Loe raamatut: «Dyslexie, Dyskalkulie»
Wir danken dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen für die Unterstützung dieses Projekts.
Monika Lichtsteiner Müller (Hrsg.)
Beiträge von Judith Hollenweger, Stephan Hördegen, Hennric Jokeit, Michaela Krempl, Monika Lichtsteiner Müller, Elisabeth Moser, Leila Müller, Paul Richli und Rahel Weisshaupt
Dyslexie, Dyskalkulie
Chancengleichheit in Berufsbildung, Mittelschule und Hochschule
ISBN Print: 978-3-03905-924-9
ISBN E-Book: 978-3-03905-954-6
Fotos: Sylvia Müller-Montiel, Belp
Cartoon: Arnold Götz, Lützelflüh-Goldbach
2., aktualisierte Auflage 2013
Alle Rechte vorbehalten
© 2013 hep verlag ag, Bern
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur zweiten Auflage und Dank
Einführung (Monika Lichtsteiner Müller)
Im Schatten des Erfolgs (Elisabeth Moser)
1 Recht auf Bildung und Entfaltung der Persönlichkeit (Judith Hollenweger)
1.1 Sicherung von Bildungschancen
1.2 Unterstützungssysteme auf Sekundarstufe II und Tertiärstufe
1.3 Zuweisungs- und Selektionssysteme auf Sekundarstufe II und Tertiärstufe
1.4 Sind Dyslexie und Dyskalkulie Behinderungen?
1.5 Beziehung zwischen Störungen und Kompetenzen
1.6 Behindert sein und behindert werden
Lena will etwas erreichen (Elisabeth Moser)
