Das Trauma des "Königsmordes"

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Das Trauma des "Königsmordes"
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Moshe Zuckermann wurde als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Israel geboren und wuchs in Tel Aviv auf. Er studierte in Frankfurt am Main, kehrte danach wieder nach Israel zurück, wo er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas der Universität Tel Aviv lehrte. Von Februar 2000 bis 2005 leitete er das Institut für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv. 2006/2007 war er Gastprofessor am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF) der Universität Luzern.

Zahlreiche Publikationen, u.a. Der allgegenwärtige Antisemit oder die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit (2018); Israels Schicksal. Wie der Zionismus seinen Untergang betreibt (2014); „Antisemit!“ Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument – Sechzig Jahre Israel (2010); Gedenken und Kulturindustrie. Ein Essay zur neuen deutschen Normalität (1999); Zweierlei Holocaust. Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands (1998); Wagner, ein deutsches Ärgernis (2020).

Moshe Zuckermann

Das Trauma des »Königsmordes«

Französische Revolution

und deutsche Geschichtsschreibung

im Vormärz


E-Book (ePub)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign, Berlin

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher «Europa» (1945)

ePub:

ISBN 978-3-86393-581-8

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

Neuausgabe © CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Print: ISBN 978-3-86393-121-6

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de

Meiner Mutter

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Teil I:

Die Rezeption der Französischen Revolution und die deutsche politische Kultur

1. Kapitel: Die Geschichtsschreibung der Französischen Revolution

2. Kapitel: Die Französische Revolution im Spiegel der Kode-Matrix

3. Kapitel: Die Modifikation der Kode-Matrix in der deutschen Rezeption der Französischen Revolution

Teil II:

Die Rezeption der Französischen Revolution in der deutschen Geschichtsschreibung des Vormärz

Vorwort

4. Kapitel: Allgemeine Beurteilung der Revolution

5. Kapitel: Prozeß und Hinrichtung Ludwigs XVI.

6. Kapitel: Schlüsselgestalten der Revolution: Mirabeau

7. Kapitel: Girondisten und Jakobiner

8. Kapitel: Schlüsselgestalten der Revolution: Marat – Danton – Robespierre

Nachwort

Anhang

Anmerkungen

Bibliographie

Vorwort

Was bedeutet es, wenn man beschließt, ein im Jahr 1989 erschienenes Buch über dreißig Jahre später erneut zu veröffentlichen? Mehrere Antworten sind auf diese Frage möglich. Das Buch kann zum „Klassiker“ avanciert sein, zum unübergehbaren Teil eines kulturellen Kanons, dem man eine neue Auflage widmet. Es kann auch – damit möglicherweise verschwistert – ein kommerzieller „Dauerbrenner“ sein, den man zwischendurch mal „auffrischen“ muss. Es mag ein an sich wertvolles Werk sein, welches man gleichwohl überarbeiten bzw. ergänzen oder „auf den neuesten Stand“ seines Sujets bringen muss. Die ersten beiden Antworten treffen auf den vorliegenden Band nicht zu – weder „Klassiker“ noch „kommerzieller Dauerbrenner“ –, was die dritte Möglichkeit anbelangt, steht mir als Autor kein Urteil darüber zu. Stattdessen soll hier eine Rechenschaft darüber abgelegt werden, worum es in diesem Buch ging und was sich seit seiner Publikation im Bereich des in ihm erörterten Themenkreises wissenschaftlich zugetragen hat.

Das Buch erschien, wie gesagt, 1989, dem zweihundertsten Jubiläumsjahr der großen Französischen Revolution, in welchem auch die Berliner Mauer fiel; ein Jahr später erfolgte der staatsoffizielle Zusammenbruch der Sowjetunion. Das darf insofern für signifikant erachtet werden, als die gesinnungsmäßige Emphase des Buches sich am marxistischen Strang der Revolutionsgeschichtsschreibung orientierte (Mathiez, Lefebvre, Soboul), mithin die emanzipatorische Ausrichtung der Revolution als Paradigma der Moderne herauszustellen trachtete. Aber mit dem Zerfall des „real existierenden Sozialismus“ (der ja keiner gewesen war) wurde nun dieses Paradigma gleichsam durch die Realgeschichte infrage gestellt, ja von Grund auf erschüttert. Das will wohlverstanden sein: Die Ziele der bürgerlichen französischen Revolution galten mir, dem Marxisten, nur als historische Vorstufe dessen, worum es der Moderne zu gehen hatte: um die gesellschaftliche Befreiung des Menschen, wie sie sich im Marx’ schen Denken als Sozialismus/Kommunisus darstellte. Konnte dies aber zur Zeit der Niederschrift dieses Buches realiter überhaupt antizipiert werden? Natürlich nicht. Dies bedarf aber der Erläuterung.

