Die Totenbändiger - Band 9: Geminus Obscurus

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Danach hielt Connor nichts mehr in Tinkay. Er war nach Hause gekommen, um seine Familie zurückzugewinnen, stattdessen war sie gestorben, ohne dass sie sich hatten versöhnen können. Jetzt hatte er keine Familie mehr und es war ihm unerträglich, sich in dem Haus aufzuhalten, das einmal sein Zuhause gewesen war.

Er fuhr zurück zur Uni, bat um einen Termin beim Dekan und exmatrikulierte sich. Das Studium gehörte zu seinem Leben davor. Er brauchte einen Neustart. Irgendwo anders und mit einem neuen Job. Einem, mit dem er sein Leben und das von anderen schützen konnte. Er hatte seine Familie verloren, aber irgendwann wollte er eine neue mit Menschen, die ihre Liebe und Wertschätzung ihm gegenüber nicht davon abhängig machten, dass er das tat, was sie von ihm erwarteten. Diese Menschen wollte er beschützen können und sich nie wieder so verdammt ausgeliefert fühlen wie in dieser eisigen Nacht, in der er nur durch Glück und Zufall überlebt hatte. Nie wieder wollte er hilflos dastehen und zusehen müssen, wie jemand von einem Seelenlosen getötet wurde. Schon gar nicht jemand, den er liebte.

Die Polizeiakademie in London galt als die beste im ganzen Land, wenn es um die Ausbildung von Spuks ging. Also musste er dorthin – und alles geben, damit er die Aufnahmeprüfung schaffte.

Kapitel 2


Gegenwart

Dienstag, 1. Oktober

Die Autobahn glich einem Schlachtfeld. Autos, Lastwagen, sogar zwei Reisebusse hatten sich auf einer Länge von fast hundert Metern kreuz und quer ineinander verkeilt, sodass es für die Rettungskräfte nur mit Mühe möglich gewesen war, zu den einzelnen Fahrzeugen vorzudringen. Am Morgen war ausgerechnet zur schlimmsten Rushhourzeit ein Lastwagen in das Stauende an einer Baustelle gerast. Und als hätte das noch nicht gereicht, krachte wenig später noch ein weiterer LKW in den Stau, der sich hinter der ersten Unfallstelle gebildet hatte. Polizei und Feuerwehr hatten daraufhin Großalarm ausgelöst und sämtliche verfügbaren Kräfte aus Nordlondon zum Autobahnabschnitt beordert. Auch drei Spuk Squads waren angefordert worden. Sie mussten sich bereithalten, um sowohl die Verletzten als auch die Rettungskräfte vor den Geistern der Verstorbenen zu schützen. Die Polizei hatte einen Bereich mit Sichtschutzwänden abgesperrt, hinter dem die Toten gesammelt wurden. Eine Spuk Squad besprühte die Leichen mit Auraglue, was den Geisterhauch vernichten würde, sobald er entstand. Dass das Auraglue dabei die Haut der Toten verätzte, war hinzunehmen. Die Körper von Unfallopfern waren in der Regel ohnehin meist so schlimm zugerichtet, dass ein offener Sarg keine Option darstellte, und die Sicherheit von Verletzten und Rettungsteams ging schlichtweg vor. Sobald die Toten eingesprüht und identifiziert waren, wurden sie in spezielle Leichensäcke gepackt und direkt zur Einäscherung gefahren.

Zweiunddreißig Fahrzeuge, unter ihnen zwei vollbesetzte Reisebusse, waren in die Massenkarambolage verwickelt. Bisher gab es siebzehn Leichen und an die hundert zum Teil schwer Verletzte.

»Können wir jetzt ran?«, fragte ein älterer Feuerwehrmann, der mit einem Pressluftspreizer bereitstand, um das völlig zerquetschte Autowrack auseinanderzunehmen, das sein Team zwischen zwei LWK herausgezogen hatte. In seinem Inneren befand sich ein blutüberströmter Toter.

Connor hatte sich um den Geist des Fahrers gekümmert. Der Unfall war mittlerweile über zwei Stunden her und das Wrack war eines der letzten gewesen, an das die Feuerwehr aufgrund seiner verkeilten Lage erst jetzt herangekommen war. Das Eisen in der Karosserie hielt Geister bei Autounfällen zwar eine Weile im Wagen fest, doch sobald die Rettungskräfte die Wracks öffneten, stürzten sich die Schemen auf sie. Frisch entstandene Geister gierten nach echter Lebensenergie, sobald sie die Restwärme aus ihren Leichen in sich aufgesogen hatten. Deshalb hatte die Feuerwehr Connor als einen der Spuks gebeten, sie zu begleiten. Da der Schemen schon zu stark war, um ihn durch Einsprühen der Leiche zu vernichten, hatte Connor Auraglue auf ihn gefeuert und ihn in eine Silberbox einsaugen lassen. Jetzt sammelte er sie ein und nickte den Feuerwehrkollegen zu.