2 Zur Neuropsychologie von Dyslexie und Dyskalkulie (Rahel Weisshaupt, Hennric Jokeit)
2.1 Prozesse im Gehirn: Die Entwicklung schriftsprach- und zahlenverarbeitender Hirnfunktionen
2.1.1 Was muss das Gehirn beim Lesen und Schreiben leisten?
2.1.2 Wie kommen Zahlen in den Kopf, und wie werden sie verarbeitet?
2.2 Wann spricht man von einer Dyslexie oder Dyskalkulie?
2.2.1 Dyslexie – Klassifikation nach ICD-10: F81.0
2.2.2 Dyskalkulie – Klassifikation nach ICD-10: F81.2
2.2.3 Niedrigere Intelligenz – keine Diagnose?
2.3 Was sind die Symptome von Dyslexie und Dyskalkulie?
2.3.1 Dyslexie
Dyslexie und Fremdsprachen
2.3.2 Dyskalkulie
2.4 Prävalenz und Verlauf
2.4.1 Dyslexie
2.4.2 Dyskalkulie
2.5 Begleiterscheinungen und weitere Entwicklungen
2.5.1 Dyslexie
2.5.2 Dyskalkulie
2.6 Was sind die Ursachen?
2.6.1 Ursachen von Dyslexie
Genetische Untersuchungen
Neuropsychologische Untersuchungen
Neurobiologische Untersuchungen
2.6.2 Ursachen von Dyskalkulie
Genetische Untersuchungen
Neurobiologische Untersuchungen
Neuropsychologischer Ansatz
2.6.3 Ursachen – ein Resümee
2.7 Wie diagnostiziert man Dyslexie und Dyskalkulie?
2.7.1 Intelligenzdiagnostik
2.7.2 Diagnostik von Dyslexie im Jugend- und Erwachsenenalter
2.7.3 Diagnostik von Dyskalkulie im Jugend- und Erwachsenenalter
2.7.4 Diagnostik bei Fremdsprachigkeit
2.8 Fördermassnahmen (Therapie) im Jugend- und Erwachsenenalter
2.9 Zusammenfassende Beurteilung
Muss ein Gärtner gut rechnen können? (Elisabeth Moser)
3 Rechtliche Aspekte der Bildungschancengleichheit für Lernende mit Dyslexie oder Dyskalkulie im Mittelschul-, Berufsbildungs- und Hochschulbereich
3.1 Bildungschancengleichheit und Diskriminierungsverbot
3.1.1 Rechtlicher Begriff und Bezugsrahmen der Bildungschancengleichheit im Allgemeinen
Formale und materiale Bildungschancengleichheit
Verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte und Bedeutung der Bildungschancengleichheit
3.1.2 Behindertendiskriminierungsverbot und Förderungsauftrag zugunsten von Behinderten
Dyslexie und Dyskalkulie als Behinderung im Rechtssinne
Bedeutung des Diskriminierungsverbots und des Förderungsauftrags zugunsten von Behinderten
Diskriminierungs- und Benachteiligungsverbot im Behindertengleichstellungsgesetz
Bildungschancengleichheit und Benachteiligungsverbot im Berufsbildungsgesetz
Nachteilsausgleich und Privilegierung
Bildungschancengleichheit unter Lernenden mit unterschiedlichen Behinderungen
3.2 Prüfungsanpassungen für Lernende mit Behinderungen
3.2.1 Allgemeines zu Prüfungen, Prüfungsanforderungen und zur Sonderbehandlung von behinderten Lernenden
3.2.2 Formale Prüfungsanpassungen
Rechtsprechung
Gesetzliche Grundlagen und Verwaltungspraxis
Rechtslehre
3.2.3 Materiale Prüfungsanpassungen
Unterschiedliche Prüfungsinhalte bei gleichbleibendem Anforderungsniveau
Befreiung von allgemeinen Leistungsanforderungen
3.2.4 Verfahren und Rechtsschutz im Zusammenhang mit behinderungsbedingten Prüfungsanpassungen
3.3 Die wichtigsten rechtlichen Überlegungen im Überblick
3.3.1 Rechtliche Grundlagen für die Bildungschancengleichheit von Lernenden mit Dyslexie und Dyskalkulie
3.3.2 Nachteilsausgleich und Privilegierungen
3.3.3 Formale und materiale Prüfungsanpassungen für behinderte Kandidatinnen und Kandidaten
3.3.4 Unterschiedliche Schutzbedürfnisse je nach Behinderungsart
3.3.5 Bildungschancengleichheit unter Prüflingen mit verschiedenen Behinderungen
3.3.6 Gesetzliche Grundlage für Prüfungsanpassungen
3.3.7 Verfahren und Rechtsschutz im Zusammenhang mit Prüfungsanpassungen
3.3.8 Von privaten und staatlichen Anbietern durchgeführte Eignungstests
Es ist immer eine Art von Entblössung (Elisabeth Moser)
4 Bildungserfolg für Lernende und Studierende mit Dyslexie oder Dyskalkulie (Monika Lichtsteiner Müller)
4.1 Auswirkungen in der Bildung
4.1.1 Lesen
4.1.2 Schreiben
4.1.3 Rechtschreibung
4.1.4 Auswirkungen der Lese- und Schreibschwäche in der Bildung und im Alltag
4.1.5 Fremdsprachen lernen