Ernst Bloch sagte einmal in einem Vortrag: „Sowjetischen Marxisten wurde Marx zum Platoniker, lässt sich sagen, mit einer solchen Reinheit der Idee, und bloß der Idee, dass einem schlecht werden könnte vor solchem Idealismus unter der Maske von Materialismus, von Praxis.“ Eine bittere Erkenntnis des bekennenden Marxisten. Denn was könnte man Marxisten Schlimmeres nachsagen, als dass sie sich dem philosophischen Idealismus – also der Vorstellung, dass Ideen die historische Realität der Gesellschaft bestimmen und nicht die materiellen Grundlagen des jeweiligen sozialen Seins – verschrieben hätten. Zwar ist klar, dass zwischen dem materiellen Sein und dem Bewusstsein ein dialektisches Verhältnis besteht, mithin sich Sein und Bewusstsein stets wechselseitig durchwirken, aber als nachgerade axiomatisch gilt Marxisten der berühmte Satz von Karl Marx: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ Und wenn der philosophische Idealist Hegel von einer gegensätzlichen Reihenfolge von Wirkung und Ursache ausgeht, so wendet sich Marx gerade darin dezidiert dagegen.

Es musste, so besehen, den Marxisten Bloch in der Tat betroffen machen, dass im östlichen Kommunismus gerade im Namen des Marxismus der Überbau (verkürzt ausgedrückt: die Sphäre der Ideen) von der Basis (der materiellen Sphäre menschlichen Seins und Handelns) losgelöst wurde. Der Grund hierfür lag nicht in subjektiv bösartiger Intention, sondern rührte von einem objektiven Strukturproblem her. Bloch hat dies genau erkannt: „Das kann mit dem Boden zusammenhängen, einem Boden, der durch keine bürgerliche Revolution genährt war, der seit der Teilung des ost- und weströmischen Reiches im Jahre 396 immer ferner rückte, der keine Scholastik kennt, keine Renaissance, keine Probleme der Reformation, keine Aufklärung, kein 1789. Auf den Zarismus wurde unvermittelt das kühnste, modernste, zukunftshaltigste Projekt aufgesetzt: der Marxismus, die proletarische Revolution. Hier wurde ein Dach auf den Boden gesetzt, die erste Etage und die zweite fehlen völlig: wo sind da Zimmer und Räume möglich? War es da nicht ganz gesetzmäßig, um einen üblichen Ausdruck der vulgären und schematischen Orthodoxie zu gebrauchen, dass sich Theorie in dieser Praxis bis zur Unkenntlichkeit verändern musste? Wäre dasselbe in einem westeuropäischen Land eingetreten?“

Was sich viele Feinde des Sozialismus nicht klarmachen, wenn sie den Untergang des Sowjetkommunismus schadenfroh als historische Entscheidung im Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus feiern, mithin daraus auch eine historiosophische Schlussfolgerung und endgültige Entscheidung gezogen haben wollen, ist, dass dieser Einwand Blochs sich gerade auf Wesentliches in Marxens Denken berufen darf. Denn – lapidar ausgedrückt – hätte der schiere Gedanke, dass die proletarische Revolution gerade im zaristischen Russland ausbrechen werde, Marx gewiss entsetzt. Das sei kurz erörtert.