»Die Leiche ist sicher.«

»Okay, danke. Ich glaube, das war es dann auch für euch.«

»Sind aus dem vorderen Reisebus alle raus?«

»So gut wie. Zwei fehlen noch.«

»Okay, dann schau ich mal, ob sie da noch Hilfe brauchen.«

Aufräumteams von Feuerwehr und Abschleppdiensten arbeiteten auf Hochtouren, um die Unfallwagen wegzuschaffen. Die Autobahn sollte möglichst schnell wieder freigegeben werden und jetzt, da die meisten Rettungswagen fort waren, rückten Bergungsfahrzeuge mit Kränen an, um die zertrümmerten Busse und Lastwagen von der Straße zu bekommen. Connor schlängelte sich zwischen Schrott und Kollegen durch zu einem der Reisebusse, vor dem noch Taschen und eine Trage der Rettungssanitäter standen. Sky und Gabriel hatten den Kollegen dort geholfen. Da der Bus vollbesetzt gewesen war, hatten sie dort nicht prophylaktisch Auraglue gegen entstehende Geister einsetzen können, weil das die Verletzten gefährdet hätte. Gabriel und Sky hatten die Geister deshalb mit ihrer Silberenergie vernichtet, während Sanitäter die Verletzten versorgten, bis die Feuerwehr die Eingeklemmten befreien konnte.

Connor sah, wie Thad vom anderen Ende der Unfallstelle ebenfalls zum Bus kam. Auch er trug eine Silberbox.

Er musterte Connor. »Alles okay?«

Connor schnaubte. »Nach so einem Einsatz ist das ja wohl die falsche Frage.«

Thad nickte knapp und beide blickten zur Bustür, die die Feuerwehr aus der eingedrückten Karosserie herausgeschnitten hatte. Gabriel kam mit zwei Sanitätern heraus. Alle drei wirkten abgekämpft.

»Man kann nicht jeden retten«, sagte einer von ihnen und hielt Gabriel die Hand hin. »Aber danke, dass du es versucht hast.«

Gabriel schlug in die Hand ein. »Das ist doch klar.«

»Wir schicken jemand, der die Leiche abholt.« Die beiden Sanitäter sammelten ein paar der Taschen und die Trage ein, dann gingen sie in Richtung Sichtschutz, hinter dem die Toten lagen.

Gabriel trat zu Thad und Connor.

»Du hast versucht, jemanden mit deiner Lebensenergie zu retten?«, fragte Connor.

Gabriel nickte und kickte ein Stück Schrott unter den Bus. »Hat aber nichts genützt. Er ist trotzdem gestorben. Zu schwere innere Blutungen meinten die Sanis.«

»Tut mir leid.«

Gabriel fuhr sich übers Gesicht und durch die Haare. »Man kann nicht jeden retten«, wiederholte er den Satz der Kollegen aus dem Rettungsdienst. »Ist zwar ein echt beschissenes Mantra, aber anders kann man den Job als Sanitäter vermutlich nicht machen. Ich hab jedenfalls Hochachtung vor dem, was die leisten. Für uns ist dieser Einsatz der Horror. Für sie ist so was der Alltag.« Er sah zu Connor und musterte seinen Freund. »Was ist mit dir? Kommst du klar?«

»Ist kein Highlight, hier zu sein, aber wenn wir geholfen haben, dass kein Geist entkommen kann und die Umgebung gesichert ist, war es den Einsatz wert.«

Thad drückte ihm kurz die Schulter. »Ich denke, das haben wir geschafft. Ich spreche mal kurz mit dem Einsatzleiter und frage, ob wir hier noch gebraucht werden, sonst machen wir Schluss. Immerhin hatten wir vor diesem Chaos schon Dämmerdienst. Es wird Zeit für eine Pause.« Er nahm Connor die Silberbox ab und ging davon.