4.1.6 Mathematik
4.1.7 Einfluss der exekutiven Funktionen
Arbeitsspeicher
Zeitmanagement und Zeitgefühl
Organisation und Planung von Aktivitäten
4.2 Benachteiligung von Lernenden mit Dyslexie und Dyskalkulie in der Bildung
4.3 Bildungsumwelt auf Lernende anpassen
4.3.1 Anpassungen
Integrative Bildungsinstitutionen
4.3.2 Prüfungsanpassungen in Form von Nachteilsausgleich und Notenschutz
4.3.3 Mögliche Anpassungen und Nachteilsausgleiche
Geeignete Rahmenbedingungen für Unterricht / Vorlesung
Geeignete Rahmenbedingungen für Betrieb /Praktikumsplatz
Geeignete Rahmenbedingungen für Prüfungen und Qualifikationsverfahren
Weitere Anpassungen
Kaufmännische Grund- und Weiterbildung
4.3.4 Hilfsmittel
4.3.5 Finanzierung von Hilfsmitteln
4.4 Abklärung, Beratung, Förderung
4.4.1 Abklärung
4.4.2 Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung
4.4.3 Lernberatung
4.4.4 Fördermassnahmen – Therapie
4.5 Betroffene managen ihr Leben
4.5.1 Bewältigungsstrategien
Stärken und Schwächen kennen
Umgang mit dem Lesen und Schreiben in der Ausbildung
Umgang mit Dyskalkulie im Alltag
Proaktiv statt passiv
Ausdauer, Beharrlichkeit
Ziele setzen
Vorhandensein und Nutzen von sozialen Unterstützungssystemen
Emotionale Stabilität trotz Stress
4.5.2 Dyslexie oder Dyskalkulie offenlegen
Für sich selbst einstehen
4.6 Zusammenfassung
Trotz Dyslexie Lehrer werden (Elisabeth Moser)
5 Dyslexie im Berufsleben kommunizieren (Elisabeth Moser)
5.1 Ängstliche Zurückhaltung
5.2 Fehlende Regelungen
5.3 Transparenz bewährt sich
5.4 Positive Einstellung
5.5 Sozialkompetenz wichtiger
Legasthenie ist kein schweres Schicksal (Elisabeth Moser)
6 Erleben Sie meine Welt (Leila Müller)
6.1 Dyskalkulie
Eine Meile
6.2 Dyslexie
6.2.1 Wie ich lese
6.2.2 Simulation
Auflösung
7 Fazit und Ausblick (Michaela Krempl)
7.1 Sind Menschen mit Dyslexie oder Dyskalkulie behindert?
7.2 Identifizieren von behindernden Faktoren in der Umwelt
7.3 Der Einfluss des sozialen und familiären Umfelds
7.4 Das Recht auf Chancengleichheit, das Diskriminierungs- und Benachteiligungsverbot
7.5 Tauglichkeit von Eignungstests
7.6 Förder- und Stützmassnahmen
7.7 Hürdenfreier Unterricht für Menschen mit Dyslexie und Dyskalkulie
7.8 Auffälliges Sozialverhalten und psychische Symptome
7.9 Bildungsstatistik
7.10 Diagnostik, Förderung und Unterstützung im Jugend- und Erwachsenenalter
7.11 Ausblick
Adressen
Vorwort zur zweiten Auflage und Dank
Frauen und Männer, die mit Dyslexie oder Dyskalkulie leben, haben mich durch ihre Fragen angeregt, mich vermehrt mit Chancengleichheit in der nachobligatorischen Bildung auseinanderzusetzen. Daraus ist die Idee für das vorliegende Fachbuch entstanden.
Verschiedene Personen haben dazu beigetragen, dass das Buch realisiert werden konnte: Die Autorinnen und Autoren, die Interviewpartner, die Fotografin und der Cartoonist beleuchten das Thema aus wissenschaftlicher Sicht, aus der Praxis, bildhaft und aus der persönlichen Erfahrung.
Der Verband Dyslexie Schweiz hat die Trägerschaft des Buchprojektes übernommen und das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB hat es mitfinanziert.
Die Zusammenarbeit mit dem hep verlag war unkompliziert und professionell.
Ich danke allen herzlich, die zum Entstehen des Buches beigetragen haben. Es hat so grossen Anklang gefunden, dass es bereits neu aufgelegt wird. Folgende Anpassungen wurden für diese 2. Auflage vorgenommen:
Links und Quellenangaben sind aktualisiert. Das Kapitel 3 ist zusätzlich inhaltlich überarbeitet und ergänzt; im Kapitel 4 sind einzelne Inhalte präzisiert.
In der ersten Auflage wurde der Begriff «Prüfungserleichterungen» verwendet, wenn es darum geht, die Massnahmen zum Ausgleich von Benachteiligungen bei Dyslexie und Dyskalkulie zu beschreiben. Für die zweite Auflage wurde dieser Begriff weitgehend mit «Prüfungsanpassungen» ersetzt, weil der Begriff «Prüfungserleichterungen» oft fälschlicherweise als Bevorzugung verstanden wird.