Bei Marx ist der wahre revolutionäre Umbruch stets das Ergebnis eines evolutionären Vorlaufs, der erst dann den Umschlag hervorbringt, wenn der Widerspruch zwischen dem, was sich gesellschaftlich real an der Basis entwickelt hat, und dem Bewusstsein dieser realen Entwicklung, wie es sich im Überbau niederschlägt, nicht mehr zu halten ist und eine Entscheidung erfordert. Das ist die sogenannte revolutionäre Situation – sie ist historisch entstanden und manifestiert sich als Strukturproblem. Man kann also nicht einfach mal so „eine Revolution beschließen“, gleichsam als Gedankenspiel. Die Revolution ist, Marx zufolge, den gesellschaftlichen Bedingungen, aus denen sie hervorgeht, insofern unterworfen, als es bei ihm keine künstlichen Sprünge geben kann: Eine jede historische Phase muss sich ihrem System gemäß voll verwirklicht haben, ehe sie in die nächste revolutionär übergehen kann. Wenn wir also von den drei zentralen Phasen in der Neuzeit ausgehen, die für Marx die Abfolge der aus den materiellen Bedingungen entstandenen Produktionsweisen darstellen, lässt sich sagen, dass der bürgerliche Kapitalismus erst dann die neue gesellschaftliche Formation bilden kann, wenn sich der Feudalismus voll entfaltet, quasi sich vollendet hat. Und so auch beim Sozialismus: Er kann erst dann aus dem Kapitalismus erwachsen, wenn dieser an die Grenzen seiner Entfaltung gelangt ist, sich sozusagen überlebt hat.

 

Wann derlei Grenzen erreicht sind, lässt sich nicht leicht bestimmen. Klar ist aber, dass es für die Heraufkunft des Kapitalismus notwendige strukturelle Bedingungen gibt: Er hat zumindest die Industrialisierung der Ökonomie zur Voraussetzeung, mithin die Herausbildung der neuen historischen Klassen des Bürgertums und des Proletariats als Träger der neuen Produktionsmittel, sei es als herrschende, sei es als beherrschte Klasse. Der Konflikt zwischen den beiden Klassen ist Marx zufolge unausweichlich, und er ist insofern von gewichtiger Bedeutung, als im Verhältnis beider Klassen sowohl die Entfaltungsmöglichkeiten des Kapitalismus als auch sein revolutionärer Untergang angelegt sind. Für Marx war also historisch ein Sprung vom Feudalismus direkt zum Sozialismus nicht denkbar, und zwar nicht nur realgeschichtlich, sondern auch im Hinblick auf die innere Logik seiner Geschichtsphilosophie – eben die der evolutionären Entwicklung auf die revolutionäre Umwälzung hin.

Und das ist es, was Ernst Bloch im eingangs zitierten Diktum moniert: Wenn er von der Platonisierung der Marx’schen Lehre spricht, von einem „Idealismus unter der Maske von Materialismus“, dann kritisiert er nicht nur den ideologischen Verrat, den sowjetische Marxisten an der Lehre selbst begehen, sondern auch die Leugnung der nachgerade unmöglichen Bedingungen für die Etablierung eines Sozialismus im zaristischen Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Seine Feststellung: „Auf den Zarismus wurde unvermittelt das kühnste, modernste, zukunftshaltigste Projekt aufgesetzt: der Marxismus, die proletarische Revolution“, besagt ja nichts anderes, als dass im noch weitgehend feudalistischen Zarismus keine Strukturbedingungen für eine sozialistische, geschweige denn kommunistische Revolution bestanden haben. Russland jener Zeit war (im Vergleich zu England, Frankreich und Deutschland) weder in einem Maß industrialisiert, das die reale Etablierung eines kapitalistischen Systems ermöglicht hätte, noch waren die gesellschaftlichen Strukturen für eine damit einhergehende Herausbildung eines den Feudalismus überwindenden Bürgertums und des ihm antagonistisch verschwisterten Proletariats gegeben.

Was das zur Folge hatte, war eine Tragödie: „Hier wurde ein Dach auf den Boden gesetzt“, sagt Bloch, „die erste Etage und die zweite fehlen völlig: wo sind da Zimmer und Räume möglich?“ Und weil Zimmer und Räume nicht möglich waren, sah sich der nicht aus Wohlstand, sondern aus materiellem Mangel und im Bewusstsein dieses Mangels hervorgegangene und etablierte Sowjetkommunismus gezwungen, mit Gewalt durchzusetzen, was historisch nicht organisch gewachsen war, um den Abstand zu dem zur vollen materiellen Blüte gelangten Kapitalismus „aufzuholen“. Forciert und im Stalinismus dann mit brachialer Oppression sollte erreicht werden, wofür es nicht die historisch gewachsenen Bedingungen gab. Das „kühnste, modernste, zukunftshaltigste“ und man mag getrost hinzufügen „humanistischste“ Projekt verkam zum System teils gnadenloser Unterdrückung. Was ausgezogen war, den Menschen zu befreien, gerann zum systematisch betriebenen Verrat an seiner Freiheit.