Das Buswrack neben ihnen wankte leicht und kurz darauf erschienen zwei Feuerwehrleute und zwei Sanitäterinnen mit einer Trage, auf der eine kreidebleiche Frau festgeschnallt war. Mühsam bugsierten die Retter sie durch die Bustür ins Freie. Sky sprang hinterher, trat sofort neben die Frau und ergriff eine ihrer schlaffen Hände.

»Ich fahre mit ihr ins Krankenhaus«, rief sie Connor und Gabriel zu. »Vielleicht schafft sie es, wenn ich ihr Energie gebe.«

»Okay«, nickte Connor. »Wohin bringt ihr sie?«

»London Memorial«, antwortete eine der Sanitäterinnen.

»Dann holen wir dich da ab.«

Sky hob den Daumen. »Okay.«

»Nein, nicht okay.« Gabriel lief ihnen nach und trat neben Sky. »Ich übernehme sie. Geh du zu Connor«, fügte er leiser hinzu. »Dich braucht er jetzt mehr als mich.«

Sky schenkte ihrem Bruder ein kleines Lächeln. »Okay. Danke.«

»Nicht dafür. Bis später.«

Sky drückte kurz seine Finger, als er von ihr die Hand der Patientin übernahm. Dann lief sie zu Connor.

»Ich bin okay«, versicherte er, weil ihm klar war, warum Gabriel mit Sky getauscht hatte.

Sie musterte ihn kurz und schlang dann die Arme um ihn. »Ich weiß. Trotzdem bringt das hier sicher einiges hoch und wir wollen nur, dass du weißt, dass du mit dem Mist nicht allein bist. Also, wenn du reden willst …« Sie sah ihm tief in die Augen.

Er lächelte gerührt. »Umarmung reicht.« Er musste schlucken, als sie ihn prompt wieder an sich zog. Ihre Nähe, ihr vertrauter Geruch, die Bedingungslosigkeit, mit der sie immer für ihn da war – das war Balsam für die Seele nach einem Einsatz wie diesem. Himmel, er wusste, warum er sie so sehr liebte, – und warum Gabriel sein bester Freund war.

»Okay«, sagte sie sanft, als sie ihn schließlich wieder losließ und stattdessen seine Hand nahm. »Lass uns Thad finden und fragen, ob wir von hier verschwinden können.«

Knappe zwei Stunden später betraten Gabriel, Connor und Sky das Mean & Evil. Nachdem sie Gabriel von der Klinik abgeholt hatten, waren die drei zum Revier gefahren, um ihre Einsatzberichte zu schreiben. Danach hatte Pratt ihnen für den Rest des Tages freigegeben mit dem Hinweis, dass er sie am nächsten Tag nach der Frühschicht zu einer Dienstbesprechung in seinem Büro erwartete. Thad dagegen blieb noch bei ihm.

 

»Warum hab ich das Gefühl, dass da irgendwas Größeres auf uns zukommt?«, hatte Sky stirnrunzelnd gemurmelt, als die drei das Büro ihres Vorgesetzten verlassen hatten.

»Solange man uns nicht die freien Tage am Wochenende streicht, ist es mir egal«, hatte Gabriel geantwortet. »Da steht Newfield an und das können wir nicht verschieben.«

Es war kurz nach eins und das Mean & Evil füllte sich. Den größten Umsatz machte der Pub zwar abends, doch es gab auch einen Mittagstisch, der allerdings weniger von Totenbändigern, sondern mehr von Touristen genutzt wurde, die bei Tag mutig genug waren, sich in die etwas verruchteren Ecken von Camden Town zu wagen.

Eddie stand allein hinter dem Tresen, während Willa und Lorna die Gäste bedienten. »Ihr seht fürchterlich aus«, grüßte er Gabriel, Sky und Connor mit kritischem Blick, als sie zu ihm traten. »Schlimme Schicht?«

Gabriel deutete auf einen Fernseher, auf dem London News Network lief und Bilder von den Aufräumarbeiten auf der Autobahn zeigte. »Wir waren bei der Massenkarambolage im Einsatz.«

»Oh Mann.« Eddie musterte die drei mitfühlend und nickte dann zu der Nische, die in einer ruhigen Ecke des Pubs immer für sie und die Ghost Reapers reserviert war. »Setzt euch. Was wollt ihr trinken?«

»Whiskey pur, einen Kaffee und eine Cola«, antwortete Gabriel.

»Den Kaffee nehme ich auch. Und ein Wasser, bitte«, sagte Sky.

»Für mich dasselbe«, schloss Connor sich an Skys Bestellung an.