Eine anregende und informative, eine lehr- und lernreiche Lektüre wünscht
Monika Lichtsteiner Müller
Einführung
Monika Lichtsteiner Müller
Bildung ist in der Schweiz ein wichtiger Rohstoff. Sie wird verstanden als eine Investition mit einem langen «Return on Investment». Unter diesem Gesichtspunkt müsste eigentlich alles unternommen werden, um allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen einen möglichst guten Zugang zu Bildung und zu Erfolg zu verschaffen. Menschen mit Dyslexie und Dyskalkulie werden jedoch immer wieder von Ausbildungen, insbesondere von schulisch anspruchsvollen, ausgeschlossen, auch wenn sie die nötigen intellektuellen Voraussetzungen mitbringen. Zu vielen gelingt es nicht, einen Abschluss zu erlangen. Es muss daher bekannt sein, wie sich eine Lese-Rechtschreib-Störung oder eine Rechenstörung im Jugend- und Erwachsenenalter in der Bildung auswirken kann, wo die Chancen liegen und wo die Stolpersteine sind, die zu Erfolg oder Misserfolg führen. Die notwendigen Massnahmen müssen konkretisiert werden, und es ist dafür zu sorgen, dass sie bekannt sind und umgesetzt werden. Auch Menschen mit einer Dyslexie oder Dyskalkulie sollen sich im Rahmen der formellen Ausbildungsgänge entwickeln können, sodass sie sich ihren Fähigkeiten entsprechend im Arbeitsleben einbringen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und teilhaben können.
Das vorliegende Fachbuch für die Praxis richtet sich an die Unterrichtenden der Berufsfachschulen, der Berufsbildung, der Mittelschulen und der Hochschulen und an diejenigen, die eine leitende Funktion wahrnehmen, an Berufsbildnerinnen und Berufsbildner, an Fachleute, die für Selektion und Aufnahmeverfahren oder Abschlussprüfungen und Qualifikationsverfahren zuständig sind, an Verantwortliche, die Gesuche um Prüfungsanpassungen beantworten oder Rekurse bearbeiten. Es soll jedoch ebenso Fachleute in der Logopädie und der Heilpädagogik, in der Bildungsadministration und den Organisationen der Arbeitswelt ansprechen sowie Lehrpersonen der Volksschulstufe und Dozierende in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften.
Zur Zielgruppe dieses Fachbuches gehören auch Fachleute von Informations-, Abklärungs- und Beratungsstellen. Angesprochen sind zudem die von Dyslexie und Dyskalkulie betroffenen Lernenden und Studierenden und ihre Familien.
Als Begriffe werden «Dyslexie» und «Dyskalkulie» verwendet. Dyslexie ist der international gebräuchliche Begriff für eine Lese-Rechtschreib-Störung (LRS), die in der Schweiz häufig auch als «Legasthenie» bezeichnet wird. Deshalb erscheint der Begriff «Legasthenie» ebenfalls, meistens in Zitaten oder in den Porträts von Betroffenen.
Dyskalkulie ist der international gebräuchliche Begriff für eine Rechenstörung (RS). Zur Dyskalkulie existieren noch wesentlich weniger Grundlagen als zur Dyslexie. Darum wird im Buch die Rechenschwäche weniger ausführlich behandelt.
Auch die Begriffe «Leseschwäche» oder «Rechtschreibeschwäche» werden als Synonyme für «Dyslexie» und der Begriff «Rechenschwäche» für «Dyskalkulie» verwendet.
Wenn auf den folgenden Seiten Dyslexie und Dyskalkulie als Behinderungen bezeichnet werden, ist damit gemeint, dass Dyslexie und Dyskalkulie im juristischen Sinne als Behinderungen gelten. Im Zusammenhang mit Bildung ist das relevant, da spezielle Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen nur bei Vorliegen einer Behinderung gewährt werden können (nachteils Kapitel 3.1.2, S. 71). Wenn es um die Integration in die Bildungsgänge und die Arbeitwelt geht, darf das Individuum nicht isoliert betrachtet werden. Wie Hollenweger in Kapitel 1.4, S. 23, ausführt, sind Behinderungen immer auch als Ergebnis einer komplexen Interaktion zwischen der Funktionsfähigkeit einer Person und ihrer Umwelt zu verstehen.