Was nach dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus als Sieg der „Freiheit“ über den „Kommunismus“ gefeiert wurde, war eine ideologische Farce. Denn einen realen historischen Kampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus hatte es ja nicht gegeben. Der sogenannte „real existierende Sozialismus“ war eben keiner gewesen, sondern lediglich die ideologische Verhinderung dessen, was ohnehin keine historische Chance gehabt hatte, sich zu dem zu entfalten, was es verhieß. Abgeschafft war somit nur der symbolische Gegenentwurf zum Kapitalismus, der sich nun seinerseits so austoben durfte, wie er es sich zuvor aus ideologisch aufgepeitschter Angst vor dem „Kommunismus“ nicht erlauben konnte. Nun durfte er sich auch der als Schutzschild gegen die „kommunistische“ Bedrohung gehaltenen Sozialdemokratie entledigen.

Bloch fragt am Ende des angeführten Zitats, ob es nicht „gesetzmäßig“ gewesen sei, „daß sich Theorie in dieser Praxis bis zur Unkenntlichkeit verändern mußte? Wäre dasselbe in einem westeuropäischen Land eingetreten?“ Es ist lange her, seit der marxistische Philosoph diese Frage stellte. Schwer zu sagen, ob dasselbe in einem westeuropäischen Land eingetreten wäre. Der Kapitalismus erwies sich bislang als äußerst versatil in der Handhabung seiner inneren Widersprüche und Krisen. Eher lässt sich vermuten, dass sich die sozialistische Revolution in keinem westeuropäischen Land ereignet hat, gerade weil sie vorzeitig im ihr unangemessensten aller möglichen Länder ausgebrochen war. Wahrlich – eine Tragödie in welthistorischem Maßstab.

Der Zusammenbruch des Sowjetkommunismus wirkte sich unmittelbar auf die historiographische Rezeption der Französischen Revolution aus. Dies deutete sich bereits im Jubiläumsjahr 1989 an, als der „letzte“ marxistische Revolutionshistoriker Michel Vovelle und sein revisionistisch ausgerichteter Kontrahent François Furet sich gleichsam als zwei Gladiatoren im Kampf um das Gesinnungsparadigma der Revolutionsdeutung öffentlich gegenüberstanden. Den Sieg trug offenbar Furet davon, denn nach 1990 verhallte die gesamte Geschichtsschreibung der Französischen Revolution deutlich, und zwar nicht nur die marxistische. Es erschienen kaum noch nennenswerte Bücher über die Revolution selbst, sondern – wenn überhaupt – Schriften über die Geschichte der Geschichtsschreibung der Revolution. Das Geschichtsereignis der Französischen Revolution samt seiner historiographischen Rezeption war, so will es scheinen, abgehakt. Eine neue Ära war nach dem Zerfall des Sowjetkommunismus angebrochen, in der gründlich mit der bis dahin pulsierenden Emanzipationsemphase aufgeräumt wurde, nicht zuletzt mit dem monumentalen Ereignis am Beginn der Moderne – der großen Französischen Revolution. Dies ist insofern verwunderlich, als sich das bürgerliche Zeitalter samt seiner kapitalistischen Ideologie in erheblichem Maße gerade dieser Revolution verdankte. Sic transit gloria mundi.

Die andere Dimension des Buches betraf die Genese der deutschen politischen Kultur im 19. Jahrhundert bzw. den Einfluss der Französischen Revolution auf diese Kultur. Anvisiert wurde die Entwicklung im sogenannten „Vormärz“, der Zeitspanne vor der auch in Deutschland ausgebrochenen Revolution von 1848. Diese bürgerlich-politische Revolution stand noch bevor, insofern als die Verschärfung der sozialen Gegensätze den Konflikt zwischen dem Bürgertum und den niederen, allmählich aufbegehrenden Volksschichten offen zutage legte. Von einem gereiften Klassenbewusstsein des Proletariats konnte damals noch nicht die Rede sein. Träger der Hoffnungen auf die Errichtung eines auf Volkssouveränität beruhenden Einheitsstaates und auf den damit verbundenen Sturz des auf Geburt und Herkunft beruhenden Privilegiensystems waren die deutschen Demokraten und Liberalen. Der Widerspruch zwischen der abstrakten politischen Zielsetzung und der objektiven gesellschaftlichen Entwicklung musste denn auch zu einem Scheitern der Revolution führen: Die sozialen Forderungen der Massen waren mit den politischen und konstitutionellen Postulaten des Bürgertums schlechterdings nicht vereinbar.