»Kommt sofort. Habt ihr schon was zu Mittag gegessen?«

Gabriel schnaubte. »Wir wurden vom Dämmerdienst direkt zur Autobahn beordert. Wir hatten noch nicht mal Frühstück.«

Eddie seufzte und stellte Whiskey, Cola und Wasser auf den Tresen. »Den Kaffee bring ich euch gleich. Und was zu essen. Ist Sheppard’s Pie okay? Der ist heute Hanks Mittagsspecial.«

»Der wäre himmlisch, danke«, seufzte Sky, während Gabriel den Whiskey hinunterstürzte und kurz das Gesicht verzog, als der Alkohol in seinem Hals brannte.

»Gern.« Eddie deutete erneut zu ihrer Nische. »Setzt euch und macht Pause.«

»Danke.« Sky und Connor nahmen ihr Wasser und schlängelten sich zu ihrem Tisch durch.

Gabriel hielt Eddie sein Whiskeyglas hin, doch der hob skeptisch eine Augenbraue.

»Ich bezahle ihn, keine Sorge«, knurrte Gabriel.

»Du weißt, dass es nicht darum geht.«

Gabriel rollte die Augen. »Wir haben für den Rest des Tages frei, okay? Mir sind heute vier Leute unter den Händen weggestorben und noch mal so viele lagen totgequetscht in Autowracks, aus denen ich nur noch ihre Geister bändigen konnte. Wenn das keinen doppelten Whiskey rechtfertig, was dann?«

Eddie nahm ihm das Glas ab und goss einen kleinen Schluck nach. Als Gabriel das Glas zurücknehmen wollte, behielt Eddie es jedoch bei sich. »Du trinkst ihn erst, wenn du was im Magen hast, verstanden?«

»Mann, ich bin kein Teenager mehr!«

Gabriel streckte die Hand nach dem Glas aus, aber Eddie blieb unerbittlich und musterte ihn mit ziemlich genau dem Blick, mit dem er Gabriel und Matt jedes Mal bedacht hatte, wenn er sie als Teenager dabei erwischt hatte, wie sie eine Flasche aus seinen Vorräten hatten mitgehen lassen wollen.

»Verstanden?«, wiederholte er ruhig.

Wieder rollte Gabriel die Augen. »Jaaaa, Dad.«

Eddie reichte ihm das Glas und Gabriel nahm es entnervt entgegen.

»Hey, Sohn«, sagte Eddie dann mit einem Lächeln über Gabriels Schulter.

Gabriel wandte sich um und sah Matt vom Eingang des Pubs zu ihnen herüberkommen. Matt erwiderte das Lächeln seines Vaters, runzelte dann aber die Stirn, als er Gabriels Miene und das Glas in seiner Hand sah.

»Whiskey zu Mittag? Scheißtag?«

»Exakt«, knurrte Gabriel. »Und spar dir die Predigt, die hat mir dein Dad gerade schon verpasst.« Mit einem bedeutungsvollen Blick zu Eddie nippte er am Whiskey und ging dann zu Sky und Connor.

Matt sah ihm kurz nach und wandte sich dann zu seinem Vater um. »Was ist los? Hattet ihr Streit?«

Abwinkend schüttelte Eddie den Kopf. »Nein.« Er deutete zum Fernseher, der noch immer den Sonderbericht zum Unfall zeigte. »Hast du von der Massenkarambolage gehört?«

»Ja, im Radio. Üble Sache.«

Eddie nickte. »Die drei waren dort im Einsatz. Gabriel hat versucht, vier der Verletzten zu helfen, aber vergebens.«

»Shit.« Betroffen sah Matt zu seinen Freunden hinüber.

Eddie folgte seinem Blick. »Sieh zu, dass du sie wieder auf andere Gedanken bringst.«

Matt verkniff sich ein ironisches Schnauben. Bei dem, was sie nachher vorhatten, waren andere Gedanken definitiv vorprogrammiert. Die Frage war allerdings, ob die dann unbedingt besser waren. Er rang sich ein schiefes Lächeln ab. »Mach ich.«

»Wie lief es denn?«, wechselte Eddie dann das Thema. »Du hast heute Morgen ja ziemlich geheimnisvoll getan, was den potenziellen neuen Job für die Reapers angeht.«

»Ich wollte bloß erst mal alles abklären und nichts beschreien. Es stand ja immerhin noch nicht fest, ob wir den Auftrag wirklich bekommen.«