Im Rahmen dieses Fachbuches ist es selbstverständlich nicht möglich, die ganze Komplexität, mit der die Fachleute in der Praxis konfrontiert sind, zu berücksichtigen. Eine Reduktion der Komplexität drängt sich auf.
Chancengleichheit in der Bildung ist auch für viele andere Menschen mit einer Behinderung ein Thema. Die in diesem Buch dargestellten rechtlichen Grundlagen und die Prüfungsanpassungen in Form von Nachteilsausgleichen und Notenschutz können auch bei anderen Behinderungen relevant sein, die konkreten Massnahmen müssen der Behinderung entsprechend angepasst werden.
Eine weiterer Punkt ist der Fokus auf die deutschsprachige Schweiz. Die Frage der Chancengleichheit für Lernende und Studierende mit Dyslexie und Dyskalkulie betrifft ebenfalls Menschen in den anderen Sprachregionen der Schweiz sowie in anderen Ländern.
Das Umsetzen von Chancengleichheit in der Bildung ist auch ein Anliegen im Zusammenhang mit den Geschlechtern und bei Menschen mit Migrationshintergrund. Männer und Frauen können von Dyslexie oder Dyskalkulie betroffen sein, wie Weisshaupt und Jokeit im Kapitel «Genetische Untersuchungen», S. 46, erläutern. Ebenso treten diese Störungen unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität auf. Auf die Dimensionen Geschlecht oder Migrationshintergrund wird nicht vertieft eingegangen.
Zusätzlich können bei Betroffenen weitere Beeinträchtigungen oder Behinderungen vorliegen, die in diesem Buch nicht behandelt werden, die aber in der Praxis zu berücksichtigen sind.
Schliesslich besteht bei der Auseinandersetzung mit einer Störung oder Behinderung immer die Gefahr, dass deren Auswirkungen einseitig Beachtung finden, die Fähigkeiten und Kompetenzen der Person hingegen zu wenig wahrgenommen und einbezogen werden, obwohl gerade diese Ressourcen für eine erfolgreiche Integration besonders wichtig sind.
Dieses Buch will die Fachleute in Unterricht, Beratung und Bildungsadministration anregen, Barrieren zu erkennen, zu beseitigen und den betroffenen Jugendlichen und Erwachsenen die erfolgreiche Integration in den Bildungsgängen der Sekundarstufe II und der Tertiärstufe zu ermöglichen (vgl. Abb. 1).
Die berufliche Grundbildung inklusive Berufsmaturität und die Mittelschulbildung mit den Fachmittelschulen und den Gymnasien bilden in der Schweiz die Sekundarstufe II. Der Tertiärstufe sind die höhere Berufsbildung, die Fachhochschulen, die pädagogischen Hochschulen und die universitären Hochschulen zugeordnet. Die höhere Berufsbildung umfasst die eidgenössischen Berufsprüfungen (BP), die eidgenössischen höheren Fachprüfungen (HFP) und die höheren Fachschulen (HF). Der Begriff «Berufsbildung» meint sowohl die berufliche Grundbildung als auch die höhere Berufsbildung.
Brückenangebote im Übergang von der Volksschule in die Sekundarstufe II, die Weiterbildung oder die Berufsabschlüsse für Erwachsene werden in diesem Buch nicht speziell thematisiert. Viele Aussagen des Buches sind aber auch auf diese Bildungsbereiche übertragbar.
Nicht berücksichtigt sind die Vorschule, die Primarstufe und die Sekundarstufe I, weil bereits viele Publikationen über Dyslexie und Dyskalkulie bei Schulkindern vorhanden sind. Das Jugend- und Erwachsenenalter hingegen wurde bisher im Zusammenhang mit Dyslexie und Dyskalkulie im deutschsprachigen Raum wenig beachtet. Das vorliegende Fachbuch soll darum eine Lücke schliessen für Fachleute in der Praxis und für die Betroffenen selbst.