War die 1848er Revolution der gleichsam verspätete Versuch eines Nachvollzugs der großen Französischen Revolution, so war ihr Scheitern mit einer umso größeren Ernüchterung und einer sowohl politischen als auch geistigen Wende verbunden: Das Vordringen der Reaktion im ganzen Reich kulminierte in den bis- marckschen Siegen der 1860-er Jahre bis hin zur undemokratischen Reichseinigung „von oben“. Man darf von einer verpassten Chance reden. Denn die 1848er Revolutionäre hatten zunächst durchaus Teilsiege errungen. Was aber das Paulskirchenparlament, das die klein- bzw. großdeutsche Reichseinigung debattierte, dann zustande brachte, war eine an den preußischen König entsandte Delegation mit dem Antrag, gesamtdeutscher Kaiser werden zu wollen. Er lehnt „dankend“ ab. Nicht von ungefähr sollte später Friedrich Meinecke von deutscher „Obödienzgesinnung“ reden. Im kulturell-geistigen Leben bewirkte die misslungene Revolution eine Flucht in die subjektive Innerlichkeit einerseits und in die ideologische „Abwendung von der Welt“ andererseits. Das Scheitern der Revolution war insofern eine Tragödie, als behauptet werden darf, dass ein Erfolg der Revolution die Geschicke Deutschlands im weiteren Verlauf des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganz anders geprägt, mithin die „deutsche Katastrophe“ (Meinecke) wahrscheinlich verhindert hätte.

Im August 1960 wurde Karl Jaspers vom Publizisten Thilo Koch für eine Sendung des Nord-Westdeutschen Fernsehens interviewt. Im Laufe des Interviews nannte Jaspers die Forderung der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten „politisch und philosophisch in der Selbstbesinnung irreal“, da der Gedanke der Wiedervereinigung darauf beruhe, „daß man den Bismarck-Staat für den Maßstab nimmt“: Der Bismarck-Staat solle wiederhergestellt werden, wo er doch „durch die Ereignisse unwiderruflich Vergangenheit“ sei. Die Forderung der Wiedervereinigung, sagte der Philosoph, sei eine Folge der Weigerung, anzuerkennen, was geschehen ist. Man gründe eine Rechtsforderung auf etwas, das durch Handlungen verschwunden sei, „die dieses ungeheure Weltschicksal heraufbeschworen haben und die Schuld des deutschen Staates sind“. Gerade diese Handlungen nun wolle man nicht anerkennen. Es habe also keinen Sinn mehr, die deutsche Einheit zu propagieren, „sondern es hat nur einen Sinn, daß man für unsere Landsleute wünscht, sie sollen frei sein!“

Wie erwartet, riefen seinerzeit Jaspers’ Worte, besonders der offen artikulierte Primat der Freiheit vor der Einheit, ungestüme Reaktionen hervor. Vertreter aller Parteien in der westdeutschen Hauptstadt widersetzten sich nahezu einhellig den aufgestellten Behauptungen, während in der Presse und in den elektronischen Massenmedien eine breite öffentliche Debatte entbrannte. Thilo Koch selbst moderierte wieder, etwa zehn Tage nach dem Jaspers-Interview, eine Fernseh-Gesprächsrunde über die vermeintlich provokanten Feststellungen des Philosophen. „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein trat in dieser Sendung als ausgesprochener Befürworter der Einheitsidee auf. Er behauptete wiederholt, in der gegebenen Situation sei eine „philosophische Warte“, die die Notwendigkeit zweier deutscher Staaten dekretiere, „verderblich“, zumal Jaspers es nirgendwo sichtbar gemacht habe, wieso eine moralische Verpflichtung bestehen soll, auf die Wiedervereinigung zu verzichten. Es handle sich nicht um eine philosophische Haltung, behauptete Augstein resolut, sondern um eine „pseudophilosophische Begründung“ für eine letztlich „politische Frage“, ein Argument, das von Jaspers’ „Ressentiment gegen das Bismarck-Reich“ herrühre. Augstein hob gleichwohl hervor, dass er mit Jaspers darin übereinstimme, „daß wir tatsächlich die Konsequenzen unseres Tuns, und es war unser Tun, zu tragen haben, daß wir mithaften“.