»Und? Hat es geklappt?«

Jetzt lächelte Matt richtig. »Yep. Und es ist ein echt guter Job. Garantiert uns Arbeit für zwei Wochen, die Bezahlung ist sehr anständig und sie stellen uns unbegrenzt Ausrüstung.«

Eddie runzelte die Stirn, während er sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte. »Das klingt ja fast zu gut, um wahr zu sein.«

»Ja, das dachte ich auch, aber wir haben uns vor Ort mit den Auftraggebern getroffen und uns alles angesehen. Es ist viel zu tun, aber machbar.«

»Gefährlich?«

Matt hob die Schultern. »Geister zu jagen, ist nie ungefährlich, das weißt du. Aber keine Sorge, der Job ist nicht gefährlicher als andere, die wir hatten. Ich denke, ich werde sogar die Kids fragen, ob sie mitkommen wollen. Nach seinem Kräfteboost soll Cam seine neuen Fähigkeiten erst mal unter Aufsicht austesten, und bei diesem Auftrag hat er mehr als genug Möglichkeiten, sich auszutoben. Außerdem werden die Kids den Ort lieben.«

»Wo geht’s denn hin?«

Matt grinste. »Covington Garden.«

Eddie lachte auf. »Wow. Ernsthaft?«

»Yep.«

»Na dann viel Spaß.«

»Den werden wir haben.«

Eddie deutete hinüber zu Gabriel, Sky und Connor. »Frag sie, ob sie mitkommen. Gabriel hat gesagt, sie hätten den Rest des Tages frei.« Er stellte drei große Kaffeebecher auf ein Tablett und schob es Matt hin. »Und bring ihnen die hier.«

»Gib mir auch einen. Und irgendwas zu essen. Das wird heute noch ein langer Tag und das Abendessen wird mal wieder ausfallen müssen.«

Eddie stellte eine vierte Tasse dazu. »Ich bring euch was. Und jetzt geh und kümmere dich um deine Freunde.«

»Danke. Du bist der Beste.«

»Das auch.« Eddie lächelte verschmitzt und drückte seinem Sohn die Schulter. »Vor allem bin ich aber wahnsinnig stolz auf dich. Herzlichen Glückwunsch zu eurem Auftrag. Es ist großartig, was du da mit den Ghost Reapers auf die Beine gestellt hast.«

Kapitel 3


Die London University of History and Social Studies, kurz LUHS, lag im Stadtteil Kew und grenzte mit ihrem Campus an die Kew Gardens, einer riesigen Parkanlage, in der Landschaftsbauer zeigten, was die weltbekannten Englischen Gärten alles zu bieten hatten. Auch auf dem Campus der Universität hatten sie sich ausgetobt und die kleinen Grünanlagen zwischen den edwardianischen Universitätsgebäuden waren hübsch gestaltet. Es war kurz nach drei und etliche Studenten saßen in kleinen Gruppen an Picknicktischen, auf Bänken oder den Rasenflächen und genossen den Sonnenschein.

»Nett hier«, befand Matt, als er mit Connor, Sky und Gabriel den Hinweisschildern zur Minster Hall folgte. »Studieren wäre zwar absolut nicht meins, aber der Campus hier sieht schon toll aus. Ich hoffe ja, dass Jack doch noch die Möglichkeit bekommt, zu studieren. Ich hab ihn zwar wirklich gern bei den Ghost Reapers, aber ich weiß, dass Jura viel mehr sein Ding wäre.«

Sky nickte. »Für Jules wäre es auch toll, wenn er nach dem Abi an eine Uni dürfte.«

»Na, vielleicht wird es ja bald was, wenn ihr nächste Woche den Sitz im Stadtrat bekommt.« Connor hatte für den Nachmittag einen Termin mit Professor Doktor Hammond Winkler ausgemacht, einem der führenden Experten für die Geschichte der Totenbändiger. Von ihm erhofften sie sich Informationen zu der Sekte, in deren Gewalt Cam vor dreizehn Jahren gewesen war und die allem Anschein nach erneut – oder immer noch – ein grausames Ritual verfolgte, bei dem Menschen getötet und Kinder gequält wurden.

Die vier liefen durch einen Rundbogen und landeten in einem weiteren Innenhof, der versteckt zwischen den Unigebäuden lag. Über dem Eingang des Flügels zu ihrer Linken entdeckten sie den Schriftzug Minster Hall in steinernen Lettern. Sky, Connor, Matt und Gabriel stiegen die ausgetretenen Stufen hinauf, die schon zig Generationen von Studentenfüßen gesehen haben mussten, und Sky wollte gerade die Flügeltür aufziehen, als jemand von innen ihr zuvorkam.