Bei der Erarbeitung des Buches wurde Wert darauf gelegt, mit unterschiedlichen Fachleuten, die mit der Thematik vertraut sind, in Kontakt zu treten. So wurden Informationen eingeholt beispielsweise durch eine nicht standardisierte Umfrage bei Berufsfachschulen, Mittelschulen, höheren Fachschulen und Beratungsstellen, die bestätigte, dass Dyslexie und Dyskalkulie als Themen wahrgenommen werden. Daraus entstanden Kontakte zu einzelnen Fachleuten, die sich an ihren Schulen oder in ihren Beratungsstellen mit Fragen der Integration von Lernenden mit Dyslexie oder Dyskalkulie befassen. Kontaktpersonen für Studierende mit Behinderungen an den Hochschulen wurden via Mail angesprochen. Die Rückmeldungen zeigten, dass die Hochschulen ganz unterschiedlich mit dem Thema «Studium und Behinderung» umgehen. Die meisten gehen noch kaum proaktiv vor und reagieren vorwiegend auf Anfragen in Einzelfällen.
Fragen, die sich bei der Erarbeitung ergaben, beispielsweise die Frage, ob Dyslexie in der Fremdsprachendidaktik thematisiert wird oder ob bei den zentral durchgeführten Selektionstests Dyslexie und Dyskalkulie berücksichtigt werden, wurden den entsprechenden Fachleuten unterbreitet. Die Antworten zeigen, dass diese Fragen bisher noch kaum diskutiert wurden und ein grosser Handlungsbedarf besteht.
Die Ergebnisse der Umfrage und die Diskussionen mit Fachleuten beeinflussten vorwiegend die Bearbeitung der Thematik im vierten Kapitel, «Bildungserfolg für Lernende und Studierende mit Dyslexie oder Dyskalkulie», S. 98 ff.
Das Buch «Dyslexie, Dyskalkulie – Chancengleichheit in Berufsbildung, Mittelschule und Hochschule» beleuchtet das Thema für Lernende und Studierende aus verschiedenen Perspektiven.
In Kapitel 1, «Recht auf Bildung und Entfaltung der Persönlichkeit», erläutert Prof. Judith Hollenweger die gesellschaftlichen Aspekte von Bildung und Bildungssystemen. Sie unterstreicht den Einfluss, den das Verständnis von Behinderung auf den Umgang mit Chancengleichheit in der Bildung ausübt. Gefordert wird ein Verständnis von Behinderung, das eine komplexe Interaktion zwischen der Funktionsfähigkeit einer Person und ihrer Umwelt einschliesst. Neben der individuellen Förderung und Unterstützung werden so auch die optimale Gestaltung der Umwelt und das Entfernen von Barrieren berücksichtigt.
In Kapitel 2, «Zur Neuropsychologie von Dyslexie und Dyskalkulie», fassen Rahel Weisshaupt und Prof. Hennric Jokeit aus neuropsychologischer Sicht das aktuelle Wissen zu Dyslexie und Dyskalkulie zusammen. Verschiedene verbreitete Annahmen über Dyslexie und Dyskalkulie werden relativiert oder korrigiert, und die Notwendigkeit einer sorgfältigen fachkundigen Abklärung der betroffenen Jugendlichen und Erwachsenen als Beitrag zu einer chancengleichen Bildungslaufbahn wird betont.
In Kapitel 3, «Rechtliche Aspekte der Bildungschancengleichheit für Lernende mit Dyslexie oder Dyskalkulie im Mittelschul-, Berufsbildungs- und Hochschulbereich», stellen Dr. Stephan Hördegen und Prof. Paul Richli Chancengleichheit für Lernende mit Dyslexie und Dyskalkulie in der Berufsbildung, den Mittel- und Hochschulen in einem wissenschaftlichen Beitrag aus juristischer Sicht dar. Diese Thematik ist bisher noch nicht in dieser Form behandelt und diskutiert worden. Die Autoren haben diesen Beitrag speziell für dieses Buch erarbeitet. Eilige Leserinnen und Leser finden am Ende des Kapitels eine Zusammenstellung der wichtigsten Aussagen.