Dreißig Jahre später, im Februar 1990, drei Monate nach dem Fall der Mauer in Berlin und rund sieben Monate vor dem offiziellen Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten, wurde Augstein zu einem weiteren Fernseh-Gespräch zum Thema der Wiedervereinigung eingeladen, diesmal gemeinsam mit Günter Grass. Im Verlauf der Debatte erwies sich Grass als Befürworter von Jaspers’ alter These. Unter anderem erklärte er, Auschwitz sei für ihn „die große Schwelle, die Schamschwelle“, die mitbedacht werden müsse bei jedem politischen Versuch, in Deutschland etwas neu zu gestalten. Aus einer Konföderation der beiden Staaten, meinte er, ließe sich etwas schaffen, das sowohl „dem ersten Gebot der Freiheit Genüge tut“, als auch „eine Form von Einheit gewährleistet, die für uns erträglich ist, die mehr ist als eine bloße Wiedervereinigung und die gleichzeitig von unseren Nachbarn akzeptiert werden kann“. Demgegenüber trat Augstein als konsequenter Vertreter seiner alten Forderungen von vor dreißig Jahren auf, diesmal freilich von einer realpolitisch-nüchternen Warte argumentierend: „Der Zug“ sei ohnehin schon „abgefahren“; angesichts des DDR-Bankrotts sei die Wiedervereinigung eine zwangsläufige Notwendigkeit geworden, mag man sie nun wollen oder nicht. Auf Grass’ moralische Einwände bezugnehmend, beteuerte er, dass wohl niemand, der nicht direkt betroffen sei, Auschwitz fürchterlicher finden könne als er, dass er gleichwohl meine, man dürfe es nicht in der praktischen Politik perpetuieren; darüber hinaus sei es ohnehin nicht konstituierend „für den künftigen Lauf der Welt“.

 

Augsteins und Grass’ Positionen sind paradigmatisch: Man mag sie als getreue Widerspiegelung der beiden parallelen Grundpositonen ansehen, die die Wiedervereinigungspolitik der deutschen Sozialdemokratie seit Ende des Zweiten Weltkrieges prägten. Im Wiedervereinigungsjahr selbst wurden diese Positionen von Ex-Kanzler Willy Brandt einerseits und vom SPD-Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine andererseits getragen. Im Grunde aber verkörperte Willy Brandt die Synthese beider Positionen in seiner eigenen Person: Brandt, Träger des ihm in internationaler Anerkennung seiner Entspannungspolitik gegenüber dem kommunistischen Osten verliehenen Friedensnobelpreises, Brandt, der die Beziehung des „anderen Deutschland“ zu Auschwitz mit seinem berühmt gewordenen Kniefall in Warschau persönlich symbolisierte, ist derselbe in der Nacht des Mauerfalls zu Tränen gerührte Brandt, der schon im Februar 1990 die deutsche Einheit für „im Prinzip gelaufen“ erklärte, was sowohl in der Begegnung der Menschen „von unten“ als auch in der konkreten Gestalt, die die Einheit „von oben“ anzunehmen beginne, zu erkennen sei. Freilich sprach er auch eine deutliche Warnung aus: Das vereinte Deutschland werde „föderalistisch und europäisch eingebunden sein, oder es wird nicht sein“.

Es handelte sich hierbei nicht um das von vornherein gewusste Ende eines einfachen linearen Ablaufs. Willy Brandts Gestalt ist in der Tat insofern paradigmatisch, als er mehr als die meisten Politiker der bundesrepublikanischen Nachkriegsära jene „Dialektik der Normalisierung“, von der Habermas sprach, repräsentierte; er war es auch vornehmlich, der die deutsche Friedenspolitik initiierte, sie erstmals nach Osten richtete und somit zur graduellen Schlichtung der traditionellen Spannung zwischen der westlichen Sozialdemokratie und dem osteuropäischen Kommunismus beitrug. Man darf freilich nicht vergessen, dass die vierzigjährige Existenz der Bundesrepublik nicht im Zeichen der durch den Sozialdemokraten Willy Brandt vertretenen politischweltanschaulichen Tradition begann und auch nicht endete. Es war Konrad Adenauer, Haupt der konservativen Christlich-Demokratischen Union, aktiver Gestalter und herausragender Repräsentant jenes „restaurativen Klimas“ der fünfziger Jahre, der die neugegründete Republik anführte. Und es wird kein anderer sein als Helmut Kohl, der Führer derselben Partei zur Zeit des Mauerfalls und Urheber des Slogans von der „Gnade der späten Geburt“, nämlicher Kohl, der Michail Gorbatschow im Jahre 1985, auf dessen erste Versöhnungserklärungen hin, mit Joseph Goebbels verglich und den offiziellen Besuch mit Ronald Reagan auf dem Bitburger Friedhof der SS-Soldaten veranstaltete, der als „Einheitskanzler“ in die Geschichte eingehen wird.