»Oh, sorry!«, haspelte ein schwarzes Mädchen mit wuscheliger Lockenmähne und einem dicken Stapel Bücher unter dem Arm entschuldigend.

»Kein Problem.« Sky hielt ihr und ihren beiden Freundinnen, die ähnliche Bücherstapel mit sich schleppten, die Tür auf.

»Danke.«

Die Mädchen musterten die vier und blieben dabei unweigerlich an den schwarzen Totenbändigerlinien hängen, die sich bei Sky, Matt und Gabriel über die Schläfen zogen.

»Wow«, entfuhr es der Größten von ihnen. »Lassen sie endlich Totenbändiger an die Unis? Wird aber auch Zeit!«

Sky lächelte. »Leider noch nicht. Aber wir arbeiten daran.«

»Wir drücken die Daumen.« Die dritte von ihnen schob eine niedliche Nickelbrille ihre Nase hoch. »Wir haben hier an der LUHS Unterschriften für euch gesammelt und sie an die Gilde für Bildung, Erziehung und Forschung geschickt mit der Aufforderung, dass sie für euren Sitz im Stadtrat stimmen sollen. Die Aktion lief an so ziemlich allen Unis in London, also sollten da einige Unterschriften zusammengekommen sein.«

»Wow.« Gabriel musterte die drei beeindruckt. »Das war echt nett, danke!«

Die Kleine mit der Nickelbrille winkte ab. »Ganz ehrlich, dieser Sitz ist längst überfällig. Ich meine – hallo?! Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Dass ihr noch keine Stimme in unserer Gesellschaft und nicht die gleichen Rechte wie die Normalos habt, ist einfach nur peinlich. Und unentschuldbar. Deshalb muss sich das jetzt dringend ändern.«

»Definitiv«, nickte der Lockenschopf. »Wir haben unsere Unterschriftenlisten als Kopien daher auch gleich noch an alle anderen Gilden im Stadtrat geschickt.« Sie grinste. »Kann ruhig jeder wissen, wie die Studenten in London zu der Sache stehen. Immerhin sind wir die Zukunft dieser Stadt, da sollten wir auch mitreden, wie es hier laufen soll.«

Matt lachte auf. »Ihr seid spitze, wirklich.«

»Kein Ding. Wie gesagt, das ist längst überfällig.«

»Trotzdem danke für eure Unterstützung. Das bedeutet uns eine Menge«, meinte Sky. Dann fragte sie: »Könnt ihr uns sagen, wie wir zum Büro von Professor Doktor Winkler kommen?«

»Klar. Durch die Tür, geradeaus die Treppe hoch in den zweiten Stock, dann in den linken Gang. Sein Büro ist auf der linken Seite. Die dritte oder vierte Tür, glaube ich. Sein Name steht aber dran, das könnt ihr nicht verfehlen.«

»Danke!«

»Gern.«

»Bitte, setzten Sie sich.« Professor Doktor Winkler war Ende fünfzig, leicht untersetzt und wirkte mit seiner braunen Cordhose, Hemd und einer Strickjacke eher wie der Typ netter Lehrer statt strenger Professor. Er hatte welliges braunes Haar, das mit grauen Strähnen durchzogen war. Gleiches galt für seinen Vollbart. Die Augen hinter seiner randlosen Brille verrieten Wissbegier und ihr Blick ließ vermuten, dass dem Professor nicht viel entging. Sein Lächeln war warmherzig und strahlte Offenheit aus, als er die vier in seinem Büro willkommen hieß.

 

Sky mochte ihn sofort. Connor hatte den Professor bei seiner Bitte um einen Gesprächstermin bereits wissen lassen, dass es um Nachforschungen in einem Polizeifall ging, und falls Winkler sich wunderte, dass sie gleich mit vier Beamten bei ihm auftauchten, ließ er es sich nicht anmerken. Auch die Totenbändigermale, die drei seiner Besucher trugen, schien er nur beiläufig zu registrieren. Er deutete zu einer Ledercouch, die zusammen mit einem kleinen Tisch und zwei Sesseln in einer Ecke seines Büros stand. An den Wänden reihten sich deckenhohe Bücherregale an ein Sideboard sowie einen Aktenschrank und vor dem Fenster stand ein Schreibtisch, auf dem sich neben Computer und Telefon mehrere Bücher und Schnellhefter stapelten. »Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?«

Auf dem Tisch zwischen Couch und Sesseln stand ein Tablett mit einer schlichten weißen Porzellankanne, Zuckerdose, Milchkännchen, drei Tassen und einem Teller mit Teegebäck.

