. Da fügte der Manager sich, hoppelte zur hinteren Tür und quetschte sich mit viel Mühe auf den Boden, den Müller zuvor mit einem Malervlies ausgekleidet hatte. Ein Malervlies mit Plastikbeschichtung auf der Rückseite, doch das weckte in Steenbergen keinen sichtbaren Argwohn mehr. Schließlich lag er genau so, wie er sollte, und Müller atmete auf. Der Rest war ein Kinderspiel. Er holte die Flasche mit Schutzgas aus seinem Alfa, öffnete ihr Ventil, legte sie in den Fußraum neben den Beifahrersitz des Phaetons und schloss die Türen von außen. Steenbergen begann ordentlich zu zappeln, aber er war auch ordentlich zusammengeklebt.