Insofern man die Vereinigung der beiden deutschen Staaten als eine Art historischen „Schlussstrich“ des sogenannten „deutschen Sonderwegs“ auslegt, erweist sie ihre Relevanz auch für das hier erörterte Thema. In seinem 1990 veröffentlichten Buch „Volk ohne Zeit“ stellte Lothar Baier folgende Behauptung auf: „Die Berliner Mauer, obgleich ein Erzeugnis des Kalten Krieges, wurde von vielen, bewußt oder unbewußt, als ein Bauwerk wahrgenommen, das in einem unbestimmten Zusammenhang mit Auschwitz stand, jedenfalls ein Symbol der fortdauernden und im Hinblick auf die Schwere des Verbrechens nicht übertriebenen Bestrafung akzeptiert werden konnte“. Seit der Nacht der Maueröffnung und angesichts der „bevorstehenden Lösung“ der historischen „deutschen Frage“ erübrige sich jedoch die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit: „Keine Klage mehr über verpaßte historische Chancen und verhängnisvolle Sonderwege“. Das, so will es scheinen, war des Pudels Kern: In der Tat stellte sich die DDR den deutschen Linken seit jeher vornehmlich als eine opportune Fläche für die Projektion der aus der deutschen Vergangenheit zu ziehenden historischen Lehren dar. Als nun aber diese Lehren gleichsam objektiv „revidiert“ wurden, als sich unzweideutig herausstellte, wer als Sieger aus dem Kalten Krieg hervorgegangen war, kurz, als sich der ostdeutsche Staat (aus „eigenem Willen“) in vermeintliches Wohlgefallen auflöste, wurde der politischen Linken das Wenige, das sie noch hatte, weggenommen: die Projektionsfläche, deren sie sich bei ihrer zukunftslosen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bedient hatte. Dies verwundert keineswegs, denn nachdem sich die ehemalige Neue Linke (die in ihren außerparlamentarischen Glanzzeiten noch sehr wohl zu begründen wusste, warum man vom Faschismus zu schweigen habe, wenn man nicht vom Kapitalismus reden will) etabliert und in ein rosa-grün linkelndes Konglomerat verwandelt hatte, gliederte sie sich nicht nur alsbald ins Lager der deutschen Sozialdemokratie ein, sondern richtete sich insgesamt recht komfortabel im kapitalistischen Establishment der Berliner Republik ein. Nicht von ungefähr meinte denn der Publizist Ulrich Greiner, etwa zwei Jahre nach der Vereinigung, lakonisch, die deutsche Linke gäbe es nicht mehr.

Somit war auch die weitere Beschäftigung mit dem, was den anderen Aspekt des vorliegenden Buches ausmacht (die historische Genese der politischen Kultur der Deutschen in der Moderne) insofern obsolet geworden, als man sich nicht mehr mit „verhängnisvollen Sonderwegen“ zu befassen hatte. Die Auseinandersetzung mit dem autoritären Charakter, ein zentrales Moment der in diesem Buch offerierten Diagnose dieser politischen Kultur und des sich von ihr ableitenden antirevolutionären Sonderwegs, war schon in der Nachkriegszeit – im Wirken der Frankfurter Schule, der Politpraxis der Neuen Linken und durch den kritischen Impakt, den sie auf die öffentliche Sphäre der alten BRD ausgeübt hatten – sozusagen abgehandelt worden, konnte mithin abgehakt werden.

Stimmt das so? Können die im vorliegenden Band herausgearbeiteten und erörterten historischen Strukturmomente ad acta gelegt werden? Das kann und soll hier nicht beantwortet werden. Denn die Beantwortung der Frage nach Kontinuitäten der modernen deutschen Geschichte, nach subkutanen Erbschaften, nach überwunden Geglaubtem und tatsächlich Aufgehobenem bedürfte einer eigenen komplex-diffizilen Forschung, eines eigenen Buches.

Moshe Zuckermann

Mai 2021