»Sehr gern. Vielen Dank.«

Während die vier sich setzten, holte Winkler aus einem Schrank zwei weitere Tassen und schenkte allen Tee ein.

»Danke, dass Sie uns so kurzfristig einen Termin einräumen konnten«, sagte Connor, als er seine Tasse entgegennahm.

»Keine Ursache.« Winkler nahm mit seinem Tee in einem der Sessel Platz. »Es klang ja dringend. Sie ermitteln in einem Fall, in dem es Hinweise auf eine Sekte von Totenbändigern gibt?«

Sky nickte. »Es deutet einiges darauf hin und wir hoffen, den Fall schnell und ohne großes Aufsehen lösen zu können. In der momentanen politischen Lage wäre es fatal, wenn womöglich einige Mitglieder unserer Rasse die Fortschritte, die wir erkämpft haben, und die Möglichkeit, die uns gerade in Aussicht steht, durch ihre Taten gefährden.«

Winkler nickte langsam. »Sie reden von der Abstimmung über den Sitz für die Totenbändiger in unserem Stadtrat.«

»Genau.«

Wieder nickte der Professor. »Meine Unterstützung haben Sie. Sie verdienen Gleichstellung und Ihre Gilde sollte längst in unserem Rat vertreten sein. Ich sichere Ihnen jedenfalls meine absolute Verschwiegenheit zu, obwohl ich mir denken kann, dass Sie mir zu den Einzelheiten Ihres Falls vermutlich ohnehin nichts sagen dürfen. Trotzdem wären ein paar Informationen für mich natürlich hilfreich.« Er sah zu Connor. »Sie erwähnten in Ihrer E-Mail geminus obscurus. Darf ich fragen, wo Ihnen dieser Begriff begegnet ist?«

»An einem Tatort.« Connor zog sein Smartphone hervor und rief das Foto auf, das er vor zwei Tagen im Keller des alten Herrenhauses geschossen hatte, in dem sowohl vor dreizehn Jahren als auch in diesem Jahr mehrere Morde stattgefunden hatten. Er reichte das Handy an Winkler.

Die Augen des Historikers weiteten sich, als er die blutroten Worte betrachtete, die auf einer dunklen Backsteinwand über einem Kaminsims mit schwarzen und weißen Kerzen prangten.

GEMINUS OBSCURUS – ICH BIN BEREIT!

»Ich vermute, es gab an diesem Tatort Leichen, die auf einen rituellen Mord schließen lassen?«, sagte er schließlich, als er Connor das Handy zurückreichte und fragend in die Runde sah. »Deswegen sind Sie hier, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete Gabriel. Es war die naheliegende Antwort und sie hatten einstimmig beschlossen, dass der Professor nichts von Cam erfahren sollte. Jedenfalls nicht, wenn es sich vermeiden ließ. »Können Sie uns weiterhelfen? Es klingt, als hätten Sie eine Ahnung, worum es geht.«

Winkler nickte. »Ich denke schon, dass ich Ihnen einige Informationen geben kann, allerdings habe ich meine Forschungen bezüglich der Geschichte der Totenbändiger auf einen anderen Schwerpunkt ausgerichtet. Mir geht es vor allem um die Erforschung und Entwicklung der Rasse der Totenbändiger im Zusammenspiel mit der Normalbevölkerung. Wo hat ein gemeinsames Leben gut funktioniert? Wo nicht? Was waren die Gegebenheiten? Was waren Gründe und Ursachen, dass es an einigen Orten besser, an anderen schlechter funktioniert hat, und welche Rückschlüsse lassen sich daraus ziehen und vielleicht auf die heutige Gesellschaft anwenden. Natürlich sind mir dabei auch Aufzeichnungen zu Gräueltaten in die Hände gekommen – und damit meine ich Gräueltaten, die sowohl Totenbändiger der Normalbevölkerung angetan haben als auch umgekehrt. Ehrlich gesagt schenken sich meines Erachtens da beide Parteien nicht viel. Doch diese Gewalttaten sind nicht mein Schwerpunkt. Hasser, Paranoide und Verschwörungstheoretiker gibt es schon genug. In meinen Studien konzentriere ich mich auf das Positive, das beide Rassen in der Vergangenheit immer wieder gemeinsam erreicht haben. Daraus sollten wir für die Gegenwart und die Zukunft lernen und das ist es, was ich meinen Studenten vermitteln will. Ich bin daher kein Experte für grausame Sekten und Rituale. Ich weiß darüber nur das, was unter uns Historikern als eine Art Allgemeinwissen gilt. Dieses Wissen habe ich nach Ihrer Anfrage gestern zwar noch mal ein bisschen aufgefrischt, aber als Experte dafür würde ich mich sicher nicht bezeichnen, und ich kann Ihnen leider auch nicht sagen, ob es hier in London eine Totenbändigersekte gibt.« Er deutete zu Connors Handy. »Obwohl diese Inschrift die Vermutung schon sehr nahelegt.«