In Kapitel 4, «Bildungserfolg für Lernende und Studierende mit Dyslexie oder Dyskalkulie», zeigt Monika Lichtsteiner Müller auf, wie sich eine Lese-Rechtschreib-Schwäche oder eine Rechenschwäche im Rahmen der Bildung auf der Sekundarstufe II und auf der Tertiärstufe konkret auswirken kann und welche Massnahmen dazu beitragen, Barrieren zu beseitigen. Leserinnen und Leser erfahren unter anderem, wie Nachteilsausgleiche inklusive Hilfsmittel und Notenschutz eingesetzt werden können, welche Bewältigungsstrategien zum Bildungserfolg beitragen können, was für und was gegen ein Offenlegen der Dyslexie oder Dyskalkulie spricht und wie eine «dyslexie-dyskalkulie-freundliche» Bildungsumgebung aussieht.
In Kapitel 5, «Dyslexie im Berufsleben kommunizieren», wirft Elisabeth Moser einen Blick in die Arbeitswelt. Sie berichtet, wie ausgewählte Vertreterinnen und Vertreter von Arbeitgeberseite die Beschäftigung von Personen mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche und einer Rechenschwäche beurteilen und wie es Betroffenen gelingt, sich im Arbeitsmarkt zu integrieren. Zitate von Betroffenen konkretisieren die Aussagen im Text.
Im von Leila Müller verfassten Kapitel 6, «Erleben Sie meine Welt», begleiten die Leserinnen und Leser eine fiktive Person mit Dyskalkulie durch einen Tag und erleben, wie es sich anfühlen kann, mit einer Leseschwäche lesen zu lernen, Texte zu lesen und Fehler zu korrigieren.
Zwischen den einzelnen Kapiteln gewähren Jugendliche und Erwachsene, die mit einer Dyslexie oder Dyskalkulie leben, Einblick in ihre Schul- und Bildungslaufbahn. Sie berichten davon, wie eine Dyslexie oder Dyskalkulie bisweilen zu einer Last wird und wie sie als Betroffene für sich nach Wegen suchen, mit ihren Beeinträchtigungen umzugehen, aber auch, wie es ihnen gelingt, Ziele zu erreichen.
Es gehört zum Konzept des Buches, verschiedene Fachbereiche einzubeziehen und neben den Fachleuten auch die von Dyslexie und Dyskalkulie Betroffenen zu Wort kommen zu lassen. Da Betroffene immer wieder die Erfahrung machen, dass ihre Schwächen nicht verstanden werden, haben wir, um sie vor möglichen negativen Auswirkungen zu schützen, nicht ihre richtigen Namen verwendet. Die Fotos sind so aufgenommen, dass die Porträtierten nicht erkannt werden können.
Bei den Zitaten aus Büchern oder aus dem Internet haben wir hingegen die ohnehin bereits veröffentlichten Namen verwendet.
Das Fachbuch informiert über Dyslexie und Dyskalkulie bei Jugendlichen und Erwachsenen in Ausbildung. Es diskutiert pädagogische und rechtliche Aspekte. Es weist darauf hin, was Betroffene selbst zu ihrem Erfolg beitragen können, und es zeigt auf, was in den Bildungsinstitutionen, Abklärungs- und Beratungsstellen unternommen werden muss, damit Bildungsziele, die den Fähigkeiten entsprechen, besser realisierbar werden.
Unser Ziel ist es, die Leserinnen und Leser einzuladen, sich mit den Fragen und Problemen von Lernenden und Studierenden mit Dyslexie und Dyskalkulie auseinanderzusetzen und wahrzunehmen, dass sie neben Problemen auch Kompetenzen mitbringen. Es soll sie anregen, institutionelle Barrieren abzubauen, die Betroffenen zu fördern und ihnen zu ermöglichen, dass sie ihre Fähigkeiten entfalten und ausschöpfen können. Diejenigen Fachleute, die sich bereits für Chancengleichheit einsetzen, soll es bestätigen und motivieren, auf ihrem Weg weiterzugehen.