»Wir sind für jede Information dankbar«, sagte Sky. »Und offensichtlich wissen Sie weit mehr als wir, denn uns sagt geminus obscurus gar nichts. Ist das der Name einer Sekte? Oder der Name eines Rituals, das sie durchführen?«

Winkler lehnte sich in seinem Sessel zurück und nahm einen Schluck von seinem Tee. »Ich bin mir nicht sicher, ob die Sekte überhaupt einen Namen hat. In den historischen Aufzeichnungen ist mir jedenfalls keiner untergekommen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie sich als das sahen, was wir heute als Sekte verstehen. Es gab um 1800 herum einen Totenbändiger namens Cyrus Kenwick, der mit fragwürdigen Experimenten einen Weg suchte, seine Rasse zu stärken und zu vergrößern. Da Totenbändiger zu dieser Zeit besonders rigoros von der Normalbevölkerung gejagt und getötet wurden, war es nicht verwunderlich, dass sich etliche Anhänger um ihn scharten, denn das, was Kenwick versprach, muss sehr verlockend gewesen sein. Deshalb halfen sie ihm bei seinen Experimenten, für die er Menschen als Opfer brauchte. So wie die Normalbevölkerung Jagd auf Totenbändiger machte, jagten Kenwicks Anhänger Normalos und brachten sie zu ihrem Anführer. Die Aufzeichnungen aus dieser Zeit sind allerdings nur sehr lückenhaft. Ab den 1770er Jahren tauchen in den Gemeindebüchern verschiedener Dörfer in Northumberland aber immer wieder Einträge zu verschwundenen Personen auf, zum Teil auch mit Anmerkungen, dass man Totenbändiger verdächtigte, etwas damit zu tun zu haben. In manchen dieser Vermerke wird Kenwick sogar namentlich erwähnt. Es gab anscheinend auch hin und wieder Versuche, ihn und seine Leute zu stoppen. Er hatte sich irgendwo in den Wäldern Northumberlands mit ihnen niedergelassen. Vermutlich zunächst in einfachen Hütten oder Zelten. In späteren Aufzeichnungen finden sich dann Aussagen, dass sie ein Gehöft an sich gebracht hatten. Auch dort gab es verschiedene Versuche, Kenwick und sein Gefolge auszuschalten, aber erst im Jahr 1811 waren die umliegenden Dörfer erfolgreich. Die Bewohner hatten sich zu einer Übermacht zusammengetan, verschafften sich Zugang zum Anwesen, töteten Kenwick sowie die meisten seiner Leute und brannten den Hof nieder.«

»Okay«, meinte Matt mit einem Seufzen, als er an die verschwundenen Obdachlosen dachte, von denen sie einige vor zwei Tagen mit aufgeschlitzten Kehlen im Herrenhaus gefunden hatten. »Das konnte man den Dorfbewohnern sicher nicht verdenken.«

»Nein«, gab Winkler ihm recht.

»Ist denn bekannt, wofür Kenwick die Menschen opferte, die seine Anhänger ihm brachten?«, fragte Connor. »Wissen Sie, welcher Art die Experimente waren, die Kenwick durchführte, und was es mit diesem geminus obscurus auf sich hat?«

»Kenwick glaubte, eine Art Wesen erschaffen zu können, das er geminus obscurus, also dunkler oder verborgener Zwilling, nannte. Um dieses Wesen zu erschaffen, mussten Totenbändigerkinder ein bestimmtes Ritual vollziehen, an dessen Ende aus ihnen heraus besagter Zwilling entstehen sollte, der die Macht haben würde, die Rasse der Totenbändiger zu vergrößern.«

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